Update Arbeitsrecht 17|2024 vom 30.11.2024
Leitsatzreport
Hessisches LAG: Keine Beweiserhebung im Verfahren über die Besetzung einer Einigungsstelle
Hessisches Landesarbeitsgericht, Beschluss vom 30.08.2024, 5 TaBV 85/24
§§ 76; 111 Satz 3 Nr.4; 112 Abs.4 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); § 100 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)
Leitsatz des Gerichts:
Nach § 100 Abs.1 Satz 2 ArbGG kann ein Antrag auf Bestellung einer Einigungsstelle gemäß § 76 Abs.2 Satz 2, Satz 3 BetrVG nur zurückgewiesen werden, wenn die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist. Das Kriterium der offensichtlichen Unzuständigkeit setzt voraus, dass an der Unzuständigkeit der Einigungsstelle weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht ernsthafte Zweifel möglich sind. Im Übrigen bleibt die Klärung rechtlicher und tatsächlicher Fragen dem Einigungsstellenverfahren und ggf. einem sich anschließenden arbeitsgerichtlichen Anfechtungsverfahren vorbehalten.
Hiernach sind Tatsachenfeststellungen im Ergebnis auf eine Schlüssigkeitsprüfung beschränkt, da Tatsachen, die erst durch Beweiserhebung ermittelt werden müssten, nicht offensichtlich im Sinne von § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG sind. Der eingeschränkte Prüfungsmaßstab erklärt sich aus den Besonderheiten des Bestellungsverfahrens, welches darauf gerichtet ist, den Betriebsparteien im Bedarfsfall möglichst rasch eine formal funktionsfähige Einigungsstelle zur Verfügung zu stellen. Diese Zielsetzung erfordert ein unkompliziertes Bestellungsverfahren ohne zeitraubende Klärung streitiger Tatsachenfragen und Prüfung nicht offensichtlich zu beantwortender bzw. höchstrichterlich nicht geklärter Rechtsfragen.
Der eingeschränkte Prüfungsmaßstab korrespondiert damit, dass die Einigungsstelle die Vorfrage ihrer Zuständigkeit selbst prüft und sich - wenn sie diese nicht für gegeben hält - für unzuständig zu erklären hat.
Hintergrund:
Ein bundesweit tätiger Lieferdienst beschäftigte ca. 95 bis 100 Arbeitnehmer als Kurierfahrer im Liefergebiet Mainz, das von dem lokalen Büro in Frankfurt am Main gesteuert wurde. Im Januar 2023 wählten die Arbeitnehmer des Liefergebiets Mainz einen Betriebsrat, wogegen der Lieferdienst arbeitsgerichtlich vorging mit dem Argument, dass das Liefergebiet Mainz keine betriebsratsfähige Organisationseinheit sei. Erstinstanzlich hatte das Arbeitsgericht Frankfurt am Main die Nichtigkeit der Wahl festgestellt, doch hatte der Betriebsrat dagegen Beschwerde zum Hessischen Landesarbeitsgericht (LAG) eingelegt, über die noch nicht entschieden war (Aktenzeichen des LAG: 16 TaBV 30/24). Kaum im Amt, verhandelte der Betriebsrat mit dem Arbeitgeber über eine - mögliche - Betriebsänderung und verlangte einen Sozialplan. Denn der Arbeitgeber hatte für die Kurierfahrer nachteilige Änderung der Liefergebiete beschlossen und vorgegeben, dass Fahrten künftig nicht mehr von zu Hause, sondern von vorgegebenen Starting Zones aus anzutreten waren. Das bewertete der Betriebsrat als sozialplanpflichtige Betriebsänderung in Form einer grundlegenden Änderungen der Betriebsorganisation (§ 111 Satz 3 Nr.4 BetrVG), was der Arbeitgeber anders sah. Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main setzte die vom Betriebsrat verlangte Einigungsstelle gemäß § 100 Abs.1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) ein (Beschluss vom 02.07.2024, 16 BV 267/24). Die dagegen gerichtete Beschwerde des Arbeitgebers wies das Hessische LAG zurück. Dabei weist das LAG darauf hin, dass der Arbeitgeber sehr umfangreiche Ausführungen zu der Frage gemacht hatte, warum das Liefergebiet Mainz angeblich keine betriebsratsfähige Organisationseinheit sein sollte und welche konkreten Auswirkungen die streitige Änderung der Liefergebiete und Startpunkte für Kurierfahrten haben würden. Diese Tatsachen aufzuklären war dem LAG allein auf der Grundlage des Beteiligtenvorbringens und der eingereichten Unterlagen nicht möglich. Ein Fall der „offensichtlichen“ Unzuständigkeit der Einigungsstelle im Sinne von § 100 Abs.1 Satz 2 ArbGG lag (daher) nicht vor, so das LAG.
Hessisches Landesarbeitsgericht, Beschluss vom 30.08.2024, 5 TaBV 85/24
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