HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

ARBEITSRECHT AKTUELL // 12/350

Hö­he des Ur­laubs­an­spruchs beim Wech­sel von Voll- in Teil­zeit

Ar­beits­ge­richt Nien­burg con­tra Bun­des­ar­beits­ge­richt, Teil II: Ver­lie­ren Ar­beit­neh­mer durch den Über­gang von Voll­zeit zu Teil­zeit er­wor­be­ne Ur­laubs­an­sprü­che?: Ar­beits­ge­richt Nien­burg, Be­schluss vom 04.09.2012, 2 Ca 257/12 Ö
Frau zu Hause im Bett vor dem Fernsehen Wie­viel Ur­laub bleibt bei ei­ner Re­du­zie­rung der Ar­beits­zeit?

07.11.2012. Ge­mäß den Vor­ga­ben des Eu­ro­pa­rechts hat je­der Ar­beit­neh­mer das Recht auf ei­nen be­zahl­ten Jah­res­ur­laub von min­des­tens vier Wo­chen (Art.31 Abs.2 der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ro­päi­schen Uni­on vom 12.12.2007 - Grund­rechts-Char­ta - in Ver­bin­dung mit Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments und des Ra­tes vom 04.11.2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung - Ar­beits­zeit­richt­li­nie).

Der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) sieht hier­in ei­nen be­son­ders be­deut­sa­men Grund­satz des So­zi­al­rechts der Eu­ro­päi­schen Uni­on. Der An­spruch soll es Ar­beit­neh­mern er­mög­li­chen, sich zu er­ho­len und über ei­nen Zeit­raum für Ent­span­nung und Frei­zeit zu ver­fü­gen. Das gilt auch dann, wenn sie den Jah­res­ur­laub erst in ei­nem spä­te­ren Jahr neh­men kön­nen.

Dass es über die­sen be­deut­sa­men Grund­satz des So­zi­al­rechts in Eu­ro­pa je­doch im­mer wie­der zum Streit kommt, zeigt der fol­gen­de Fall, den das Ar­beits­ge­richt Nien­burg nun dem EuGH vor­ge­legt hat, Ar­beits­ge­richt Nien­burg, Be­schluss vom 04.09.2012, 2 Ca 257/12 Ö.

Her­un­ter­rech­nen des Ur­laubs­an­spruchs beim Wech­sel von Voll- in Teil­zeit: Zulässi­ge Um­rech­nung oder ver­kapp­te Kürzung?

In Deutsch­land sieht § 3 Bun­des­ur­laubs­ge­setz (BUrlG) pro Ka­len­der­jahr für ei­nen Ar­beit­neh­mer 24 Werk­ta­ge Ur­laub vor. Als Werk­ta­ge gel­ten al­le Ka­len­der­ta­ge, die nicht Sonn- oder ge­setz­li­che Fei­er­ta­ge sind, al­so in der Re­gel sechs Ta­ge pro Wo­che.

Wird der Ur­laub in Wo­chen um­ge­rech­net, er­ge­ben sich da­durch (24 ./. 6 =) vier Wo­chen be­zahl­te Frei­stel­lung von der Ar­beits­pflicht. Wer nicht (mehr) die ge­setz­li­che Sechs-Ta­ge-Wo­che ar­bei­tet, muss die­se vier Wo­chen mit der An­zahl sei­ner wöchent­li­chen Ar­beits­ta­ge mul­ti­pli­zie­ren, um sei­ne Ur­laubs­ta­ge aus­zu­rech­nen. Bei ei­ner Fünf-Ta­ge-Wo­che bei­spiels­wei­se be­steht da­nach ge­setz­lich An­spruch auf 20 (= 4 Wo­chen x 5 Ar­beits­ta­ge) Ar­beits­ta­ge Ur­laub. Die­se Be­rech­nung er­gibt sich al­ler­dings nicht aus dem Ge­setz, son­dern aus der Recht­spre­chung.

Die auf den ers­ten Blick ein­leuch­ten­de Um­rech­nung des Jah­res­ur­lau­bes ist je­doch pro­ble­ma­tisch, wenn sich die Ar­beits­zei­ten im lau­fen­den Jahr ändern und of­fe­ner Ur­laub auf das nächs­te Jahr über­tra­gen wird. Spe­zi­ell beim Über­gang von Voll­zeit zu Teil­zeit stellt sich dann die Fra­ge, ob der in Ur­laubs­ta­gen aus­ge­drück­te Ur­laubs­an­spruch auf das neue Beschäfti­gungs­maß „her­un­ter­ge­rech­net“ wer­den darf. Han­delt es sich da­bei nur um ei­ne zulässi­ge Um­rech­nung oder viel­leicht um ei­ne ver­kapp­te Kürzung des vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laubs­an­spru­ches? Ei­ne sol­che Kürzung wäre nach der Recht­spre­chung des EuGH un­zulässig.

Das Ar­beits­ge­richt (ArbG) Nien­burg hat­te vor kur­zem die Ge­le­gen­heit, sich mit die­sem Pro­blem ver­tieft aus­ein­an­der­zu­set­zen und den EuGH um ei­ne Klärung zu bit­ten (Be­schluss vom 04.09.2012, 2 Ca 257/12 Ö).

Der Fall: 12 Ta­ge we­ni­ger Ur­laub rich­tig be­rech­net?

Die kla­gen­de Ar­beit­neh­me­rin war zunächst voll­zei­tig in ei­ner Fünf-Ta­ge-Wo­che beschäftigt. Im Jahr 2010 konn­te sie we­gen ei­nes schwan­ger­schafts­be­ding­ten Beschäfti­gungs­ver­bo­tes und während der Zei­ten ih­res Mut­ter­schut­zes 22 Ur­laubs­ta­ge nicht neh­men. Ab Mit­te De­zem­ber 2011 war mit ih­rem Ar­beit­ge­ber, dem be­klag­ten Land, ei­ne Hal­bie­rung der Ar­beits­zeit ver­ein­bart. Da­mals wa­ren wei­te­re sie­ben Ar­beits­ta­ge Ur­laub of­fen.

Die Kläge­rin war seit­dem nur noch an drei Ta­gen pro Wo­che tätig und woll­te nun ge­richt­lich fest­stel­len las­sen, dass aus den Jah­ren 2010 und 2011 ins­ge­samt 29 Ar­beits­ta­ge Ur­laub in das Jahr 2012 über­tra­gen wur­den.

Das sah das be­klag­te Land an­ders: Die 29 Ar­beits­ta­ge Ur­laub aus der Voll­zeit müssen nach sei­ner Auf­fas­sung durch die da­ma­li­gen fünf Ar­beits­ta­ge ge­teilt (al­so in Wo­chen um­ge­rech­net) und mit der neu­en Zahl der Ar­beits­ta­ge, d.h. mit drei, mul­ti­pli­ziert wer­den. Ab­ge­run­det würden der Kläge­rin da­mit 17 Ar­beits­ta­ge Ur­laub zu­ste­hen, 12 we­ni­ger als von ihr ver­langt.

Sei­ne Be­rech­nungs­wei­se be­gründet es mit ei­nem Ur­teil des Bun­des­ar­beits­ge­rich­tes (BAG) aus dem Jahr 1998 (BAG, Ur­teil vom 28.04.1998, 9 AZR 314/97). Das BAG hat­te da­mals ar­gu­men­tiert, dass der über­tra­ge­ne Ur­laubs­an­spruch mit dem Ur­laub des lau­fen­den Jah­res iden­tisch ist und des­halb den glei­chen Be­rech­nungs­re­geln fol­gen muss. Ei­nen Grund, von die­ser ge­setz­lich an­ge­leg­ten Um­rech­nungs­me­tho­de ab­zu­wei­chen, woll­te das BAG nicht an­er­ken­nen, und sie führt auch nicht zu ei­ner ver­bo­te­nen Dis­kri­mi­nie­rung von Teil­zeit­beschäftig­ten, so das BAG.

Doch die­ses Ur­teil ist in die Jah­re ge­kom­men. Das In­kraft­tre­ten der Grund­rechts-Char­ta und ei­ne Rei­he von eu­ro­pa­recht­li­chen Ent­schei­dun­gen zum The­ma Ur­laub ge­ben An­lass zum Um­den­ken. So ent­schied der EuGH in ei­nem aus Öster­reich stam­men­den Fall (EuGH, Ur­teil vom 22.04.2010, C-486/08 - Zen­tral­be­triebs­rat der Lan­des­kran­kenhäuser Ti­rols): Der Über­gang von Voll­zeit zu Teil­zeit darf we­der den Ur­laubs­an­spruch re­du­zie­ren noch da­zu führen, dass der Ar­beit­neh­mer den be­reits er­wor­be­nen Ur­laub nur mit ge­rin­ge­rem Ur­laubs­ent­gelt ver­brau­chen kann.

Die meis­ten Au­to­ren mei­nen, dass die­se Ausführun­gen miss­verständ­lich und der öster­rei­chi­schen Be­son­der­heit ge­schul­det ist, dass dort Ur­laubs­ansprüche in St­un­den be­rech­net wer­den. Die Ur­laubs­be­rech­nung in Deutsch­land muss nach ih­rer Auf­fas­sung nicht geändert wer­den, weil der Ur­laub nur auf Ta­ges­ba­sis um­ge­rech­net wird, auf Wo­chen­ba­sis aber gleich bleibt. Al­ler­dings müsse das Ur­laubs­ent­gelt für den Alt-Ur­laub nun auf Grund­la­ge der Voll­zeit­vergütung be­rech­net wer­den.

An­de­re Au­to­ren se­hen hin­ge­gen auch Ände­rungs­be­darf bei der Be­rech­nungs­wei­se des Ur­laubs. An die­sen hat sich das Ar­beits­ge­richt Nien­burg ori­en­tiert.

Ar­beits­ge­richt Nien­burg: Vor­la­ge­fra­ge an den EuGH

Das Ar­beits­ge­richt setz­te den Rechts­streit aus und er­hofft sich nun vom EuGH deut­li­che Wor­te. Le­sens­wert und sorgfältig ar­gu­men­tiert es ganz im Sin­ne der Kläge­rin, dass die „Um­rech­nung“ in Wahr­heit ei­ne Kürzung ist und der be­reits er­dien­te Alt-Ur­laub beim Wech­sel des Beschäfti­gungs­um­fan­ges gleich blei­ben muss. Nach Einschätzung des Ge­richts muss klar zwi­schen der Zeit der be­trieb­li­chen Ab­we­sen­heit und der Zeit des Ur­laubs un­ter­schie­den wer­den.

Nicht über­zeu­gend fin­det das Ar­beits­ge­richt dem­ent­spre­chend das Ar­gu­ment, der in Wo­chen aus­ge­drück­te Ur­laubs­an­spruch blei­be der Höhe nach gleich, da ge­nau ge­nom­men nur die Zeit der be­trieb­li­chen Ab­we­sen­heit gleich bleibt. Ei­ne Ar­beits­stun­de ist für je­den Beschäftig­ten gleich lang, während ei­ne Ar­beits­wo­che je nach Um­fang der Beschäfti­gung ei­ne un­ter­schied­li­che Länge hat. Die Ver­wen­dung der Maßein­heit „Wo­che“ be­inhal­tet al­so - übri­gens eben­so wie die Maßein­heit „Tag“ - je nach Ar­beits­zeit­ver­tei­lung ei­ne ver­deck­te Quo­tie­rung zum Nach­teil des Teil­zeit­beschäftig­ten. Des­halb ist es nicht ge­recht­fer­tigt, die­se auf be­reits er­wor­be­ne Ur­laubs­ansprüche an­zu­wen­den, so das Ge­richt.

Um eu­ro­pa­rechts­wid­ri­ge Be­nach­tei­li­gun­gen aus­zu­sch­ließen sei es not­wen­dig, den er­wor­be­nen Ur­laubs­an­spruch zunächst in St­un­den um­zu­rech­nen und dann auf Ba­sis der neu­en tägli­chen Ar­beits­zeit in Ta­gen aus­zu­drücken. Wer bei­spiels­wei­se sei­ne Ar­beits­zeit hal­biert hat, ver­dop­pelt sei­nen in Ta­gen aus­ge­drück­ten Ur­laubs­an­spruch. Auf die­se Wei­se lässt sich dann auch bes­ser be­gründen, war­um das Ur­laubs­ent­gelt für den Alt-Ur­laub auf Voll­zeit­ba­sis ge­zahlt wer­den muss, so das Ar­beits­ge­richt.

Fa­zit: Der Vor­la­ge­be­schluss des Ar­beits­ge­richts Nien­burg über­zeugt, zu­mal es sei­ne Ausführun­gen mit ei­ni­gen Bei­spie­len für un­verständ­li­che und wi­dersprüchli­che Er­geb­nis­se der bis­he­ri­gen Be­rech­nungs­wei­se anführen kann.

Auch an­ge­sichts der ak­tu­el­len Ände­run­gen der BAG-Recht­spre­chung zum Ur­laub spricht viel dafür, die bis­he­ri­ge Be­rech­nungs­me­tho­de zu über­den­ken. So hat das BAG kürz­lich her­vor­ge­ho­ben, dass die Kehr­sei­te der Ar­beits­pflicht die Be­frei­ung hier­von durch Ur­laubs­gewährung ist (BAG, Ur­teil vom 13.12.2011, 9 AZR 420/10). Be­denkt man dann noch, dass nach Auf­fas­sung des EuGH der Ur­laubs­an­spruch da­zu dient, sich zu er­ho­len, drängt sich die Faust­for­mel „Mehr Ur­laub für mehr ge­leis­te­te Ar­beit“ ge­ra­de­zu auf. Alt-Ur­laub soll­te da­her auch an­hand der al­ten Ar­beits­zei­ten be­rech­net blei­ben.

Seit sei­ner Schultz-Hoff-Ent­schei­dung ist der EuGH (si­cher­lich un­ge­wollt) zum eu­ropäischen Ober-Ur­laubs­ge­richt ge­wor­den - und zahlt jetzt den Preis dafür. Denn auch der „große“ EuGH muss zur Kennt­nis neh­men, dass das Ur­laubs­recht ei­ne An­samm­lung vie­ler „klei­ner“, aber dafür ver­zwick­ter Rechts­pro­ble­me ist. Das Ver­fah­ren wird beim EuGH un­ter dem Ak­ten­zei­chen C-415/12 (Rechts­sa­che Bran­des) geführt.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: Mit­te des Jah­res 2013 hat der EuGH die Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts Nien­burg bestätigt. Dar­auf­hin hat das Ar­beits­ge­richt Nien­burg der Kläge­rin die Ab­gel­tung der aus­ste­hen­den Ur­laubs­ta­ge zu­ge­spro­chen. Das Ur­teil des Ge­richts­hofs im Voll­text und ei­ne Ur­teils­be­spre­chung, so­wie das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Nien­burg fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 10. Juni 2020

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de
Bewertung: 5.0 von 5 Sternen (4 Bewertungen)

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 

Für Personaler, betriebliche Arbeitnehmervertretungen und andere Arbeitsrechtsprofis: "Update Arbeitsrecht" bringt Sie regelmäßig auf den neusten Stand der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. Informationen zu den Abo-Bedingungen und ein kostenloses Ansichtsexemplar finden Sie hier:

Alle vierzehn Tage alles Wichtige
verständlich / aktuell / praxisnah

HINWEIS: Sämtliche Texte dieser Internetpräsenz mit Ausnahme der Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen sind urheberrechtlich geschützt. Urheber im Sinne des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Martin Hensche, Lützowstraße 32, 10785 Berlin.

Wörtliche oder sinngemäße Zitate sind nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Urhebers bzw. bei ausdrücklichem Hinweis auf die fremde Urheberschaft (Quellenangabe iSv. § 63 UrhG) rechtlich zulässig. Verstöße hiergegen werden gerichtlich verfolgt.

© 1997 - 2024:
Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Lützowstraße 32, 10785 Berlin
Telefon: 030 - 26 39 62 0
Telefax: 030 - 26 39 62 499
E-mail: hensche@hensche.de