HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

ARBEITSRECHT AKTUELL // 18/158

Kün­di­gung wäh­rend der Schwan­ger­schaft bei Mas­sen­ent­las­sung

EuGH prä­zi­siert An­for­de­run­gen für die schrift­li­che An­ga­be von Kün­di­gungs­grün­den bei der Kün­di­gung schwan­ge­rer Ar­beit­neh­me­rin­nen: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 22.02.2018, C-103/16 (Por­ras Gu­i­sa­do)
Mutterschutz während der Schwangerschaft, Beschäftigungsverbot

29.06.2018. Ge­mäß Art.10 Nr.1 der Mut­ter­schutz-Richt­li­nie (Richt­li­nie 92/85/EWG des Ra­tes vom 19.10.1992) ist die Kün­di­gung ei­ner schwan­ge­ren Ar­beit­neh­me­rin nur in Aus­nah­me­fäl­len zu­läs­sig, die nicht mit der Schwan­ger­schaft in Zu­sam­men­hang ste­hen dür­fen.

Ein sol­cher Aus­nah­me­fall könn­te ei­ne Mas­sen­ent­las­sung im Sin­ne von Art.1 Abs.1 Buch­sta­be a) der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie (Richt­li­nie 98/59/EG des Ra­tes vom 20.07.1998) sein. Denn hier­bei geht es ja de­fi­ni­ti­ons­ge­mäß um Ent­las­sun­gen aus Grün­den, „die nicht in der Per­son der Ar­beit­neh­mer lie­gen“ (Art.1 Abs.1 Buch­sta­be a) Richt­li­nie 98/59/EG).

In ei­nem ak­tu­el­len Ur­teil hat der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) be­stä­tigt, dass Kün­di­gun­gen im Rah­men ei­ner Mas­sen­ent­las­sung als Aus­nah­me im Sin­ne von Art.10 Nr.1 Richt­li­nie 92/85/EWG an­zu­se­hen sind und da­her auch die Kün­di­gung schwan­ge­rer Ar­beit­neh­me­rin­nen er­lau­ben.

Da­bei muss der Ar­beit­ge­ber al­ler­dings in zeit­li­cher Nä­he zur Kün­di­gung die Grün­de für die Mas­sen­ent­las­sung so­wie die Kri­te­ri­en für die So­zi­al­aus­wahl schrift­lich mit­tei­len: EuGH, Ur­teil vom 22.02.2018, C-103/16 (Por­ras Gu­i­sa­do).

Wie stark sind schwan­ge­re Ar­beit­neh­me­rin­nen vor Kündi­gun­gen in­fol­ge ei­ner Mas­sen­ent­las­sung geschützt?

Wie erwähnt er­laubt Art.10 Nr.1 der Mut­ter­schutz-Richt­li­nie (Richt­li­nie 92/85/EWG) die Kündi­gung ei­ner schwan­ge­ren Ar­beit­neh­me­rin im Prin­zip gar nicht, d.h. be­schränkt sol­che Kündi­gun­gen auf Aus­nah­mefälle. Die­se Vor­schrift lau­tet:

„Die Mit­glied­staa­ten tref­fen die er­for­der­li­chen Maßnah­men, um die Kündi­gung der Ar­beit­neh­me­rin­nen im Sin­ne des Ar­ti­kels 2 während der Zeit vom Be­ginn der Schwan­ger­schaft bis zum En­de des Mut­ter­schafts­ur­laubs nach Ar­ti­kel 8 Ab­satz 1 zu ver­bie­ten; da­von aus­ge­nom­men sind die nicht mit ih­rem Zu­stand in Zu­sam­men­hang ste­hen­den Aus­nah­mefälle, die ent­spre­chend den ein­zel­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten und/oder Ge­pflo­gen­hei­ten zulässig sind, wo­bei ge­ge­be­nen­falls die zuständi­ge Behörde ih­re Zu­stim­mung er­tei­len muß.“

Wenn man be­denkt, dass vie­le be­triebs­be­ding­te Kündi­gun­gen im Zu­sam­men­hang mit ei­ner Mas­sen­ent­las­sung im Sin­ne von Art.1 Abs.1 Buch­sta­be a) der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie (Richt­li­nie 98/59/EG) aus­ge­spro­chen wer­den, kann man dar­an zwei­feln, ob je­de Mas­sen­ent­las­sung auch gleich­zei­tig ei­ne „Aus­nah­me“ im Sin­ne von Art.10 Nr.1 der Mut­ter­schutz-Richt­li­nie (Richt­li­nie 92/85/EWG) ist.

Mögli­cher­wei­se recht­fer­tigt der Weg­fall von Ar­beits­be­darf in­fol­ge ei­ner Mas­sen­ent­las­sung nicht oder nicht in al­len Fällen die Kündi­gung ei­ner schwan­ge­ren Ar­beit­neh­me­rin. Dann wäre der mas­sen­ent­las­sungs­be­ding­te Weg­fall von Beschäfti­gungsmöglich­kei­ten für ei­ne schwan­ge­re Ar­beit­neh­me­rin als sol­cher noch kein „Aus­nah­me­fall“ im Sin­ne von Art.10 Nr.1 der Mut­ter­schutz-Richt­li­nie (Richt­li­nie 92/85/EWG).

Dann läge die Schluss­fol­ge­rung na­he, dass schwan­ge­re Ar­beit­neh­me­rin­nen nach Art.10 der Richt­li­nie 92/85/EWG bei Mas­sen­ent­las­sun­gen ei­nen vor­ran­gi­gen Be­stands­schutz ge­genüber an­de­ren Ar­beit­neh­mern ha­ben müssen.

Der spa­ni­sche Streit­fall: Jes­si­ca Por­ras Gu­i­sa­do ge­gen Ban­kia SA

In dem aus Spa­ni­en stam­men­den Vor­la­ge­fall hat­te ei­ne gut sie­ben Jah­re lang beschäftig­te Bank­an­ge­stell­te, Frau Gu­i­sa­do, im No­vem­ber 2013 ei­ne be­triebs­be­ding­te Kündi­gung (mit Ab­fin­dungs­zah­lung) er­hal­ten. Zu die­sem Schritt hat­te sich die Bank im Zu­ge ei­ner größeren Kündi­gungs­wel­le bzw. Mas­sen­ent­las­sung ent­schlos­sen. Zum Zeit­punkt der Kündi­gung war Frau Gu­i­sa­do schwan­ger. Ob der Ar­beit­ge­ber da­mals da­von wuss­te, blieb zwi­schen den Par­tei­en strei­tig, auch vor dem EuGH.

Grund­la­ge der Kündi­gung wa­ren Kol­lek­tiv­ver­ein­ba­run­gen der Bank mit den zuständi­gen Ge­werk­schaf­ten über die An­zahl der zu strei­chen­den Stel­len und über die Kri­te­ri­en für die So­zi­al­aus­wahl. Die­sen Kri­te­ri­en zu­fol­ge kam die Frau Gu­i­sa­do auf ei­ne recht ge­rin­ge Punkt­zahl.

Frau Gu­i­sa­do klag­te ge­gen die Kündi­gung, hat­te in der ers­ten In­stanz aber kei­nen Er­folg. Das Be­ru­fungs­ge­richt, das Obers­te Ge­richt von Ka­ta­lo­ni­en, setz­te das Ver­fah­ren aus und leg­te dem EuGH ei­ni­ge Fra­gen zur Reich­wei­te des Kündi­gungs­schut­zes schwan­ge­rer Ar­beit­neh­me­rin­nen bei Mas­sen­ent­las­sun­gen vor.

Ins­be­son­de­re woll­te das spa­ni­sche Ge­richt wis­sen, ob ei­ne Mas­sen­ent­las­sung als sol­che be­reits ei­ne „Aus­nah­me“ im Sin­ne von Art.10 Nr.1 der Mut­ter­schutz-Richt­li­nie (Richt­li­nie 92/85/EWG) dar­stellt oder ob wei­te­re Umstände er­for­der­lich sind, um von ei­ner „Aus­nah­me“ im Sin­ne der Mut­ter­schutz-Richt­li­nie aus­ge­hen zu können.

EuGH: Die EU-Staa­ten können die Kündi­gung Schwan­ge­rer bei Mas­sen­ent­las­sun­gen er­lau­ben, doch tref­fen den Ar­beit­ge­ber er­wei­ter­te Be­gründungs­pflich­ten

Der EuGH ent­schied im We­sent­li­chen zu­guns­ten der Bank und bestätig­te da­mit, dass die spa­ni­schen ar­beits­recht­li­chen Vor­schrif­ten über den Kündi­gungs­schutz schwan­ge­rer Ar­beit­neh­me­rin­nen bei Mas­sen­ent­las­sun­gen mit dem Eu­ro­pa­recht im Prin­zip ver­ein­bar sind.

Die Kern­aus­sa­ge der Ent­schei­dung lau­tet: Das Be­ste­hen ei­ner Schwan­ger­schaft schützt bei größeren be­triebs­be­ding­ten Ent­las­sungs­wel­len, d.h. bei ei­ner Mas­sen­ent­las­sung im Sin­ne der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie, nicht vor ei­ner wirk­sa­men Kündi­gung. An­ders ge­sagt: Das Vor­lie­gen ei­ner (sach­lich be­gründe­ten) Mas­sen­ent­las­sung im Sin­ne von Art.1 Abs.1 Buch­sta­be a) der Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie (Richt­li­nie 98/59/EG) stellt ei­nen Aus­nah­me­fall im Sin­ne von Art.10 Nr.1 der Mut­ter­schutz-Richt­li­nie (Richt­li­nie 92/85/EWG) dar (Ur­teil, Rn.49 f.).

Wei­ter­hin ver­weist der Ge­richts­hof al­ler­dings dar­auf, dass der Ar­beit­ge­ber gemäß Art.10 Nr.2 der Mut­ter­schutz-Richt­li­nie (Richt­li­nie 92/85/EWG) da­zu ver­pflich­tet ist, der gekündig­ten (oder demnächst zu kündi­gen­den) Schwan­ge­ren schrift­lich die Gründe für die Kündi­gung mit­tei­len. Art.10 Nr.2 der Richt­li­nie 92/85/EWG lau­tet:

„Wird ei­ner Ar­beit­neh­me­rin im Sin­ne des Ar­ti­kels 2 während der in Num­mer 1 ge­nann­ten Zeit gekündigt, so muß der Ar­beit­ge­ber schrift­lich be­rech­tig­te Kündi­gungs­gründe anführen.“

Hier­zu führt der EuGH aus, dass sich die­se Be­gründungs­pflicht bei ei­ner Kündi­gung auf­grund ei­ner Mas­sen­ent­las­sung auf fol­gen­de zwei Umstände er­streckt:

  • Die nicht in der Per­son der Gekündig­ten lie­gen­den Gründe, aus de­nen der Ar­beit­ge­ber ei­ne Mas­sen­ent­las­sung vor­nimmt. „Sol­che Gründe können u. a. wirt­schaft­li­che oder tech­ni­sche Gründe sein oder Gründe, die sich auf Or­ga­ni­sa­ti­on oder Pro­duk­ti­on des Un­ter­neh­mens be­zie­hen“ (Ur­teil, Rn.53).
  • Die „sach­li­chen Kri­te­ri­en für die Aus­wahl der zu ent­las­sen­den Ar­beit­neh­mer“ (Ur­teil, Rn.54).

Sch­ließlich stellt der EuGH klar, dass Art.10 Nr.1 der Richt­li­nie 92/85/EWG ein präven­ti­ves Ver­bot der Kündi­gung ei­ner schwan­ge­ren Ar­beit­neh­me­rin bzw. vor­beu­gen­de Maßnah­men des Staa­tes ge­gen sol­che Kündi­gun­gen er­for­dert (Ur­teil, Rn.66). An­de­rer­seits sind die EU-Mit­glied­staa­ten nicht da­zu ver­pflich­tet, schwan­ge­re Ar­beit­neh­me­rin­nen bei Mas­sen­ent­las­sun­gen ge­ne­rell ge­genüber an­de­ren Ar­beit­neh­mern durch ei­nen ge­stei­ger­ten Be­stands- bzw. Wei­ter­beschäfti­gungs­schutz zu pri­vi­le­gie­ren (Ur­teil, Rn.74).

Das deut­sche Ar­beits­recht ist mit den Aus­sa­gen des EuGH zu Art.10 der Richt­li­nie 92/85/EWG bei Mas­sen­ent­las­sun­gen im We­sent­li­chen ver­ein­bar. Denn § 17 Abs.1 Mut­ter­schutz­ge­setz (MuSchG) ver­bie­tet die Kündi­gung ei­ner schwan­ge­ren Ar­beit­neh­me­rin nur grundsätz­lich, d.h. es lässt ei­ne Kündi­gung im Aus­nah­me­fall wie z.B. bei ei­ner Be­triebsände­rung oder Mas­sen­ent­las­sung zu. Da­bei sorgt das Er­for­der­nis ei­ner vor­he­ri­gen Zu­stim­mung der obers­ten Lan­des­ar­beits­schutz­behörde (§ 17 Abs.2 Satz 1 MuSchG) für den vom EuGH ge­for­der­ten präven­ti­ven Schutz vor Kündi­gun­gen.

Al­ler­dings schreibt § 17 Abs.2 Satz 2 MuSchG in for­mel­ler Hin­sicht (ne­ben der Schrift­form der Kündi­gung) vor, dass das Kündi­gungs­schrei­ben selbst „den Kündi­gungs­grund an­ge­ben“ muss. An die­ser Stel­le er­ge­ben sich aus dem EuGH-Ur­teil vom 22.02.2018 (C-103/16) stren­ge­re An­for­de­run­gen, d.h. das Kündi­gungs­schrei­ben ge­genüber ei­ner Schwan­ge­ren im Rah­men ei­ner Mas­sen­ent­las­sung muss künf­tig fol­gen­de An­ga­ben ent­hal­ten:

Ar­beit­ge­ber müssen von sich aus im Kündi­gungs­schrei­ben erläutern, aus wel­chen wirt­schaft­li­chen, tech­ni­schen oder or­ga­ni­sa­to­ri­schen Gründen sie sich zu ei­ner Mas­sen­ent­las­sung ent­schlos­sen ha­ben. Außer­dem sind die Kri­te­ri­en für die So­zi­al­aus­wahl im Kündi­gungs­schrei­ben an­zu­ge­ben, d.h. es kommt nicht dar­auf an, ob die gekündig­te Ar­beit­neh­me­rin ein ent­spre­chen­des Ver­lan­gen im Sin­ne von § 1 Abs.3 Satz 1, 2. Halb­satz Kündi­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) geäußert hat oder nicht.

Fa­zit: Ar­beit­ge­ber ist zu ra­ten, bei der Kündi­gung ei­ner Schwan­ge­ren im Rah­men ei­ner Mas­sen­ent­las­sung die vom EuGH ge­for­der­ten, recht um­fang­rei­chen schrift­li­chen Erklärun­gen zum Be­stand­teil des Kündi­gungs­schrei­bens zu ma­chen. Als Grund­la­ge für die­se Erläute­run­gen können die Erklärun­gen die­nen, mit de­nen der Ar­beit­ge­ber die obers­te Lan­des­ar­beits­schutz­behörde von der in Aus­sicht ge­nom­me­nen Kündi­gung im Rah­men des Zu­stim­mungs­ver­fah­rens in­for­miert hat.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 12. August 2020

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de
Bewertung: 5.0 von 5 Sternen (1 Bewertung)

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 

Für Personaler, betriebliche Arbeitnehmervertretungen und andere Arbeitsrechtsprofis: "Update Arbeitsrecht" bringt Sie regelmäßig auf den neusten Stand der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. Informationen zu den Abo-Bedingungen und ein kostenloses Ansichtsexemplar finden Sie hier:

Alle vierzehn Tage alles Wichtige
verständlich / aktuell / praxisnah

HINWEIS: Sämtliche Texte dieser Internetpräsenz mit Ausnahme der Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen sind urheberrechtlich geschützt. Urheber im Sinne des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Martin Hensche, Lützowstraße 32, 10785 Berlin.

Wörtliche oder sinngemäße Zitate sind nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Urhebers bzw. bei ausdrücklichem Hinweis auf die fremde Urheberschaft (Quellenangabe iSv. § 63 UrhG) rechtlich zulässig. Verstöße hiergegen werden gerichtlich verfolgt.

© 1997 - 2024:
Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Lützowstraße 32, 10785 Berlin
Telefon: 030 - 26 39 62 0
Telefax: 030 - 26 39 62 499
E-mail: hensche@hensche.de