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ARBEITSRECHT AKTUELL // 19/120

Kün­di­gungs­schutz Schwer­be­hin­der­ter bei Mas­sen­ent­las­sun­gen

Gibt es in­fol­ge ei­ner Be­trieb­s­än­de­rung kei­ne ge­eig­ne­ten Ar­beits­plät­ze mehr, kön­nen sich Schwer­be­hin­der­te nicht auf ih­ren Be­schäf­ti­gungs­an­spruch § 164 Abs.4 SGB IX be­ru­fen: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 16.05.2019, 6 AZR 329/18
Integration von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt, Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)

17.05.2019. Das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) nimmt den recht­li­chen Schutz schwer­be­hin­der­ter Men­schen im Ar­beits­le­ben sehr ernst.

Zu den Grund­la­gen die­ser Recht­spre­chung ge­hö­ren die Vor­schrif­ten des Neun­ten Buchs So­zi­al­ge­setz­buch (SGB IX) über den An­spruch schwer­be­hin­der­ter Men­schen auf ei­ne be­hin­de­rungs­ge­rech­te Be­schäf­ti­gung (§ 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1, Nr.4 SGB IX).

In ei­ner ges­tern er­gan­ge­nen Ent­schei­dung hat das BAG al­ler­dings deut­lich ge­macht, dass der Be­schäf­ti­gungs­an­spruch Schwer­be­hin­der­ter nicht so weit geht, dass Ar­beit­ge­ber ge­hin­dert wä­ren, ei­ne Or­ga­ni­sa­ti­ons­ent­schei­dung zu tref­fen, in de­ren Fol­ge der Be­darf für die Be­schäf­ti­gung ei­nes Schwer­be­hin­der­ten aus be­triebs­be­ding­ten Grün­den weg­fällt. Ei­ne be­triebs­be­ding­te Kün­di­gung ist dann zu­läs­sig: BAG, Ur­teil vom 16.05.2019, 6 AZR 329/18.

Beschäfti­gungs­an­spruch schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer vs. un­ter­neh­me­ri­sche Or­ga­ni­sa­ti­ons­frei­heit

Schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer ha­ben gemäß § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.1 SGB IX ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber An­spruch auf ei­ne Beschäfti­gung, bei der sie ih­re Fer­tig­kei­ten und Kennt­nis­se möglichst voll ver­wer­ten und wei­ter­ent­wi­ckeln können. Die­ser An­spruch auf be­hin­de­rungs­ge­rech­te Beschäfti­gung im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis be­inhal­tet u.a. das Recht auf ei­ne

„be­hin­de­rungs­ge­rech­te Ein­rich­tung und Un­ter­hal­tung der Ar­beitsstätten ein­sch­ließlich der Be­triebs­an­la­gen, Ma­schi­nen und Geräte so­wie der Ge­stal­tung der Ar­beitsplätze, des Ar­beits­um­felds, der Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on und der Ar­beits­zeit, un­ter be­son­de­rer Berück­sich­ti­gung der Un­fall­ge­fahr“ (§ 164 Abs.4 Satz 1 Nr.4 SGB IX).

Ändert der Ar­beit­ge­ber be­trieb­li­che Ar­beits­abläufe in der Wei­se, dass ein schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer auf­grund sei­ner be­hin­de­rungs­be­ding­ten Ein­schränkun­gen mit den geänder­ten Ar­beits­an­for­de­run­gen nicht mehr zu­recht­kommt, kann der Ar­beit­ge­ber (je nach den Umständen des Ein­zel­fal­les) so­gar da­zu ver­pflich­tet sein, ei­ne be­reits vor­ge­nom­me­ne Um­struk­tu­rie­rung (teil­wei­se) rückgängig zu ma­chen.

Dies gilt je­den­falls dann, wenn die Um­struk­tu­rie­rung nicht mit ei­nem Per­so­nal­ab­bau ver­bun­den ist, son­dern Ar­beits­pro­zes­se ver­bes­sern soll, so dass die be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer mit an­de­ren bzw. erhöhten An­for­de­run­gen zu­recht­kom­men müssen (BAG, Ur­teil vom 14.03.2006, 9 AZR 411/05). Ei­ne per­so­nen- bzw. krank­heits­be­ding­te Kündi­gung ist in sol­chen Fällen we­gen des vor­ran­gi­gen An­spruchs des Schwer­be­hin­der­ten auf be­hin­de­rungs­ge­rech­te Beschäfti­gung nicht zulässig.

Frag­lich ist, ob der Vor­rang des Beschäfti­gungs­an­spruchs schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer ge­genüber ei­nem Weg­fall bis­he­ri­ger Ein­satzmöglich­kei­ten auch dann gilt, wenn es in­fol­ge ei­ner Be­triebsände­rung kei­ne ge­eig­ne­ten Ein­satzmöglich­kei­ten für ei­nen schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer mehr gibt, so dass die­ser aus be­triebs­be­ding­ten Gründen gekündigt wird.

Im Streit: Langjährig beschäftig­ter Schwer­be­hin­der­ter wird im Rah­men ei­ner Mas­sen­ent­las­sung in der In­sol­venz be­triebs­be­dingt gekündigt

Ge­klagt hat­te ein 1961 ge­bo­re­ner schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer, der seit 1982 in ei­ner Gießerei als ge­werb­li­cher Ar­beit­neh­mer beschäftigt war. Gemäß § 20 Abs.4 des Ein­heit­li­chen Man­tel­ta­rif­ver­tra­ges für die Me­tall- und Elek­tro­in­dus­trie Nord­rhein-West­fa­lens (MTV) war er auf­grund sei­nes vor­gerück­ten Al­ters und sei­ner lan­gen Beschäfti­gung or­dent­lich unkünd­bar.

Der Ar­beit­ge­ber wur­de An­fang 2016 in­sol­vent und führ­te das In­sol­venz­ver­fah­ren zunächst in Ei­gen­ver­wal­tung durch. Im März 2016 ver­ein­bar­te er mit dem Be­triebs­rat ei­nen In­ter­es­sen­aus­gleich, dem zu­fol­ge 17 der ins­ge­samt 73 Ar­beit­neh­mer des Be­triebs ent­las­sen wer­den soll­ten. Der In­ter­es­sen­aus­gleich ent­hielt ei­ne Na­mens­lis­te, in der die 17 zu ent­las­sen­den Ar­beit­neh­mer auf­geführt wur­den, dar­un­ter der Kläger.

Vor Aus­spruch der Kündi­gung führ­te der Ar­beit­ge­ber mit dem Be­triebs­rat ein (ord­nungs­gemäßes) Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren gemäß § 17 Abs.2 Kündi­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) durch, er­stat­te­te ei­ne (ord­nungs­gemäße) Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge gemäß § 17 Abs.1 Satz 1 Nr.2 KSchG, hörte den Be­triebs­rat zu der ge­plan­ten be­triebs­be­ding­ten Kündi­gung des Klägers an (§ 102 Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­setz - Be­trVG) und be­an­trag­te beim In­te­gra­ti­ons­amt die Zu­stim­mung zu der Kündi­gung, die im Lau­fe des April 2016 er­teilt wur­de.

Dar­auf­hin kündig­te der Ar­beit­ge­ber mit ei­ner gemäß § 113 Abs.1 Satz 2 In­sol­venz­ord­nung (In­sO) auf drei Mo­na­te verkürz­ten Kündi­gungs­frist or­dent­lich aus be­triebs­be­ding­ten Gründen zum 31.07.2016.

Der Ar­beit­ge­ber be­gründe­te die Kündi­gung da­mit, dass im Ar­beits­be­reich des Klägers (der sog. Kern­ma­che­rei) künf­tig nur noch vier - bes­ser qua­li­fi­zier­te - Ar­beits­kol­le­gen des Klägers ein­ge­setzt wer­den. Sie soll­ten künf­tig auch al­le Hilfs­ar­bei­ten er­le­di­gen, die bis­lang der Kläger ver­rich­tet hat­te. An­de­re (qua­li­fi­zier­te­re) Tätig­kei­ten konn­te der Kläger we­gen sei­ner Be­hin­de­rung nicht ausüben.

Der Ar­beit­neh­mer er­hob Kündi­gungs­schutz­kla­ge, hat­te da­mit aber we­der vor dem Ar­beits­ge­richt Ha­gen (Ur­teil vom 25.10.2016, 4 Ca 881/16) noch in der Be­ru­fung vor dem Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Hamm Er­folg (LAG Hamm, Ur­teil vom 16.05.2019, 6 AZR 329/18).

Das LAG war der Mei­nung, dass die Kündi­gung nicht an dem An­spruch auf be­hin­de­rungs­ge­rech­te Beschäfti­gung schei­ter­te. Die­ser war im Streit­fall noch in § 81 Abs.4 SGB IX al­te Fas­sung (a.F.) ent­hal­ten, der bis En­de 2017 gel­ten­den Vorgänger-Vor­schrift zum heu­ti­gen § 164 Abs.4 Satz 1 Nr.4 SGB IX.

Da das LAG die Re­vi­si­on zu­ge­las­sen hat­te, lan­de­te der Fall beim BAG.

BAG: Gibt es in­fol­ge ei­ner Be­triebsände­rung kei­ne ge­eig­ne­ten Ar­beitsplätze, können sich Schwer­be­hin­der­te nicht auf ih­ren Beschäfti­gungs­an­spruch § 164 Abs.4 SGB IX be­ru­fen

Auch in Er­furt vor dem BAG hat­te der Kläger kei­nen Er­folg. Das BAG wies sei­ne Re­vi­si­on zurück. Zur Be­gründung heißt es in der BAG-Pres­se­mit­tei­lung:

Schwer­be­hin­der­te können zwar im be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis gemäß § 164 Abs.4 SGB IX (bzw. bis En­de 2017: gemäß § 81 Abs.4 SGB IX a.F.) die Durchführung des Ar­beits­verhält­nis­ses ent­spre­chend ih­rer ge­sund­heit­li­chen Si­tua­ti­on ver­lan­gen, und zwar „bis zur Gren­ze der Zu­mut­bar­keit“. Dies gibt schwer­be­hin­der­ten Men­schen je­doch kei­ne Beschäfti­gungs­ga­ran­tie, so die Er­fur­ter Rich­ter.

Ar­beit­ge­ber können nämlich ei­ne un­ter­neh­me­ri­sche Ent­schei­dung tref­fen, der zu­fol­ge der bis­he­ri­ge Ar­beits­platz des Schwer­be­hin­der­ten in­fol­ge ei­ner Or­ga­ni­sa­ti­onsände­rung wegfällt. Der be­son­de­re Beschäfti­gungs­an­spruch des be­trof­fe­nen Schwer­be­hin­der­ten ist erst bei der Prüfung et­wai­ger Wei­ter­beschäfti­gungsmöglich­kei­ten auf ei­nem an­de­ren frei­en Ar­beits­platz zu berück­sich­ti­gen.

Vor die­sem Hin­ter­grund hat­te der Kläger im Streit­fall kei­nen Er­folg. Der ta­rif­ver­trag­li­che Son­derkündi­gungs­schutz (§ 20 Abs.4 MTV) war hier in­fol­ge der In­sol­venz des Ar­beit­ge­bers nicht an­wend­bar (§ 113 Abs.1 Satz 1 In­sO), so dass der Ar­beit­ge­ber im Prin­zip ei­ne or­dent­li­che be­triebs­be­ding­te Kündi­gung aus­spre­chen konn­te. Da sich der Na­me des Klägers wei­ter­hin auf der Na­mens­lis­te zu ei­nem In­ter­es­sen­aus­gleich be­fand, konn­te die Kündi­gung nur ein­ge­schränkt über­prüft wer­den (§ 125 Abs.1 In­sO).

Ei­nen gra­vie­ren­den Feh­ler bei der be­triebs­be­ding­ten Kündi­gung hat­te der Ar­beit­ge­ber aber nicht be­gan­gen und den An­spruch des Klägers auf be­hin­de­rungs­ge­rech­te Beschäfti­gung nicht ver­letzt. In­fol­ge der Or­ga­ni­sa­ti­ons­ent­schei­dung (= Um­ver­tei­lung der Ar­bei­ten in der Kern­ma­che­rei mit der Fol­ge ei­nes Weg­falls der bis­he­ri­gen Hilfs­ar­bei­ter­stel­le) gab es nämlich kei­nen Beschäfti­gungs­be­darf (mehr), und es gab auch kei­ne an­de­ren ge­eig­ne­ten frei­en Ar­beitsplätze für den Kläger.

Im Er­geb­nis war der Ar­beit­ge­ber, so das BAG, nicht da­zu ver­pflich­tet, für den Kläger ei­nen Ar­beits­platz zu schaf­fen oder zu er­hal­ten, den er nach sei­nem Or­ga­ni­sa­ti­ons­kon­zept nicht mehr benötig­te.

Fa­zit: Or­ga­ni­sa­ti­ons­ent­schei­dun­gen des Ar­beit­ge­bers, die be­triebs­be­ding­te Kündi­gun­gen zur Fol­ge ha­ben, sind auch ge­genüber dem Beschäfti­gungs­an­spruch schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer vor­ran­gig zu be­ach­ten. Las­sen sol­che Or­ga­ni­sa­ti­ons­ent­schei­dun­gen den bis­he­ri­gen Beschäfti­gungs­be­darf für ei­nen schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer dau­er­haft ent­fal­len, kann die­ser vom Ar­beit­ge­ber nicht ver­lan­gen, sei­ne Um­struk­tu­rie­rungs- bzw. Or­ga­ni­sa­ti­ons­ent­schei­dung rückgängig zu ma­chen.

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Letzte Überarbeitung: 28. September 2021

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