Update Arbeitsrecht 01|2025 vom 31.01.2025
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Erschütterung des Beweiswerts einer in Tunesien erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15.01.2025, 5 AZR 284/24
Der Beweiswert einer 24-tägigen Krankschreibung mit verordneter Ruhe kann erschüttert sein, wenn der Arbeitnehmer am Tag nach der Untersuchung ein Fährticket für eine lange und beschwerliche Reise bucht.
§§ 3, 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG)
Rechtlicher Hintergrund
Ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Bescheinigungen) sind im Normalfall ein ausreichender Nachweis für eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit.
Daher sind erkrankte Arbeitnehmer gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) verpflichtet, eine AU-Bescheinigung vorzulegen.
Arbeitgeber können nur bis zur Vorlage einer AU-Bescheinigung die Entgeltfortzahlung verweigern, d.h. danach besteht gemäß § 7 Abs.1 Nr.1 EFZG kein Recht zur Leistungsverweigerung mehr. Auch Gerichte können im Normalfall eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit als bewiesen ansehen, wenn der Arbeitnehmer eine AU-Bescheinigung vorlegt.
Trotz ihres „hohen Beweiswertes“ begründen AU-Bescheinigungen keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit gemäß § 292 Zivilprozessordnung (ZPO). Das hätte zur Folge, dass der Arbeitgeber im Streitfall das Gegenteil beweisen müsste. Das muss er aber nicht.
Vielmehr genügt es, wenn der Arbeitgeber im Streitfall Umstände nachweisen kann, die den Beweiswert einer vom Arbeitnehmer vorgelegten AU-Bescheinigung „erschüttern“.
Dann muss der Arbeitnehmer die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit beweisen, d.h. die AU-Bescheinigung nützt ihm nichts mehr. Diesen Beweis kann er führen, indem er zu seinen Erkrankungen und deren Auswirkungen vorträgt und die ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbindet und als Zeugen benennt.
In den vergangenen Jahren hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) mehrfach klargestellt, dass die Fälle, in denen der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert ist, häufiger sind als bisher von den Arbeitsgerichten angenommen.
So kann der Beweiswert im Hinblick auf das Anfangs- und/oder Enddatum erschüttert sein, wenn die in zwei AU-Bescheinigungen attestierten Krankheiten nur durch einige in der Freizeit liegende Tage unterbrochen sind. Gibt es eine Überschneidung, kann der Sechswochenzeitraum mit dem Ende der ersten Arbeitsunfähigkeit erschöpft sein. Hier muss der Arbeitnehmer beweisen, dass sich die Krankheiten nicht überschnitten haben (BAG, Urteil vom 11.12.2019, 5 AZR 505/18; s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2020).
Der Beweiswert einer AU-Bescheinigung kann auch erschüttert sein, wenn sie der Arbeitnehmer zusammen mit einer Kündigungserklärung einreicht, falls die attestierte Arbeitsunfähigkeit „passgenau“ bis zum Ende der Kündigungsfrist dauert (BAG, Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21, s. dazu Update Arbeitsrecht 19|2021).
Vor kurzem kam das BAG wieder zu dem Ergebnis, dass der Beweiswert einer AU erschüttert war, den die Vorinstanz, das Landesarbeitsgericht (LAG) München noch zugunsten des Arbeitnehmers angenommen hatte: BAG, Urteil vom 15.01.2025, 5 AZR 284/24 (Pressemitteilung des Gerichts).
Sachverhalt
Ein seit 2002 beschäftigter Lagerarbeiter legte seinem Arbeitgeber 2017, 2019 und 2020 im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub AU-Bescheinigungen vor.
Vom 22.08.2022 (Montag) bis zum 09.09.2022 (Freitag) machte er Urlaub in Tunesien. Mit E-Mail vom 07.09.2022 informierte er den Arbeitgeber über eine Krankschreibung durch einen tunesischen Arzt bis zum 30.09.2022 (Freitag).
In dem beigefügten ärztlichen Attest vom 07.09.2022 hieß es, der Arbeitnehmer leide an Ischialbeschwerden und müsse daher 24 Tage, bis zum 30.09.2022, strenge häusliche Ruhe halten. Er dürfe sich bis dahin weder bewegen noch reisen. In einer späteren schriftlichen Erläuterung bestätigte der Arzt die Arbeitsunfähigkeit und ein Reiseverbot für 24 Tage vom 07.09.2022 bis zum 30.09.2022.
Einen Tag nach der Untersuchung, am 08.09.2022, buchte der Arbeitnehmer ein Fährticket für den 29.09.2022. An diesem Tag reiste er mit seinem PKW mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. Dort legte er eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vor, in der Arbeitsunfähigkeit vom 04.10.2022 (Dienstag) bis zum 08.10.2022 (Samstag) bescheinigt wurde.
Der Arbeitgeber lehnte die Entgeltfortzahlung ab und kürzte die Vergütung für September 2022 zeitanteilig. Der Arbeitnehmer klagte auf die streitige Entgeltfortzahlung.
Das Arbeitsgericht München wies die Klage ab (Urteil vom 14.11.2023, 13 Ca 593/23). Das LAG München gab ihr dagegen wie erwähnt statt (Urteil vom 16.05.2024, 9 Sa 538/23).
Entscheidung des BAG
Das BAG hob das Urteil des LAG auf und verwies den Fall zurück zum LAG, das ihn jetzt noch einmal prüfen muss. In der derzeit allein vorliegenden Pressemitteilung des BAG heißt es:
Das LAG hatte zwar damit recht, dass die AU-Bescheinigung des tunesischen Arztes im Ausgangspunkt den gleichen Beweiswert wie eine deutsche AU-Bescheinigung hatte. Denn der tunesische Arzt hatte zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit dadurch bedingten Arbeitsunfähigkeit unterschieden.
Allerdings hatte das LAG die vom Arbeitgeber vorgebrachten Umstände, mit denen er den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttern wollte, jeweils nur isoliert betrachtet und eine - rechtlich gebotene - Gesamtwürdigung unterlassen.
Hier ist, so das BAG, zu berücksichtigen, dass der Arzt für 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, ohne eine Wiedervorstellung des Arbeitnehmers anzuordnen. Dieser buchte schon einen Tag nach der bescheinigten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und dem Ausspruch eines Reiseverbots bis zum 30.09.2022 ein Fährticket für den 29.09.2022. An diesem Tag trat er auch die lange Rückreise an. Außerdem hatte der Arbeitnehmer bereits in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach seinem Urlaub AU-Bescheinigungen vorgelegt.
Diese Umstände mögen zwar, so das BAG, für sich betrachtet harmlos sein. In einer Gesamtschau begründen sie aber ernsthafte Zweifel am Beweiswert der AU-Bescheinigung.
Daher lag die Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit beim Kläger. Denn davon hing der streitige Anspruch auf Entgeltfortzahlung gemäß § 3 Abs.1 EFZG ab. Daher muss das LAG nunmehr klären, ob wirklich eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorlag.
Praxishinweis
Dem BAG ist zuzustimmen. Aufgrund der vielen Ungereimtheiten hier im Streitfall konnte man nicht (mehr) davon ausgehen, dass die vom Arbeitnehmer vorgelegte ärztliche AU-Bescheinigung wie im Normalfall einen hohen Beweiswert hatte.
Daher greift zu Ungunsten des Arbeitnehmers die allgemeine Regel, dass jede Partei vor Gericht die für sie günstigen Umstände konkret vortragen und - im Falle des Bestreitens durch die Gegenseite - beweisen muss.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15.01.2025, 5 AZR 284/24 (Pressemitteilung des Gerichts)
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11.12.2019, 5 AZR 505/18
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)
Handbuch Arbeitsrecht: Datenschutz im Arbeitsrecht
Handbuch Arbeitsrecht: Krankheit
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