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ARBEITSRECHT AKTUELL // 12/353

Kein Ur­laub bei Kurz­ar­beit Null

Es ist mit dem Eu­ro­pa­recht zu ver­ein­ba­ren, wenn Ar­beit­neh­mer für die Zeit ei­ner Kurz­ar­beit Null kei­ne neu­en Ur­laubs­an­sprü­che er­wer­ben: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 08.11.2012, C-229/11 und C-230/11 (Hei­mann und Tolt­schin gg. Kai­ser)
Kurz­ar­beit ist kein Ur­laub

13.11.2012. Wäh­rend ei­ner sog. Kurz­ar­beit ist die re­gu­lä­re Ar­beits­zeit ver­rin­gert und da­her es gibt we­ni­ger Lohn bzw. Ge­halt. Die­ser fi­nan­zi­el­le Aus­fall wird teil­wei­se durch das Kurz­ar­bei­ter­geld aus­ge­gli­chen, das die Ar­beits­agen­tur zahlt.

Kurz­ar­beit kann auch in der ex­tre­men Va­ri­an­te prak­ti­ziert wer­den, dass vor­über­ge­hend gar nicht ge­ar­bei­tet wird. Man spricht dann von "Kurz­ar­beit Null".

Frag­lich ist, ob Ar­beit­neh­mer für die Zeit ei­ner Kurz­ar­beit Null Ur­laubs­an­sprü­che er­wer­ben.

Oh­ne die­se Fra­ge zu be­ant­wor­ten, hat der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) vor ei­ni­gen Ta­gen klar­ge­stellt, dass es je­den­falls mit dem Eu­ro­pa­recht ver­ein­bar wä­re, wenn bei Kurz­ar­beit Null kei­ne Ur­laubs­an­sprü­che ent­ste­hen wür­den: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 08.11.2012, C-229/11 und C-230/11 (Hei­mann und Tolt­schin gg. Kai­ser).

Er­wer­ben Ar­beit­neh­mer während ei­ner sog. Kurz­ar­beit Null neue Ur­laubs­ansprüche?

Wenn man für drei oder sechs Mo­na­te oder für ei­ne noch länge­re Zeit nicht zur Ar­beit ge­hen muss und dem­ent­spre­chend vom Ar­beit­ge­ber kei­nen Lohn erhält, weil im Be­trieb Kurz­ar­beit Null "ge­fah­ren" wird, scheint auf den Blick klar, dass es dann auch kei­nen Ur­laub ge­ben kann. Denn das wäre ja ei­ne Art Ur­laub von der Frei­stel­lung. Und wo­von soll­te man sich schon er­ho­len, wenn man so­wie­so nicht ar­bei­ten muss?

Die­se Klar­heit auf den ers­ten Blick trügt aber, denn im Ur­laubs­recht ist an­er­kannt, dass man den Ur­laubs­an­spruch nicht durch tatsächli­che Ar­beit "er­die­nen" muss. Es genügt viel­mehr der Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses als sol­cher dafür, dass je­des Jahr er­neut pünkt­lich zum 1. Ja­nu­ar der vol­le An­spruch auf den Jah­res­ur­laub ent­steht.

Bes­tes Bei­spiel dafür ist die lan­ge dau­ern­de Er­kran­kung: Wer auf­grund ei­ner Krank­heit vom 01. Ja­nu­ar bis zum 31. De­zem­ber kei­nen Tag ge­ar­bei­tet hat, er­wirbt trotz­dem den vol­len Ur­laubs­an­spruch, und die­ser geht auch nicht am 31. März des Fol­ge­jah­res un­ter, son­dern erst am 31. März des übernächs­ten Jah­res. Ein­zel­hei­ten da­zu können Sie auf die­ser Web­sei­te in un­se­rem Hand­buch Ar­beits­recht un­ter "Ur­laub und Krank­heit" nach­le­sen.

Vor die­sem Hin­ter­grund ist es un­ter Ar­beits­recht­lern um­strit­ten, ob Ar­beit­neh­mer während ei­ner Kurz­ar­beit Null Ur­laubs­ansprüche er­wer­ben.

Dafür spricht ei­ne Par­al­le­le zur Rechts­la­ge bei lan­ger Krank­heit - falls man ei­ne sol­che Par­al­le­le für rich­tig hält.

Da­ge­gen spricht die Über­le­gung, dass das Grund­mo­dell der Kurz­ar­beit ja die verkürz­te Ar­beits­zeit ist, und für die­sen Fall gilt nach bis­he­ri­ger Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG), dass sich die An­zahl der Ur­laubs­ta­ge ab Be­ginn der Kurz­ar­beit ver­rin­gert.

Wer fünf Wo­chen Ur­laub hat und auf­grund der Kurz­ar­beit nur noch zwei Ta­ge statt bis­her fünf ar­bei­ten muss, hat ab Be­ginn der Kurz­ar­beit nur noch (25 : 5 x 2 =) zehn Ta­ge Ur­laub. Denn bei nur noch zwei Ar­beits­ta­gen pro Wo­che er­ge­ben zehn Ta­ge Ur­laub fünf Wo­chen Ur­laub, und das ist ge­nau die Dau­er des Ur­laubs, die dem Ar­beit­neh­mer zu­ste­hen.

Kon­se­quent zu En­de ge­dacht würde das bei Kurz­ar­beit Null zu null Ur­laubs­ta­gen führen, denn bei null Ar­beits­ta­gen pro Wo­che gibt es auch nur noch null Ur­laubs­ta­ge. Da­mit wäre die Kurz­ar­beit Null ur­laubs­recht­lich ei­ne Art "Teil­zeit Null", d.h. ei­ne Ver­rin­ge­rung der Ar­beits­zeit auf Null Ta­ge pro Wo­che.

Wel­che die­ser Auf­fas­sun­gen rich­tig ist, hat der EuGH nicht zu ent­schei­den. Frag­lich ist al­ler­dings, ob man die zu­letzt ge­nann­te An­sicht von vorn­her­ein "aus­mus­tern" kann, weil sie ge­gen das Eu­ro­pa­recht verstößt. Nein, tut sie nicht, so der EuGH En­de letz­ter Wo­che: EuGH, Ur­teil vom 08.11.2012, C-229/11 und C-230/11 (Hei­mann und Tolt­schin gg. Kai­ser).

Der Streit­fall: Hei­mann und Tolt­schin ge­gen Kai­ser GmbH

Im Streit­fall ging es um zwei ge­werb­li­che Ar­beit­neh­mer, Herr Hei­mann und Herr Tolt­schin. Sie wa­ren im Rah­men ei­ner Be­triebsände­rung von ih­rem Ar­beit­ge­ber, der Kai­ser GmbH, zum 30.09.2009 be­triebs­be­dingt ent­las­sen wor­den.

Auf­grund ei­nes So­zi­al­plans wur­de ihr Ar­beits­verhält­nis al­ler­dings be­fris­tet um ein Jahr verlängert, d.h. bis zum 30.06.2010, um ih­nen während die­ser Zeit den Be­zug von Kurz­ar­bei­ter­geld zu ermögli­chen. Der So­zi­al­plan sah für die­ses Jahr nämlich vor, dass Kurz­ar­beit Null ge­fah­ren wer­den soll­te.

Als ih­re Ar­beits­verhält­nis­se dem­ent­spre­chend mit ei­nem Jahr Ver­spätung en­de­ten, ver­lang­ten Herr Hei­mann und Herr Tolt­schin von der Kau­ser GmbH Ur­laubs­ab­gel­tung für das Jahr der Kurz­ar­beit Null. Bei Herrn Hei­mann ging es hier um 2.284,32 EUR brut­to, bei Herrn Tolt­schin um 2.962,60 EUR brut­to. 

Das mit dem Fall be­fass­te Ar­beits­ge­richt Pas­sau war der Mei­nung, dass die Ansprüche auf der Grund­la­ge des deut­schen Ar­beits­rechts nicht bestünden, da bei Kurz­ar­beit Null ver­ein­ba­rungs­gemäß nur null Ar­beits­ta­ge pro Wo­che zu ar­bei­ten sei­en und da­her bei Um­rech­nung des Jah­res­ur­laubs ei­ne Null her­aus­kom­me. Trotz­dem setz­te das Ar­beits­ge­richt das Ver­fah­ren aus und leg­te dem EuGH den Fall vor. Der EuGH möge doch bit­te die Fra­ge be­ant­wor­ten, ob die vom Ar­beits­ge­richt Pas­sau befürwor­te­te Rechts­mei­nung mit dem Eu­ro­pa­recht ver­ein­bar sei (Ar­beits­ge­richt Pas­sau, Be­schluss vom 13.04.2011, 1 Ca 62/11).

EuGH: Es ist mit dem Eu­ro­pa­recht zu ver­ein­ba­ren, wenn Ar­beit­neh­mer für die Zeit ei­ner Kurz­ar­beit Null kei­ne neu­en Ur­laubs­ansprüche er­wer­ben

Der EuGH ent­schied die Streit­fra­ge ge­gen die bei­den kla­gen­den Ar­beit­neh­mer, d.h. er war der Mei­nung, die vom Ar­beits­ge­richt Pas­sau in Aus­sicht ge­nom­me­ne Ab­wei­sung der Kla­ge sei eu­ro­pa­recht­lich in Ord­nung.

Maßstab der ju­ris­ti­schen Über­le­gun­gen des EuGH ist Art.7 Abs. 1 der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 04.11.2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (Ar­beits­zeit-Richt­li­nie). Nach die­ser Vor­schrift ha­ben die EU-Mit­glieds­staa­ten dafür zu sor­gen, dass al­le Ar­beit­neh­mer ei­nen be­zahl­ten Min­dest­jah­res­ur­laub von vier Wo­chen pro Jahr ha­ben. Und die­ser Min­des­t­ur­laubs­an­spruch wird ja im Fal­le ei­ner Kurz­ar­beit Null auf null Ur­laubs­ta­ge ver­rin­gert, d.h. im Er­geb­nis ge­stri­chen.

An die­ser Stel­le un­ter­schei­det der EuGH zwi­schen ei­nem Wech­sel von Voll­zeit in Teil­zeit und der ganz an­de­ren Fra­ge, wie viel Ur­laub ein Ar­beit­neh­mer während ei­ner Teil­zeit­ar­beit neu er­wirbt.

In der ers­ten Fall­kon­stel­la­ti­on (Wech­sel von Voll­zeit in Teil­zeit) hat der Ar­beit­neh­mer be­reits ei­nen Ur­laubs­an­spruch in ei­nem be­stimm­ten (ho­hen) Um­fang er­wor­ben, der ihm später durch die Ver­rin­ge­rung sei­ner Ar­beits­zeit nicht wie­der ge­nom­men wer­den kann.

Da­ge­gen ist es zulässig, dass Ar­beit­neh­mer während ei­ner lau­fen­den Teil­zeit­ar­beit we­ni­ger Ur­laubs­ta­ge er­wer­ben als voll­zei­tig ar­bei­ten­de Ar­beit­neh­mer, denn für die­sen Un­ter­schied gibt es ei­nen sach­li­chen Grund - eben die Teil­zeit­ar­beit.

Auf den Fall des Ar­beits­ge­richts Pas­sau an­ge­wandt kommt der EuGH da­her zu dem Er­geb­nis, dass Art.7 Abs. 1 Ar­beits­zeit-Richt­li­nie es nicht ver­bie­tet, Ar­beit­neh­mern während ei­ner Kurz­ar­beit Null Ur­laubs­ansprüche zu ver­wei­gern bzw. die­se Ur­laubs­ansprüche zeit­an­tei­lig mit "null Ta­gen" zu be­rech­nen.

Ergänzend meint der EuGH, dass die La­ge von lang­fris­tig er­krank­ten Ar­beit­neh­mern und Ar­beit­neh­mern in Kurz­ar­beit "grund­le­gend ver­schie­den" sei­en. Denn während ei­ner Kurz­ar­beit Null kann man sich, so der EuGH, aus­ru­hen oder Frei­zeittätig­kei­ten nach­ge­hen. Da man un­ter kei­nen krank­heits­be­ding­ten Be­schwer­den lei­det, be­fin­det man sich in ei­ner an­de­ren La­ge als bei ei­ner krank­heits­be­ding­ten Ar­beits­unfähig­keit.

Fa­zit: Der EuGH hat mit die­ser Ent­schei­dung zu­recht deut­lich ge­macht, dass nicht je­de Ein­buße an Ur­laub eu­ro­pa­rechts­wid­rig ist, wenn sie im Er­geb­nis zu ei­nem Jah­res­ur­laub von we­ni­ger als vier Wo­chen führt. Die­sen Min­des­t­ur­laub ver­tei­digt der EuGH nur dann "mit Zähnen und Klau­en", wenn ei­ne Er­kran­kung die Ur­sa­che für ei­ne Ur­laubskürzung ist. Das ist bei Kurz­ar­beit nicht der Fall.

Außer­dem hat der Ge­richts­hof er­neut dar­auf hin­ge­wie­sen, dass ein ein­mal er­wor­be­ner Ur­laubs­an­spruch durch ei­nen späte­ren Wech­sel von Voll­zeit in Teil­zeit nicht weg­ge­stri­chen bzw. re­du­ziert wer­den darf. Da­her ist zu er­war­ten, dass der EuGH ei­nen hier­zu er­gan­ge­nen ak­tu­el­len Vor­la­ge­be­schluss des Ar­beits­ge­richts Nien­burg im Sin­ne des vor­le­gen­den Ge­richts bzw. pro Ar­beit­neh­mer ent­schei­den wird (Ar­beits­ge­richt Nien­burg, Be­schluss vom 04.09.2012, 2 Ca 257/12 Ö - wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 12/350 Höhe des Ur­laubs­an­spruchs beim Wech­sel von Voll- in Teil­zeit).

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Letzte Überarbeitung: 10. Juni 2020

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