Update Arbeitsrecht 18|2024 vom 31.12.2024
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Diskriminierung von Teilzeitkräften bei Überstundenzuschlägen
Bundesarbeitsgericht, Urteile vom 05.12.2024, 8 AZR 370/20 und 8 AZR 370/22
Sehen Tarifverträge Überstundenzuschläge nur bei Überschreiten der wöchentlichen Vollzeit vor und sind Teilzeitkräfte weit überwiegend Frauen, haben diese einen Anspruch auf Entschädigung wegen mittelbarer geschlechtsbedingter Diskriminierung.
§ 4 Abs.1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG); §§ 7, 15 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); § 4 Nr.1, Nr.2 Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG; Art.157 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); Art.2 Abs.1 Buchstabe b); Art.4 Abs.1 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006
Rechtlicher Hintergrund
§ 4 Abs.1 Satz 1 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) schreibt vor, dass teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden dürfen als vergleichbare vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.
Außerdem müssen Teilzeitkräfte gemäß § 4 Abs.1 Satz 2 TzBfG Arbeitsentgelt oder andere teilbare geldwerte Leistungen mindestens in dem Umfang erhalten, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitkräfte entspricht (Grundsatz der zeitanteiligen Vergütung, Bezahlung pro rata temporis).
Europarechtliche Grundlage dieser Schutzvorschriften zugunsten von Teilzeitarbeitnehmern ist die europäische „Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit“. Sie findet sich im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15.12.1997. Dort wiederum sind Diskriminierungsverbot und Pro-rata-temporis-Grundsatz in § 4 Abs.1 und Abs.2 festgeschrieben.
Im Juli 2024 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf der Grundlage eines vom Bundesarbeitsgericht (BAG) vorgelegten Falles (erneut) klargestellt, dass es mit dem europarechtlichen Verbot der Diskriminierung von Teilzeitkräften nicht zu vereinbaren ist, wenn tarifliche Regelungen Überstundenzuschläge nur bei Arbeitsstunden vorsehen, die über die Arbeitszeit von Vollzeitkräften hinausgehen.
Denn die Zuschläge halten Arbeitgeber nicht von der Anordnung von Überstunden bei Teilzeitkräften ab, da solche Überstunden gemäß der streitigen tariflichen Regelung kostengünstig sind. Und eine mit 20 Stunden pro Woche beschäftigte Teilzeitkraft wird auch nicht „besser“ als eine Vollzeitkraft behandelt, wenn sie ab der 21. Wochenstunde Überstundenzuschläge erhält, die eine Vollzeitkraft für die 21. Wochenarbeitsstunde nicht bekommt (EuGH, Urteil vom 29.07.2024, C-184/22 und C-185/22; s. dazu Update Arbeitsrecht 14|2024).
Vor kurzem hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die beiden vom EuGH beurteilten Vorlagefälle entsprechend den EuGH-Vorgaben, d.h. zugunsten der klagenden Teilzeitkräfte entschieden: BAG, Urteile vom 05.12.2024, 8 AZR 370/20 und 8 AZR 372/20 (Pressemitteilung des BAG).
Sachverhalt
Zwei weibliche Pflegekräfte einer Dialyseeinrichtung mit 40 und mit 80 Prozent einer Vollzeitstelle verklagten ihren Arbeitgeber auf Anerkennung geleisteter Überstunden durch Zeitgutschriften auf ihren Arbeitszeitkonten.
Die Überstunden berechneten die Klägerinnen auf der Grundlage ihrer Teilzeitarbeitszeit, obwohl der anzuwendende Manteltarifvertrag (MTV) Zuschläge bzw. Gutschriften erst bei Überschreiten des vollzeitigen Arbeitspensums vorsah.
Denn gemäß § 10 Ziff.7 Satz 2 MTV sind mit einem Zuschlag von 30 Prozent zuschlagspflichtig Überstunden, die über die monatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden und nicht durch Freizeit ausgeglichen werden können. Alternativ zur Zahlung des Zuschlags ist eine Zeitgutschrift im Arbeitszeitkonto vorgesehen.
Während das Arbeitsgericht Fulda die Klagen abwies (Urteil vom 17.01.2019, 2 Ca 73/18, und Urteil vom 09.11.2018, 1 Ca 106/18), hatten die Klägerinnen vor dem Hessischen Landesarbeitsgericht (LAG) teilweise Erfolg.
Das LAG verurteilte die Dialyseeinrichtung immerhin zur Vornahme der streitigen Zeitgutschriften, wies aber die von den Klägerinnen ebenfalls eingeklagte Diskriminierungsentschädigung ab (Hessisches LAG, Urteil vom 19.12.2019, 5 Sa 436/19 und 5 Sa 1683/18). Die Diskriminierung begründeten die Klägerinnen mit dem Argument, dass die unter den MTV fallenden Teilzeitkräfte zu mehr als 90 Prozent Frauen sind.
Wie erwähnt legte das mit der Revision der Klägerinnen befasste BAG die Fälle dem EuGH vor, der die Vorlagefragen zu ihren Gunsten entschied (EuGH, Urteil vom 29.07.2024, C-184/22 und C-185/22; s. dazu Update Arbeitsrecht 14|2024).
Entscheidung des BAG
Das BAG gab den auf Zahlung der Diskriminierungsentschädigung gerichteten Revisionen der Klägerinnen statt. Zur Begründung heißt es in der derzeit allein vorliegenden BAG-Pressemitteilung:
Entsprechend dem EuGH-Urteil verstößt § 10 Ziff.7 Satz 2 MTV gegen das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten bzw. gegen § 4 Abs.1 TzBfG und ist daher insoweit unwirksam, als er keine der Teilzeitquote entsprechende Absenkung der Grenze für Überstundenzuschläge vorsieht. Ein Sachgrund für diese Schlechterstellung von Teilzeitkräften ist nicht erkennbar, so das BAG.
Daher hatten die Klägerinnen mit ihrer Klage auf Zeitgutschriften auch vor dem BAG Erfolg, d.h. die gegen die LAG-Urteile gerichteten (Anschluss-)Revisionen der Dialyseeinrichtung wies das BAG ab.
Darüber hinaus sprach das BAG den Klägerinnen eine Entschädigung nach § 15 Abs.2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu. Denn wegen des weit überwiegenden Frauenanteils von über 90 Prozent der unter den MTV fallenden Teilzeitkräfte führte die streitige Tarifregelung zu einer mittelbaren Diskriminierung weiblicher Beschäftigter wegen ihres Geschlechts.
Die Entschädigung setzte das BAG mit (nur) 250,00 EUR fest. Dieser Betrag ist laut BAG einerseits erforderlich, andererseits aber ausreichend, um den immateriellen Schaden auszugleichen und gegenüber dem Arbeitgeber die gebotene abschreckende Wirkung zu entfalten.
Praxishinweis
Tarifliche Vorschriften zu Überstundenzuschlägen, die Zuschläge erst ab Überschreiten der Arbeitszeit von Vollzeitkräften vorsehen, behandeln Teilzeitkräfte wegen der Teilzeit schlechter als Vollzeitkräfte. Sie verstoßen daher gegen § 4 Abs.1 TzBfG und sind daher unwirksam, falls es nicht (ausnahmsweise) Sachgründe für eine solche Ungleichbehandlung gibt.
Außerdem besteht ein Anspruch der benachteiligten weiblichen Kräfte, wenn diese im Anwendungsbereich des Tarifs deutlich in der Mehrheit sind.
Die vom BAG in den beiden Streitfällen ausgeurteilte Entschädigung ist allerdings sehr gering, so dass sie - anders als BAG meint - wohl kaum eine abschreckende Wirkung auf Arbeitgeber haben dürfte.
BAG, Urteile vom 05.12.2024, 8 AZR 370/20 und 8 AZR 372/20 (Pressemitteilung des Gerichts)
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 29.07.2024, C-184/22 und C-185/22
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28.10.2021, 8 AZR 370/20 (A)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28.10.2021, 8 AZR 372/20 (A)
Europäischer Gerichtshof , Urteil vom 19.10.2023, C-660/20 (Lufthansa CityLine)
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