Update Arbeitsrecht 16|2024 vom 31.10.2024
Entscheidungsbesprechungen
LAG Mecklenburg-Vorpommern: Kündigung wegen behaupteten Diebstahls von zehn Kartons Ramazzotti
Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13.02.2024, 2 Sa 79/23
Ist ein dem Arbeitnehmer vorgeworfener Diebstahl dem Grunde nach und hinsichtlich der Tatumstände streitig, muss der Arbeitgeber die konkrete Tathandlung so genau schildern, dass darüber Beweis erhoben werden kann.
§ 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 626 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) können Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis aus einem „wichtigen Grund“ außerordentlich und fristlos kündigen. Das ist der Fall, wenn Tatsachen vorliegen, die dem kündigenden Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (oder einer vereinbarten Befristung) unzumutbar machen.
In der Regel werden außerordentliche fristlose Kündigungen mit erheblichen Pflichtverstößen des gekündigten Vertragspartners begründet. Das können bei fristlosen Arbeitgeber-Kündigungen z.B. Straftaten des Arbeitnehmers zulasten des Arbeitgebers, zulasten von Kollegen oder von Kunden sein.
Auch der dringende Verdacht, dass der gekündigte Arbeitnehmer derartige (gravierende) Pflichtverstöße begangen hat, kann eine außerordentliche fristlose Kündigung rechtfertigen.
Denn manchmal lässt sich die Tatbegehung zwar nicht völlig zweifelsfrei vor Gericht beweisen, doch es bleibt ein so erheblicher Verdacht, dass dem Arbeitgeber die weitere Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses aus diesem - personenbedingten - Grund nicht zuzumuten ist.
Da eine Verdachtskündigung auch Unschuldige treffen kann, ist sie nur unter engen Voraussetzungen möglich.
Erstens muss der Verdacht einer (sehr) erheblichen Pflichtverletzung bestehen. Sie müsste, falls sie beweisbar wäre, eine außerordentliche fristlose Tatkündigung rechtfertigen.
Zweitens müssen die Verdachtsmomente dringend („erdrückend“) sein, d.h. der Verdacht muss sich knapp unterhalb der Gewissheit über die Pflichtverletzung bewegen. Erste Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung oder gar bloße Verdächtigungen reichen nicht.
Schließlich muss der gekündigte Arbeitnehmer vor einer Verdachtskündigung zu Verdachtsmomenten angehört werden. Eine ohne vorherige Anhörung erklärte Verdachtskündigung ist unwirksam.
In einem aktuellen Fall des Landesarbeitsgerichts (LAG) Mecklenburg-Vorpommern hatte der Arbeitgeber einen LKW-Fahrer wegen eines - angeblichen - Diebstahls gekündigt, ohne ihn vorher anzuhören. Damit kam er im Kündigungsschutzprozess nicht durch.
Sachverhalt
Ein seit sieben Monaten bei einer Spedition mit mehr als zehn Arbeitnehmern beschäftigter LKW-Fahrer war in Verdacht geraten, einen Kunden der Spedition, die Fa. Netto Marken-Discount, bei Durchführung einer Fahrt bestohlen zu haben.
Denn zu Beginn einer Fahrt von einem Netto-Markt zu einem Netto-Lager soll u.a. eine Palette mit Spirituosen in den Laderaum des LKW verbracht worden sein, wobei eine Netto-Angestellte von der (angeblich) ordnungsgemäß mit Folie umwickelten Palette ein Handyfoto gemacht haben soll.
Der Laderaum wurde sodann verschlossen mit einer elektronischen Plombe versehen, durch die die Firma Netto per GPS feststellen konnte, ob und wann der Laderaum geöffnet wurde. Möglicherweise waren die elektronischen Plomben aber fehleranfällig und lieferten daher falsche Informationen.
Nach einer mehrstündigen Fahrt, die durch eine 30- bis 40-minütige Pause unterbrochen wurde, übergab der Fahrer den LKW einem Kollegen, der ihn zum Zielort, dem Netto-Lager, fuhr. Dort stellten Mitarbeiter der Firma Netto fest, dass die Folie von der Palette mit Spirituosen beschädigt worden war, und dass zehn Kartons „Ramazzotti“ fehlten.
Außerdem soll, so die Firma Netto, durch die von der elektronischen Plombe gelieferten Informationen feststehen, dass der Laderaum während der Fahrt (nur) einmal geöffnet worden sei, und zwar möglicherweise während der Zeit, in der der Fahrer seine Pause gemacht hatte. Allerdings stimmten die Angaben des Fahrers zum Ort der Pause nicht mit den angeblichen GPS-Informationen über den Ort der Laderaumöffnung überein.
Die Firma Netto erteilte dem Fahrer einige Tage später ein Hausverbot für sämtliche Niederlassungen.
Mit Schreiben vom selben Tag kündigte die Spedition das Arbeitsverhältnis fristlos mit der Begründung: „Sie haben wegen Diebstahl bei Netto Hausverbot“. Hilfsweise kündigte die Spedition zum nächstzulässigen Termin. Eine vorherige Anhörung des Fahrers nahm die Spedition nicht vor.
Die gegen die Kündigungen gerichtete Kündigungsschutzklage hatte vor dem Arbeitsgericht Stralsund Erfolg (Urteil vom 09.05.2023, 2 Ca 271/22).
Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern
Auch in der Berufung hatte die Spedition kein Glück. Das LAG bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Sowohl die außerordentliche als auch die hilfsweise ordentliche Kündigung waren unwirksam.
Auf einen dringenden Diebstahlsverdacht konnte die Spedition die außerordentliche Kündigung nicht stützen, da sie den Fahrer vor Ausspruch der Kündigung nicht zu den Verdachtsmomenten angehört hatte.
Daher musste die Spedition den Nachweis führen, dass der Fahrer die zehn Kisten Ramazzotti tatsächlich gestohlen hatte. Diesen für eine Tatkündigung erforderlichen Beweis konnte sie aber nicht führen.
Denn es fehlte bereits, so das LAG, an einem ausreichend genauen Vortrag der Spedition dazu, in welcher Weise, an welchem Ort und zu welchem Zeitpunkt der Kläger die fraglichen Kartons „Ramazzotti“ an sich genommen haben soll. Daher konnte das Gericht auch keine möglichen Tatzeugen vernehmen, da die Spedition weder die genaue Diebstahlshandlung noch Tatzeugen genannt hatte.
Auch die von der Spedition vorgebrachten Indizien für einen möglichen Diebstahl durch den Fahrer genügten dem LAG nicht für die Überzeugung seiner Täterschaft.
Denn es gab bereits Zweifel daran, ob die mit dem Handy fotografierte Palette mit Spirituosen überhaupt auf den LKW des Fahrers geladen worden waren.
Außerdem konnte nicht ausgeschlossen werden, dass die (angeblich) per GPS festgestellte Öffnung des Laderaums auf der Fahrt von einer anderen Person vorgenommen wurde.
Schließlich bestand auch die Möglichkeit, dass ein (etwaiger) Diebstahl von zehn Kartons Ramazzotti bereits beim Beladen des LKW am Abfahrtsort oder auch bei Ankunft am Zielort durch andere Personen als den Fahrer verübt wurden.
Aus diesen Gründen war auch die streitige ordentliche Kündigung nicht sozial gerechtfertigt im Sinne von § 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) und daher unwirksam.
Praxishinweis
Arbeitgebern ist zu raten, vor dem Ausspruch einer verhaltensbedingten - ordentlichen oder außerordentlichen - Kündigung immer eine Anhörung des betroffenen Arbeitnehmers durchzuführen.
Ob eine solche Anhörung im Fall des LAG Mecklenburg-Vorpommern allerdings etwas am Ergebnis geändert hätte, ist zweifelhaft. Denn die gegen den Fahrer bestehenden Verdachtsmomente waren alles andere als „erdrückend“.
Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13.02.2024, 2 Sa 79/23
Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 11.03.2020, 6 Sa 1182/19
Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - fristlose Kündigung
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