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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 18|2024

Update Arbeitsrecht 18|2024 vom 31.12.2024

Entscheidungsbesprechungen

BAG: Indizien für missbräuchliche Scheinbewerbungen eines AGG-Hoppers

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.09.2024, 8 AZR 21/24

Viele Bewerbungen auf diskriminierende Ausschreibungen und anschließende Entschädigungsklagen können Rechtsmissbrauch belegen, wenn der Bewerber damit systematisch und zielgerichtet einen „Gewinn“ anstrebt.

§§ 1; 2 Abs.1 Nr.1; 6 Abs.1 Satz 2; 7 Abs.1; 11; 15 Abs.1, 2, 4; 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG); § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Rechtlicher Hintergrund

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligungen im Berufsleben, die auf gesetzlich definierten Merkmalen der benachteiligten Person beruhen wie z.B. dem Alter oder dem Geschlecht (§§ 1, 7 AGG). 

Der Diskriminierungsschutz umfasst auch den Zugang zur Erwerbstätigkeit (§§ 2 Abs.1 Nr.1; 6 Abs.1 Satz 2 AGG), so dass auch Stellenbewerber geschützt sind. 

Daher müssen Arbeitgeber aufpassen, dass sie freie Stellen nicht in diskriminierender Weise ausschreiben, d.h. unter Verstoß gegen §§ 7 Abs.1; 11 AGG. Das sind z.B. Stellenanzeigen, mit denen nach einem „Vertriebsleiter“ oder einer „Assistentin“ gesucht wird. 

Solche Ausschreibungen, die sprachlich nur ein bestimmtes Geschlecht nennen, grenzen mögliche Bewerberinnen bzw. Bewerber des jeweils anderen Geschlechts aus. 

Korrekt ist daher die Suche nach einem „Vertriebsleiter (m/w/d)“ oder einem „Assistenten/in (m/w/d)“.

Wenn sich eine Person mit dem „falschen“ Geschlecht auf eine nicht geschlechtsneutrale Stellenanzeige bewirbt und nicht eingestellt wird, ist die gegen §§ 7 Abs.1; 11 AGG verstoßende Anzeige ein Diskriminierungsindiz gemäß § 22 AGG. 

In solchen Fällen ist zu vermuten, dass die Ablehnung des Bewerbers, d.h. seine „weniger günstige Behandlung“ (§ 3 Abs.1 Satz 1 AGG), Folge einer geschlechtsbedingten Diskriminierung ist.

Dann muss der Arbeitgeber beweisen, dass die Ablehnung des Bewerbers mit „falschem“ Geschlecht nichts zu tun hatte, sondern eine sachliche bzw. diskriminierungsfreie Entscheidung war. 

Ein solcher Beweis gelingt selten, so dass Bewerber in solchen Fällen meist ohne Probleme vor Gericht eine Diskriminierungsentschädigung gemäß § 15 Abs.1 und 2 AGG durchsetzen können.

Ein Entschädigungsanspruch besteht allerdings ausnahmsweise nicht, wenn der Bewerber rechtsmissbräuchlich vorgeht. Dann ist der Entschädigungsanspruch nach Treu und Glauben, d.h. gemäß § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), ausgeschlossen.

Rechtsmissbrauch liegt in Bewerbungsfällen vor, wenn sich eine Person nicht bewirbt, um die Stelle zu erhalten, sondern wenn es ihr nur darum geht, den formalen Status als Bewerber im Sinne von § 6 Abs.1 Satz 2 AGG zu erlangen mit dem alleinigen Ziel, Entschädigung bzw. Schadensersatz zu erlangen.

Ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) macht deutlich, auf welche Umstände es bei der Frage des Rechtsmissbrauchs typischerweise ankommt: BAG, Urteil vom 19.09.2024, 8 AZR 21/24.

Sachverhalt

Wie schon in Dutzenden Fällen zuvor hatte sich ein in Norddeutschland lebender Vollzeit-Student des Wirtschaftsrechts auf eine Stellenausschreibung beworben, mit der unter Verstoß gegen § 11 AGG eine „Sekretärin“ gesucht wurde. Nachdem er die Stelle nicht erhielt, klagte er vor dem Arbeitsgericht Dortmund auf Entschädigung.

Diesmal war die Stelle nicht bei eBay, sondern auf dem Portal „indeed“ ausgeschrieben. Gesucht wurde dort eine „Bürokauffrau/Sekretärin“. In seinem Bewerbungsschreiben vom 03.01.2023 führte der Kläger aus: 

„Sehr geehrte Damen und Herren, mit Freude und großem Interesse habe ich ihre Stellenausschreibung auf Indeed gelesen. Ich suche derzeit eine neue Wohnung in ihrem Umkreis oder könnte mir einen Umzug sehr gut vorstellen. Ich habe Berufserfahrung im Büro und kenne mich mit Word, Excel sowie typischen Bürotätigkeiten und Gesetzen gut aus. Lieferscheine kann ich auch schreiben und Rechnungen. Ich habe Berufserfahrung in der Personalabteilung, Vertrieb und im Einkauf. Ihre Anforderungen in der Stellenausschreibung erfülle ich allesamt. Ich bewerbe mich hiermit auf die Stelle. Ich habe eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung als Industriekaufmann und suche derzeit eine neue Herausforderung.“ 

Dieser Text wich geringfügig von den Bewerbungsschreiben ab, mit denen sich der Kläger bereits in der Vergangenheit auf Ausschreibungen von „Sekretärinnen-“Stellen beworben hatte (um anschließend eine Entschädigung zu verlangen). 

Das Arbeitsgericht Dortmund wies die Entschädigungsklage ab (Urteil vom 07.07.2023, 10 Ca 640/23). 

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm wies die Berufung zurück und ließ die Revision zum BAG zu (LAG Hamm, Urteil vom 05.12.2023, 6 Sa 896/23, s. dazu Update Arbeitsrecht 04|2024). Arbeitsgericht und LAG warfen dem Kläger Rechtsmissbrauch vor.

Denn, so das LAG: Der Kläger legte es systematisch auf Erzielung eines Gewinns durch eine Vielzahl gleichgelagerter Bewerbungen mit späteren Entschädigungsforderungen und -klagen an. Objektiv für Rechtsmissbrauch sprachen die große Distanz von 170 km zwischen Wohnort und Betrieb, der auf die Provokation einer Absage gerichtete Text der Bewerbung, das Vollzeitstudium des Klägers und die Vielzahl von gezielten Bewerbungen auf ausgeschriebene Stellen für eine „Sekretärin“ in verschiedenen Bundesländern, die mit anschließenden Entschädigungsklagen auf ein Geschäftsmodell des Klägers schließen ließen, so das LAG. 

Dabei stützt sich das LAG u.a. auf Änderungen des Bewerbungsschreibens, mit denen der Kläger im Laufe der Zeit Formulierungen gestrichen hatte, die ihm durch verschiedene Arbeitsgerichte als Indiz für rechtsmissbräuchliches Vorgehen angekreidet worden waren. Diese Optimierungen bezeichnete das LAG Hamm als ein weiterentwickeltes Geschäftsmodell 2.0. Auch in subjektiver Hinsicht lag, so das LAG, Rechtsmissbrauch vor.

Entscheidung des BAG

Das BAG segnete die Entscheidung des LAG Hamm ab. 

Denn das LAG hatte die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des BAG als Grundlage seines Urteils korrekt wiedergegeben, und es hatte diese zutreffend auf den Streitfall angewandt, d.h. nicht gegen Denkgesetze, anerkannte Auslegungsgrundsätze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen. Außerdem hatte das LAG keine wesentlichen Umstände außer Acht gelassen.

Es war daher vertretbar, dass das LAG die große Distanz von 170 km zwischen Wohnort und Betrieb als Indiz für einen mangelnden Willen des Klägers, die Stelle anzutreten, interpretierte, v.a. nachdem der Kläger zu seiner geplanten Lösung dieses Problems nichts Konkretes vorgetragen hatte. 

Eine rechtliche Verschärfung der Anforderungen an den Nachweis eines Rechtsmissbrauchs lehnt das BAG ab. 

Der Kläger hatte dazu im Revisionsverfahren ohne Erfolg argumentiert, dass das AGG die damit umgesetzten europarechtlichen Vorgaben allen den beteiligten Privatparteien überlässt, d.h. Bußgelder verzichtet. Dieses „private enforcement“ kann aber nicht zur Folge haben, missbräuchliche Bewerbungen und anschließende Entschädigungsklagen zuzulassen.

Die vom LAG weiterhin bewerteten Umstände des Streitfalls (Bewerbungstext, Studium, Vielzahl ähnlicher Klagen) waren zwar für sich genommen kein ausreichender Beleg für ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen, wohl aber in ihrer Gesamtheit. Jedenfalls hatte das LAG Hamm diese Umstände in vertretbarer Weise, insbesondere umfassend, bewertet.

Praxishinweis

Eine Vielzahl von Bewerbungen auf nicht diskriminierungsfreie Ausschreibungen und viele ähnlich gelagerte Entschädigungsklagen können Rechtsmissbrauch belegen, wenn der Bewerber systematisch und zielgerichtet einen auskömmlichen „Gewinn“ anstrebt.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.09.2024, 8 AZR 21/24

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom Urteil vom 05.12.2023, 6 Sa 896/23, s. dazu Update Arbeitsrecht 04|2024

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 23.08.2023, 9 Sa 538/22, s. dazu Update Arbeitsrecht 01|2024

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 23.03.2023, 18 Sa 888/22 , s. dazu Update Arbeitsrecht 21|2023

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.01.2023, 3 Sa 898/22, s. dazu Update Arbeitsrecht 13|2023

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 21.06.2022, 2 Sa 21/22, s. dazu Update Arbeitsrecht 16|2022

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