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ARBEITSRECHT AKTUELL // 15/327

Be­nach­tei­li­gung we­gen Be­hin­de­rung bei So­zi­al­plan­ab­fin­dung

Die vor­zei­ti­ge Ren­ten­be­rech­ti­gung we­gen ei­ner Schwer­be­hin­de­rung darf nicht zur Schlech­ter­stel­lung bei Ab­fin­dun­gen füh­ren: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 17.11.2015, 1 AZR 938/13
Mann mit Rollator

20.11.2015. Wer­den bei grö­ße­ren Kün­di­gungs­wel­len ge­mäß ei­nem So­zi­al­plan Ab­fin­dun­gen ge­zahlt, be­kom­men Ar­beit­neh­mer, die be­reits kurz vor der Ren­te ste­hen, meist we­ni­ger als jün­ge­re Kol­le­gen.

Da schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer frü­her in Ren­te ge­hen kön­nen als ih­re nicht be­hin­der­ten Kol­le­gen, kön­nen So­zi­al­plan­re­ge­lun­gen zur "Ren­ten­nä­he" da­zu füh­ren, dass Schwer­be­hin­der­te bei glei­chem Al­ter ge­rin­ge­re Ab­fin­dun­gen als ver­gleich­ba­re nicht be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer er­hal­ten.

Das ist, so das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) in ei­nem letz­te Wo­che er­gan­ge­nen Ur­teil, ei­ne un­zu­läs­si­ge Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung, so dass schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer ei­ne eben­so ho­he Ab­fin­dung ver­lan­gen kön­nen wie ver­gleich­ba­re nicht be­hin­der­te Kol­le­gen: BAG, Ur­teil vom 17.11.2015, 1 AZR 938/13 (Pres­se­mel­dung des Ge­richts).

Dürfen So­zi­alpläne ge­rin­ge­re Ab­fin­dun­gen für schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer vor­se­hen, weil die­se früher Al­ters­ren­te be­an­spru­chen können?

So­zi­alpläne bzw. die in ih­nen vor­ge­se­he­nen Ab­fin­dun­gen ha­ben den Zweck, künf­ti­ge fi­nan­zi­el­le Nach­tei­le aus­zu­glei­chen, die den Ar­beit­neh­mern in­fol­ge ih­rer Ent­las­sung ent­ste­hen wer­den.

We­gen die­ser Über­brückungs­funk­ti­on se­hen vie­le So­zi­alpläne vor, dass es zwei ver­schie­de­ne Be­rech­nungs­we­ge für die Er­mitt­lung von Ab­fin­dun­gen gibt: Ei­ne "nor­ma­le" Ab­fin­dungs­for­mel, bei der es auf die Beschäfti­gungs­jah­re, das Le­bens­al­ter, Un­ter­halts­pflich­ten und ei­ne Schwer­be­hin­de­rung an­kommt, und ei­ne Son­der­for­mel für die "Ren­ten­na­hen", bei der die vor­aus­lie­gen­den Mo­na­te bis zum (frühestmögli­chen oder re­gulären) Ren­ten­be­ginn mit der Ab­fin­dung über­brückt bzw. fi­nan­zi­ell un­terstützt wer­den sol­len.

Enthält ein So­zi­al­plan zwei der­ar­ti­ge Ab­fin­dungs­for­meln, kann das da­zu führen, dass ein 58jähri­ger Ar­beit­neh­mer ei­ne Ab­fin­dung im sechst­stel­li­gen Be­reich erhält, während ein zwei Jah­re älte­rer Kol­le­ge mit ei­nem Zehn­tel die­ser Sum­me "ab­ge­speist" wird, weil er nämlich in ab­seh­ba­rer Zeit (nach Ausschöpfung sei­nes Ar­beits­lo­sen­geld­an­spruchs) in Ren­te ge­hen kann.

Dar­in liegt zwar ei­ne al­ters­be­ding­te Un­gleich­be­hand­lung, doch ist die­se nach der Recht­spre­chung des BAG sach­lich ge­recht­fer­tigt und stellt da­her kei­ne ver­bo­te­ne Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung dar (so BAG, Ur­teil vom 26.03.2013, 1 AZR 813/11, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 13/096 Ab­fin­dung für "ren­ten­na­he" Ar­beit­neh­mer und Eu­ro­pa­recht).

Denn das All­ge­mei­ne Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG) stellt im An­schluss an die EU-Richt­li­nie 2000/78/EG klar, dass al­ters­be­ding­te Un­gleich­be­hand­lun­gen rech­tens sind, wenn sie „durch ein le­gi­ti­mes Ziel ge­recht­fer­tigt“ so­wie „ob­jek­tiv und an­ge­mes­sen“ sind und wenn die ein­ge­setz­ten Mit­tel „an­ge­mes­sen und er­for­der­lich“ sind (§ 10 Satz 1 und 2 AGG).

Und für al­ters­be­ding­te Ab­fin­dungs­un­ter­schie­de enthält § 10 Satz 3 Nr.6 AGG so­gar ei­ne Son­der­re­ge­lung: Da­nach dürfen ren­ten­na­he Ar­beit­neh­mer, die auf­grund ei­ner Be­triebsände­rung ent­las­sen wer­den, von So­zi­al­plan­ab­fin­dun­gen völlig (!) aus­ge­nom­men wer­den.

Bleibt die Fra­ge, ob es auch recht­lich zulässig ist, schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer ge­genüber an­de­ren, nicht be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern beim The­ma So­zi­al­plan­ab­fin­dung schlech­ter zu stel­len.

Dafür spricht die zu­kunfts­be­zo­ge­ne Über­brückungs­funk­ti­on von Ab­fin­dun­gen: Wenn es um künf­ti­ge fi­nan­zi­el­le Nach­tei­le geht, dann sind die­se eben bei Schwer­be­hin­der­ten ge­rin­ger, weil sie gemäß § 236a Sechs­tes Buch So­zi­al­ge­setz­buch (SGB VI) früher in Ren­te ge­hen können. In die­sem Sin­ne "kon­se­quent" hat das BAG tatsächlich ein­mal ent­schie­den (BAG, Ur­teil vom 11.11.2008, 1 AZR 475/07, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 08/134 Dis­kri­mi­nie­rung: Ab­fin­dungskürzung für Ar­beit­neh­mer im ren­ten­na­hen Al­ter).

Da­ge­gen spricht al­ler­dings ein Ur­teil des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs (EuGH) aus dem Jah­re 2012. In die­ser Ent­schei­dung hat der EuGH her­aus­ge­stellt, dass die Möglich­keit ei­ner vor­ge­zo­ge­nen Ren­te auf­grund ei­ner Be­hin­de­rung ge­ra­de kein sach­li­cher Grund dafür ist, schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern ge­rin­ge­re Ab­fin­dun­gen zu zah­len (EuGH, Ur­teil vom 06.12.2012, C-152/11, Odar gg. Bax­ter - wir be­rich­te­ten in: Ar­beits­recht ak­tu­ell 12/392 So­zi­al­plan-Ab­fin­dung bei Be­hin­de­rung).

Zu die­ser Fra­ge muss­te jetzt auch das BAG Stel­lung neh­men.

Im Streit: 40.000,00 EUR Ab­fin­dung für "nor­ma­le Ren­ten­na­he" oder nur 10.000,00 EUR we­gen ei­ner Son­der­re­ge­lung zu­las­ten schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer?

In dem vom BAG ent­schie­de­nen Fall ging es um ei­ne So­zi­al­plan, der Ab­fin­dun­gen für be­triebs­be­dingt gekündig­te Ar­beit­neh­mer ent­hielt, und um ei­nen 1950 ge­bo­re­nen, schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer, der sei­ne Ab­fin­dung von 11.000,00 EUR als dis­kri­mi­nie­rend an­sah und da­her auf Zah­lung ei­ner wei­te­ren Ab­fin­dung klag­te.

Die nor­ma­le For­mel­be­rech­nung gemäß dem So­zi­al­plan be­ruh­te im We­sent­li­chen auf dem Brut­to­mo­nats­lohn und der Be­triebs­zu­gehörig­keit der ent­las­se­nen Ar­beit­neh­mer. Da­nach hätte der Kläger ei­gent­lich 64.558,00 EUR Ab­fin­dung er­hal­ten müssen, doch war die­ser Be­trag für ren­ten­na­he Ar­beit­neh­mer auf ma­xi­mal 40.000,00 EUR be­grenzt. Und da der Kläger im ren­ten­na­hen Al­ter war, hätte er sich wahr­schein­lich mit den 40.000,00 EUR Ab­fin­dung zu­frie­den ge­ge­ben.

Doch noch nicht ein­mal die­sen Be­trag zahl­te ihm der Ar­beit­ge­ber aus. Denn nach ei­ner im So­zi­al­plan ent­hal­te­nen Son­der­re­ge­lung wa­ren Ar­beit­neh­mer, die we­gen ei­ner Schwer­be­hin­de­rung bei Be­en­di­gung ih­res Ar­beits­verhält­nis­ses ei­ne Ren­te be­an­spru­chen konn­ten, von der in­di­vi­du­el­len Ab­fin­dungs­be­rech­nung von vorn­her­ein aus­ge­nom­men. Die­se Ar­beit­neh­mer soll­ten nach dem So­zi­al­plan nur ei­ne Ab­fin­dungs­pau­scha­le von 10.000,00 EUR be­kom­men so­wie ei­nen Zu­satz­be­trag von 1.000,00 EUR we­gen ih­rer Schwer­be­hin­de­rung.

Das Ar­beits­ge­richt Köln ver­ur­teil­te den Ar­beit­ge­ber zur Zah­lung wei­te­rer 30.000,00 EUR, weil es die Son­der­re­ge­lung für schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer als rechts­wid­rig an­sah (Ur­teil vom 05.02.2013, 13 Ca 5641/12), und in die­sem Sin­ne hat auch das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Köln ent­schie­den (LAG Köln, Ur­teil vom 19.11.2013, 12 Sa 692/13).

BAG: Die vor­zei­ti­ge Ren­ten­be­rech­ti­gung we­gen ei­ner Schwer­be­hin­de­rung darf nicht zur Schlech­ter­stel­lung bei So­zi­al­plan-Ab­fin­dun­gen führen

Auch die das BAG gab dem Ar­beit­neh­mer recht. In der der­zeit al­lein vor­lie­gen­den Pres­se­mel­dung des BAG heißt es zur Be­gründung:

Un­ter­schei­det ein So­zi­al­plan für die Be­rech­nung ei­ner Ab­fin­dung zwi­schen un­ter­schied­li­chen Ar­beit­neh­mer­grup­pen, müssen die Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bo­te des AGG be­ach­tet wer­den. Das hat­ten Ar­beit­ge­ber und Be­triebs­rat hier nicht be­ach­tet, denn die Son­der­re­ge­lung über die Ab­fin­dungs­pau­scha­le von 10.000,00 EUR be­inhal­te­te ei­ne un­mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer, die oh­ne die­se Re­ge­lung ei­ne höhe­re Ab­fin­dung be­an­spru­chen könn­ten. Da­her durf­te die­se Son­der­re­ge­lung gemäß § 7 Abs.2 AGG nicht zu­las­ten der schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer an­ge­wandt wer­den, so die Er­fur­ter Rich­ter.

Fa­zit: Ob­wohl das BAG es in der Pres­se­mel­dung nicht un­miss­verständ­lich sagt, geht es da­von aus, dass schwer­be­hin­der­te und nicht schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer als ver­gleich­bar an­zu­se­hen sind, ob­wohl Schwer­be­hin­der­te früher in Ren­te ge­hen können. Die­se be­son­de­re, für Schwer­be­hin­der­te güns­ti­ge Ren­ten­be­rech­ti­gung spielt dem­gemäß beim The­ma Ab­fin­dung kei­ne Rol­le, wo­mit sich das BAG letzt­lich dem EuGH-Ur­teil vom 06.12.2012 in Sa­chen Odar gg. Bax­ter (C-152/11) an­ge­schlos­sen hat.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das Ge­richt sei­ne Ent­schei­dungs­gründe veröffent­licht. Das vollständig be­gründe­te Ur­teil fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 12. August 2020

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