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ARBEITSRECHT AKTUELL // 11/026

Kei­ne frist­lo­se Kün­di­gung we­gen Ba­ga­tell­dieb­stahls

Kran­ken­pfle­ge­hel­fer wehrt sich ge­gen frist­lo­se Kün­di­gung we­gen Ver­zehrs von Pa­ti­en­ten­es­sen (Piz­za, Gu­lasch): Lan­des­ar­beits­ge­richt Schles­wig-Hol­stein, Ur­teil vom 29.09.2010, 3 Sa 233/10
Private Putzfrau Ver­zehr ei­nes üb­rig ge­blie­be­nen Es­sens als Kün­di­gungs­grund?
07.02.2011. Will der Ar­beit­ge­ber frist­los kün­di­gen, d.h. oh­ne Be­ach­tung der re­gu­lä­ren Kün­di­gungs­fris­ten, braucht er ge­mäß § 626 Abs. 1 Bür­ger­li­ches Ge­setz­buch (BGB) ei­nen "wich­ti­gen Grund". Ein sol­cher Grund liegt im All­ge­mei­nen vor, wenn der Ar­beit­neh­mer sei­ne Pflich­ten so mas­siv ver­letzt, dass ei­nem nor­ma­len Ar­beit­ge­ber das Ab­war­ten der Kün­di­gungs­frist nicht zu­zu­mu­ten ist.

Seit dem Ur­teil des BAG im Fall "Em­me­ly (Ur­teil vom 10.06.2010, 2 AZR 541/09) be­ach­ten die Ar­beits- und Lan­des­ar­beits­ge­rich­te stär­ker als bis­her, dass auch ein sehr mas­si­ver Pflicht­ver­stoß des Ar­beit­neh­mers ei­ne frist­lo­sen Kün­di­gung nicht im­mer recht­fer­tigt. Dies be­stä­tigt ein Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts (LAG) Schles­wig-Hol­stein vom 29.09.2010 (3 Sa 233/10).

Frist­lo­se Kündi­gung we­gen Ba­ga­tell­dieb­stahls - im Prin­zip möglich, im Ein­zel­fall bei lan­ger Beschäfti­gungs­dau­er un­verhält­nismäßig

Will der Ar­beit­ge­ber den Ar­beit­neh­mer außer­or­dent­lich frist­los kündi­gen, d.h. oh­ne Be­ach­tung der re­gulären Kündi­gungs­fris­ten, braucht er gemäß § 626 Abs. 1 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (BGB) ei­nen "wich­ti­gen Grund".

Ein wich­ti­ger Grund liegt im All­ge­mei­nen vor, wenn der Ar­beit­neh­mer sei­ne Pflich­ten so mas­siv ver­letzt, dass ei­nem Ar­beit­ge­ber das Ab­war­ten der Kündi­gungs­frist nor­ma­ler­wei­se nicht zu­zu­mu­ten ist. Das ist nach der Recht­spre­chung im Re­gel­fall an­zu­neh­men, wenn der Ar­beit­neh­mer ei­nen Dieb­stahl, ei­nen Be­trug oder ein an­de­res Vermögens­de­likt wie z.B. ei­ne Un­ter­schla­gung zu­las­ten des Ar­beit­ge­bers be­geht.

Auf den Wert der ge­stoh­le­nen bzw. un­ter­schla­ge­nen Sa­che kommt es da­bei im Prin­zip erst ein­mal nicht an. Da­her kann auch ein sog Ba­ga­tell­dieb­stahl den Ar­beit­ge­ber zu ei­ner frist­lo­sen Kündi­gung be­rech­ti­gen.

Die An­wen­dung die­ser Rechts­grundsätze hat sich al­ler­dings seit dem Ur­teil des BAG in dem Fall der Ber­li­ner Kas­sie­re­rin Bar­ba­ra („Em­me­ly“) Em­me er­heb­lich geändert.

Seit die­sem Ur­teil (BAG, Ur­teil vom 10.06.2010, 2 AZR 541/09 - wir be­rich­te­ten über den Fall lau­fend, zu­letzt in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 10/136 Em­me­ly ar­bei­tet wie­der als Kas­sie­re­rin) be­ach­ten die Ar­beits- und Lan­des­ar­beits­ge­rich­te stärker als bis­her, dass ein im All­ge­mei­nen bzw. „an sich“ zur frist­lo­sen Kündi­gung aus­rei­chen­der Pflicht­ver­s­toß des Ar­beit­neh­mers ei­ne sol­che har­te Re­ak­ti­on des Ar­beit­ge­bers noch lan­ge nicht recht­fer­tigt.

Da­zu müssen viel­mehr die bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen im Ein­zel­fall sorgfältig und "er­geb­nis­of­fen" ge­gen­ein­an­der ab­ge­wo­gen wer­den. Die In­ter­es­sen­abwägung und da­mit der Streit um die Wirk­sam­keit der Kündi­gung können da­her auch zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers aus­ge­hen, wenn das Ar­beits­verhält­nis lan­ge be­stan­den hat, wenn der Ar­beit­neh­mer bis­lang kei­ne ein­schlägi­gen Ver­feh­lun­gen be­gan­gen, wenn die der Kündi­gung zu­grun­de­lie­gen­de Ver­feh­lung den Cha­rak­ter ei­nes "ein­ma­li­gen Aus­rut­schers" hat und/oder wenn der Ar­beit­neh­mer den von ihm be­gan­ge­nen Pflicht­ver­s­toß ehr­lich zu­ge­ge­ben hat.

Die­se Umstände des Ein­zel­falls können bei der In­ter­es­sen­abwägung ent­schei­dend zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers spre­chen und die Kündi­gung da­mit im Er­geb­nis zu Fall brin­gen.

Vie­le ak­tu­el­le Ur­tei­le zei­gen, dass die Recht­spre­chung die In­ter­es­sen­abwägung in letz­ter Zeit un­ter dem Ein­druck der Em­me­ly-Ent­schei­dung des BAG erns­ter nimmt als früher. Ba­ga­tellkündi­gungsfälle wer­den da­her öfter als früher zu­guns­ten des gekündig­ten Ar­beit­neh­mers ent­schie­den. Dies bestätigt ei­ne ak­tu­el­le Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts (LAG) Schles­wig-Hol­stein (Ur­teil vom 29.09.2010, 3 Sa 233/10).

Der Fall des Lan­des­ar­beits­ge­richts Schles­wig-Hol­stein: Al­ten­pfle­ger be­dient sich an­geb­lich an Pa­ti­en­ten­es­sen (Piz­za und Gu­lasch)

Der 1954 ge­bo­re­ne Kran­ken­pfle­ge­hel­fer war seit 1991 bei dem be­klag­ten Kran­ken­haus­be­trei­ber beschäftigt. Er war ver­hei­ra­tet und muss­te mit sei­nem Mo­nats­lohn von 2.700,00 EUR brut­to für sei­ne zwei Kin­der, ein Pfle­ge­kind und sei­ne Ehe­frau sor­gen. Er­schwert wird die­se so­zia­le La­ge des Pfle­ge­hel­fer da­durch, dass sei­ne Frau schwer krank und be­hin­dert mit ei­nem Grad der Be­hin­de­rung von 100 ist. Auf­grund der An­wend­bar­keit der Ta­rif­verträge für den öffent­li­chen Dienst war der Ar­beit­neh­mer or­dent­lich unkünd­bar. Ab­ge­mahnt wor­den war er bis­lang nie.

Der Kran­ken­haus­be­trei­ber warf dem Pfle­ge­hel­fer vor, von übrig ge­blie­be­nem Pa­ti­en­ten­gu­lasch ge­ges­sen zu ha­ben. Darüber hin­aus soll er ei­ne Stück Pa­ti­en­ten­piz­za ver­zehrt ha­ben. Ein wei­te­rer Vor­wurf lau­tet, dass er Pa­ti­en­ten ge­duzt und mit Aus­drücken wie „Dumm­batz“ und „Schwach­mat“ be­schimpft ha­ben soll. Auf­grund all des­sen erklärte der Ar­beit­ge­ber die außer­or­dent­li­che Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses.

Der Kläger ver­wahr­te sich ge­gen die­se Vorwürfe und er­hob vor dem Ar­beits­ge­richt Lübeck Kündi­gungs­schutz­kla­ge. Das Ar­beits­ge­richt gab der Kla­ge statt (Ur­teil vom 11.05.2010, 3 Ca 464/10).

Lan­des­ar­beits­ge­richt Schles­wig-Hol­stein: Außer­or­dent­li­che frist­lo­se Kündi­gung un­wirk­sam

Auch das LAG ent­schied zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers und wies da­her die Be­ru­fung des Ar­beit­ge­bers zurück. Zur Be­gründung heißt es, dass ei­ne Ab­mah­nung als mil­de­res Mit­tel aus­rei­chend ge­we­sen wäre, und zwar auch dann, wenn die strei­ti­gen Vorwürfe zu­tref­fen soll­ten. Da­bei be­ruft sich das LAG aus­drück­lich auf die Em­me­ly-Ent­schei­dung des BAG (Ur­teil vom 10.06.2010, 2 AZR 541/09).

Wie der Hin­weis auf die Em­me­ly-Ent­schei­dung des BAG er­war­ten lässt, weicht die Ur­teils­be­gründung des LAG von der bis­her übli­chen Recht­spre­chung in Ba­ga­tellkündi­gungsfällen ab:

An­ders als die bis­he­ri­ge Recht­spre­chung, die bei Ba­ga­tell­de­lik­ten dem Ar­beit­ge­ber meist ei­nen nicht mehr zu re­pa­rie­ren­den Ver­trau­ens­ver­lust zu­ge­stand und mit die­ser Über­le­gung die strei­ti­ge Kündi­gung letzt­lich ab­seg­ne­te, be­tont das LAG Schles­wig-Hol­stein zu­recht, dass der Ar­beit­ge­ber auch bei Ei­gen­tums- oder Vermögens­de­lik­ten erst ein­mal ei­ne Ab­mah­nung in Be­tracht zie­hen muss. Denn in vie­len Fällen wird ei­ne sol­che Re­ak­ti­on aus­rei­chend sein, um die ein­ge­tre­te­ne Ver­trau­ensstörung zu be­sei­ti­gen.

So lag es nach An­sicht des LAG auch hier im Streit­fall. Denn die „Diebstähle“ des Pfle­ge­hel­fers be­zo­gen sich auf na­he­zu wert­lo­se Ge­genstände (Piz­za­ecke, Gu­lasch­rest), und zu­dem war das Ar­beits­verhält­nis bis­lang über 19 Jah­re lang oh­ne Be­an­stan­dun­gen ver­lau­fen. Als nicht nach­voll­zieh­bar weist das Ge­richt zu­recht den Vor­wurf des Ar­beit­ge­bers zurück, der Ar­beit­neh­mer hätte die be­son­de­re Schutzwürdig­keit der ihm an­ver­trau­ten Pa­ti­en­ten aus­ge­nutzt und „kalt­blütig“ ge­han­delt. Sch­ließlich konn­ten auch die - an­geb­li­chen - be­lei­di­gen­den Äußerun­gen des Pfle­ge­hel­fers das Feh­len ei­ner Ab­mah­nung nicht wett­ma­chen, so das LAG.

Fa­zit: Ar­beit­ge­ber, die auf­grund ei­nes (an­geb­li­chen) Ba­ga­tell­de­lik­tes frist­los kündi­gen wol­len, brau­chen für ei­ne sol­che har­te Re­ak­ti­on sehr trif­ti­ge Gründe. Je­den­falls dann, wenn das Ar­beits­verhält­nis lan­ge Zeit oh­ne Be­an­stan­dun­gen be­stan­den hat, genügen ein­ma­li­ge Aus­rut­scher im Be­reich der Ba­ga­tell­de­lik­te nicht, um ei­nen to­ta­len Ver­trau­ens­ver­lust her­bei­zuführen.

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Letzte Überarbeitung: 24. August 2016

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