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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 13|2024

Update Arbeitsrecht 13|2024 vom 29.07.2024

Entscheidungsbesprechungen

EuGH stärkt Kündigungsschutz für Schwangere

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 27.06.2024, C-284/23

Die Zweiwochenfrist für die nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage führt zu europarechtswidrigen Verfahrensnachteilen zulasten von schwangeren Frauen, die erst nach Ablauf der dreiwöchigen Klagefrist von ihrer Schwangerschaft erfahren haben.

Art.10, 12 Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 (Richtlinie 92/85/EWG - Mutterschutzrichtlinie); §§ 4,5 7 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); § 17 Mutterschutzgesetz (MuSchG); § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Rechtlicher Hintergrund

Will sich ein gekündigter Arbeitnehmer gegen die Wirksamkeit der Kündigung gerichtlich zur Wehr setzen, muss er gemäß § 4 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung Kündigungsschutzklage einreichen. Wird die Klagefrist versäumt, ist die Kündigung gemäß § 7 KSchG als rechtswirksam anzusehen.

Ist eine Arbeitnehmerin zum Zeitpunkt einer vom Arbeitgeber erklärten Kündigung schwanger, und ist dem Arbeitgeber die Schwangerschaft bekannt, ist die Kündigung im Allgemeinen unwirksam. Dies folgt aus § 17 Abs.1 Satz 1 Nr.1 Mutterschutzgesetz (MuSchG) in Verb. mit § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). In Ausnahmefällen kann die Arbeitsschutzbehörde eine Kündigung - auf Antrag des Arbeitgebers und vor Ausspruch der Kündigung - für zulässig erklären (§ 17 Abs.2 Satz 1 MuSchG).

Wusste der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung von der Schwangerschaft nichts, kann die Schwangere ihm das Vorliegen der Schwangerschaft (zum Zeitpunkt der Kündigung) innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitteilen und damit die Kündigung nachträglich zu Fall bringen (§ 17 Abs.1 Satz 1 MuSchG).

Dann ist die Kündigung zwar unwirksam, doch muss die Schwangere bei Einreichung einer Klage die Dreiwochenfrist des § 4 Satz 1 KSchG einhalten. Denn die Sonderregelung des § 4 Satz 4 KSchG, wonach die dreiwöchige Klagefrist erst nach Bekanntgabe der behördlichen Entscheidung an den Arbeitnehmer beginnt, falls die Kündigung einer behördlichen Zustimmung bedarf, gilt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) nicht in Fällen, in denen dem Arbeitgeber zum Kündigungszeitpunkt die Schwangerschaft nicht bekannt war (BAG, Urteil vom 19.02.2009, 2 AZR 286/07).

Noch kürzere Fristen müssen Schwangere beachten, wenn sie erstmals nach Ablauf von drei Wochen seit Ausspruch der Kündigung (durch eine ärztliche Untersuchung) davon erfahren, dass sie zum Zeitpunkt der Kündigung schwanger waren. 

Da dann die Zweiwochenfrist für die Information des Arbeitgebers über die Schwangerschaft bereits abgelaufen ist, muss diese Mitteilung nunmehr „unverzüglich“ nachgeholt werden (§ 17 Abs.1 Satz 2 MuSchG). Außerdem muss die Schwangere innerhalb von zwei Wochen einen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage bei Gericht stellen, wie sich aus § 5 Abs.1 und Abs.3 KSchG ergibt.

Schwangere, die erst nach Ablauf der Dreiwochenfrist von ihrer Schwangerschaft zum Kündigungszeitpunkt erfahren, müssen somit kürzere Fristen beachten als vergleichbare Arbeitnehmerinnen, die bereits zum Kündigungszeitpunkt wussten, dass sie schwanger sind.

Fraglich ist daher, ob die Zweiwochenfrist für die nachträgliche Klagezulassung mit dem europarechtlichen Gebot eines effektiven Rechtsschutzes zu Gunsten von schwangeren gegen Kündigungen vereinbar ist, d.h. mit Art.10 und 12 Richtlinie 92/85/EWG (Mutterschutzrichtlinie).

Nein, so der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem aktuellen Urteil: Urteil vom 27.06.2024, C-284/23.

Sachverhalt

Eine zu Anfang August 2022 befristet eingestellte Pflegehelferin wurde gut zwei Monate nach ihrer Einstellung, am 06.10.2022, zum 21.10.2022 gekündigt. Am 06.10.2022 war sie schwanger, was sie allerdings nicht wusste, sondern erst am 09.11.2022 erfuhr. 

Daraufhin informierte sie am nächsten Tag den Arbeitgeber, ein Pflegeheim, über das Vorliegen der Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung. Damit beachtete sie die Obliegenheit zur unverzüglichen nachträglichen Information des Arbeitgebers gemäß § 17 Abs.1 Satz 2 MuSchG.

Kündigungsschutzklage reichte sie allerdings erst gut einen Monat später ein, am 13.12.2022. Einen formellen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Klage stellte sie dabei nicht.

Damit wäre die Klage eigentlich wegen Versäumung der Dreiwochenfrist des § 4 Satz 1 KSchG zu spät eingereicht worden. Denn die Pflegehelferin hatte die Zweiwochenfrist für einen Antrag auf nachträgliche Klagezulassung (§ 5 Abs.3) versäumt.

Das mit dem Fall befasste Arbeitsgericht Mainz legte dem EuGH die Frage vor, ob die strengen Fristen der §§ 4, 5 KSchG mit der Richtlinie 92/85/EWG vereinbar sind (Arbeitsgericht Mainz, Beschluss vom 24.04.2023, 4 Ca 1424/22).

Entscheidung des EuGH

Die Antwort des EuGH lautet, dass Art.10 und 12 Richtlinie 92/85/EWG mit nationalen Regeln unvereinbar sind, die vorsehen, dass Schwangere, die von ihrer Schwangerschaft erst nach Ablauf einer Frist für eine Kündigungsschutzklage erfahren, diese nur innerhalb einer kurzen Frist von zwei Wochen nachträglich einreichen können.

Dabei bezieht sich der EuGH auf sein Urteil vom 29.10.2009 (C‑63/08 - Pontin), in dem er zu einem luxemburgischen Vorlagefall bereits entschieden hatte, dass eine Klagefrist von 15 Tagen für Schwangere „besonders kurz“ bemessen sei (EuGH, Urteil, Rn.47).

Voraussetzung der Unvereinbarkeit kurzer nationaler Zulassungsfristen mit dem EU-Recht ist weiterhin, dass die Verfahrensregeln für einen solchen Zulassungsantrag Nachteile für die Schwangere mit sich bringen, die die Umsetzung ihrer Rechte übermäßig erschweren, d.h. den durch Art.10 Richtlinie 92/85/EWG vorgeschriebenen rechtlichen Schutz vor Kündigungen in der Schwangerschaft.

Obwohl nunmehr das Arbeitsgericht Mainz noch abschließend prüfen muss, ob die Zweiwochenfrist für den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung eine solche übermäßige Erschwernis mit sich bringt, macht der EuGH in den Entscheidungsgründen deutlich, dass er davon ausgeht. Denn, so der EuGH:

Die in § 5 KSchG vorgesehene Frist von zwei Wochen ist deutlich kürzer als die in § 4 KSchG vorgesehene normale dreiwöchige Klagefrist. Damit ist die Zweiwochenfrist in Anbetracht der Situation, in der sich eine Frau zu Beginn ihrer Schwangerschaft befindet, „besonders kurz“. Sie macht es Schwangeren sehr schwer, sich beraten zu lassen und u.U. einen Zulassungsantrag und die eigentliche Kündigungsschutzklage abzufassen und einzureichen (EuGH, Urteil, Rn.58). 

Ergänzend verweist der Gerichtshof auf Unsicherheiten beim rechtlich maßgeblichen Beginn der Zweiwochenfrist und auf die Tatsache, dass Schwangere unterschiedliche Erklärungsfristen gegenüber dem Arbeitgeber und dem Gericht beachten müssen.

Praxishinweis

Die für Schwangere gesetzlich vorgesehene Zweiwochenfrist für den Antrag auf nachträgliche Klagezulassung, d.h. § 5 Abs.1 Satz 2, Abs.3 KSchG, ist mit Art.10 und 12 Richtlinie 92/85/EWG bzw. dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz nicht vereinbar.

Fraglich ist, ob bzw. welche anderen Fristen dann in solchen Fällen zu beachten sind. Möglicherweise kann hier die allgemeine Dreiwochenfrist für Kündigungsschutzklagen, d.h. § 4 Satz 1 KSchG, sinngemäß angewendet werden. 

Dies würde sich im Streitfall zulasten der Klägerin auswirken. Denn sie hatte sich zwischen der Kenntnisnahme ihrer Schwangerschaft (am 09.11.2022) und der diesbezüglichen Information ihres Arbeitgebers (am 10.11.2022) mehr als drei Wochen Zeit bis zum Einreichen ihrer Kündigungsschutzklage (am 13.12.2022) gelassen.

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 27.06.2024, C-284/23

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 2910.2009, C-63/08 (Pontin)

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.02.2009, 2 AZR 286/07

 

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigungsschutz

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigungsschutzklage

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