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Tarifeinheit, Grundsatz der Tarifeinheit
Lesen Sie hier, was der Grundsatz der Tarifeinheit besagt, aus welchen Gründen das Bundesarbeitsgericht (BAG) ihn im Jahre 2010 aufgegeben hat und warum die Koalitionsfreiheit kleiner Berufsgruppengewerkschaften (Art.9 Abs.3 Grundgesetz - GG) gegen den Grundsatz der Tarifeinheit spricht.
Außerdem finden Sie Informationen dazu, warum der Gesetzgeber den umstrittenen Einheitsgrundsatz nach langer Diskussion mit Wirkung zum 10.07.2015 durch das Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) erneut eingeführt hat, und zwar durch die Einfügung eines neuen § 4a in das Tarifvertragsgesetz (TVG).
von Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Berlin
- Wie kommt es zur Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb?
- Was besagte der Grundsatz der Tarifeinheit nach der alten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bis 2010?
- Wann hat das Bundesarbeitsgericht den Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben und warum?
- Welche Auswirkungen hat der Grundsatz der Tarifeinheit auf das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften?
- Kann der Grundsatz der Tarifeinheit mit praktischen Problemen bei der Tarifanwendung gerechtfertigt werden?
- Stärkt der Grundsatz der Tarifeinheit die Solidarität unter den Arbeitnehmern?
- Verhindert der Grundsatz der Tarifeinheit zu häufige Streiks kleiner Gewerkschaften?
- Muss der Staat etwas gegen Dauer-Tarifverhandlungen und Dauer-Streiks kleiner Gewerkschaften unternehmen?
- Muss der Staat Streiks kleiner Funktionseliten in Verkehrs- und Versorgungsbetrieben beschränken?
- Wären Einschränkungen der Streikfreiheit kleiner Gewerkschaften verfassungsgemäß?
- Wer forderte in den Jahren 2011 bis 2015 eine gesetzliche Festschreibung des Grundsatzes der Tarifeinheit?
- Was besagt der Grundsatz der Tarifeinheit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG?
- Wozu sagt der Grundsatz der Tarifeinheit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG nichts?
- Welche verfassungsrechtlichen Argumente sprechen gegen den Grundsatz der Tarifeinheit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG?
- Wie hat das BVerfG über die Verfassungsbeschwerden entschieden, die von kleineren Gewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz angestrengt wurden?
- Wie wird der vom Verfassungsgericht geforderte Schutz von Minderheitengewerkschaften bei der Tarifeinheit umgesetzt?
- Wo finden Sie mehr zum Thema Tarifeinheit, Grundsatz der Tarifeinheit?
- Was können wir für Sie tun?
Wie kommt es zur Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb?
Tarifverträge gelten unmittelbar und zwingend für die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien (§ 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz - TVG).
Arbeitgeber können aus zwei Gründen an einen Tarifvertrag gebunden sein:
- Entweder sind sie selbst Partei eines Haustarifvertrags (Firmentarifvertrags), den sie als Vertragspartei beachten müssen.
- Oder sie sind Mitglied eines Arbeitgeberverbandes, der seinerseits einen Verbandstarifvertrag vereinbart hat, an den der Arbeitgeber aufgrund seiner Verbandsmitgliedschaft gebunden ist.
In beiden Fällen müssen Arbeitgeber die Tarifverträge, an die sie gebunden sind, zugunsten der ihrerseits tarifgebundene Arbeitnehmer anwenden.
Arbeitnehmer wiederum sind tarifgebunden, wenn sie gewerkschaftlich organisiert sind, d.h. (genauer gesagt) wenn sie Mitglieder Gewerkschaft sind, die einen Tarifvertrag entweder mit dem Arbeitgeber (= Haustarif, Firmentarif) oder mit dem Arbeitgeberverband abgeschlossen hat.
Da Arbeitgeber oft an die Tarifverträge mehrerer Gewerkschaften gebunden sind, und weil die Arbeitnehmer größerer Betriebe mit großer Wahrscheinlichkeit in verschiedenen Gewerkschaften organisiert sind, kann § 4 Abs.1 TVG dazu führen, dass in einem Betrieb für verschiedene Arbeitsverhältnisse bzw. verschiedene Arbeitnehmer(gruppen) verschiedene Tarifverträge gelten.
Was besagte der Grundsatz der Tarifeinheit nach der alten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bis 2010?
Die oben beschriebene Tarifpluralität führt für Arbeitgeber zu einem organisatorischen Mehraufwand, verglichen mit der eher einfachen Situation, in der die Personalverwaltung nur die Tarifverträge einer Gewerkschaft anwenden muss.
Um die Arbeitgeber hier zu entlasten, wandte das Bundesarbeitsgericht (BAG) lange Jahre das Prinzip der Tarifeinheit an. Diesem Prinzip zufolge sollte nur ein Tarifvertrag für alle Arbeitnehmergruppen eines Betriebs angewandt werden, auch wenn diese in verschiedenen Gewerkschaften organisiert waren.
Die Frage, welcher Tarifvertrag diese herausgehobene Rolle spielen sollte, wurde beantwortet, indem man sich den Tarifvertrag heraussuchte, der dem Betrieb räumlich, fachlich und persönlich am nächsten stand und daher den Eigenarten des Betriebs am besten gerecht wurde. Daher verdrängte der „sachnähere“ Tarifvertrag alle anderen.
Und da die großen, im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vertretenen Gewerkschaften aufgrund ihrer vielen Mitglieder und ihrer jahrzehntelangen erfolgreichen Tarifpraxis praktisch immer solche „sachnähere“ Tarifverträge vorweisen konnten, mussten es die kleineren Gewerkschaften hinnehmen, dass ihre Tarifverträge nicht angewandt wurden.
Das Prinzip der Tarifeinheit führte daher im Ergebnis dazu, dass die von kleineren Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträge weitgehend rechtlich wirkungslos blieben, obwohl § 4 Abs.1 TVG vorschreibt, dass die Tarifverträge für die beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien unmittelbar und zwingend gelten.
Wann hat das Bundesarbeitsgericht den Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben und warum?
Der Grundsatz der Tarifeinheit ist nicht nur schlecht mit § 4 Abs.1 TVG zu vereinbaren, sondern passt ebenso schlecht zu dem Koalitionsgrundrecht von Gewerkschaften und gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern, d.h. zu Art.9 Abs.3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG).
Nach diesem Verfassungsartikel ist das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, d.h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) beinhaltet dieses Grundrecht vor allem
- die Freiheit der Bildung und der Betätigung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden,
- die Freiheit des Aushandelns von Tarifverträgen, und
- die Freiheit des Arbeitskampfes, d.h. auf Seiten der Gewerkschaften das Streikrecht.
Wenn spezialisierte kleine Gewerkschaften damit rechnen müssen, dass die von ihren ausgehandelten (und notfalls erstreikten) Tarifverträge in der Ablage landen, ist die Mitgliedschaft in einer solchen Gewerkschaft für Arbeitnehmer uninteressant. Außerdem werden sie von der Arbeitgeberseite nicht ernst genommen.
Diese rechtliche Ungleichbehandlung benachteiligt kleinere Gewerkschaften gegenüber den großen bei der Mitgliederwerbung und beim Aushandeln von Tarifverträgen und schränkt daher die Koalitionsfreiheit der kleineren Gewerkschaften ein. Da diese Grundrechtseinschränkung kaum durch überwiegende triftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt ist, liegt eine Grundrechtsverletzung vor. Der Grundsatz der Tarifeinheit wurde daher von vielen arbeitsrechtlichen Autoren als verfassungsrechtlich unzulässig kritisiert.
In zwei Entscheidungen aus dem Jahre 2010 ist das BAG dieser Kritik gefolgt und hat den Grundsatz der Tarifeinheit offiziell aufgegeben (BAG, Beschluss vom 27.01.2010, 4 AZR 549/08 (A), und BAG, Beschluss vom 23.06.2010, 10 AS 3/10 -wir berichteten darüber in: Arbeitsrecht aktuell: 10/134 Abschied vom Grundsatz der Tarifeinheit).
Welche Auswirkungen hat der Grundsatz der Tarifeinheit auf das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften?
Gar keine. Streiks sind nämlich wie erwähnt vom Koalitionsgrundrecht (Art.9 Abs.3 GG) abgedeckt, d.h. das Streiken ist eine Betätigung dieses Grundrechts mit dem Ziel, einen Tarifvertrag abzuschließen.
Demgegenüber ist der Grundsatz der Tarifeinheit eine rechtliche Regel, die bestimmt, welcher von verschiedenen, gleichermaßen für den Arbeitgeber verbindlichen Tarifverträgen auf ein Arbeitsverhältnis im Ergebnis Anwendung finden soll.
Damit es aber überhaupt zu verschiedenen, für einen Arbeitgeber gleichermaßen verbindlichen Tarifverträgen kommt, müssen auch die kleineren Gewerkschaften zunächst einmal streiken dürfen mit dem Ziel, die Arbeitgeberseite zum Tarifabschluss zu bringen. Denn ohne das Recht zum Streik sind Tarifverhandlungen, so das BAG in ständiger Rechtsprechung, nicht viel mehr als "kollektives Betteln".
Im Wesentlichen ist ein Streik nach der Rechtsprechung rechtmäßig, wenn er als Mittel zum Zweck einer tarifvertraglichen Einigung eingesetzt wird. Dazu müssen Streiks
- von einer Gewerkschaft organisiert ("getragen") sein (da auf Arbeitnehmerseite nur Gewerkschaften Tarifverträge abschließen können),
- den Abschluss eines (rechtliche zulässigen) Tarifvertrags zum Ziel haben, und
- die Friedenspflicht beachten, d.h. das Streikverbot, das sich aus der Geltung noch laufender Tarifverträge ergibt.
Nähere Informationen hierzu finden Sie in unserem Handbuch zum Arbeitsrecht unter "Streik und Streikrecht".
Demzufolge hatte die Änderung der BAG-Rechtsprechung im Jahre 2010, d.h. die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit, keine Auswirkungen auf das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften. Sie durften bereits vor dieser Änderung der Rechtsprechung für ihre Tarifverträge streiken und sie dürfen es auch heute noch.
Kann der Grundsatz der Tarifeinheit mit praktischen Problemen bei der Tarifanwendung gerechtfertigt werden?
In der politischen Diskussion von 2010 bis 2015 wurde die Beibehaltung bzw. gesetzliche Wieder-Einführung des Grundsatzes der Tarifeinheit oft mit einem praktischen Argument gerechtfertigt:
Das Nebeneinander verschiedener Tarifverträge führt, so heißt es, zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten bei der Tarifanwendung durch die Arbeitgeber, insbesondere dann, wenn Arbeitnehmer die Gewerkschaft wechseln. Dieses Argument wird von Arbeitgebern vorgebracht.
Dagegen kann man einwenden, dass die Anwendung verschiedener Tarifverträge durch ein und denselben Arbeitgeber bereits seit einigen Jahren funktioniert, insbesondere in Krankenhäusern, die nebeneinander die Tarifverträge der ver.di und der Ärztegewerkschaft Marburger Bund durchführen müssen.
Stärkt der Grundsatz der Tarifeinheit die Solidarität unter den Arbeitnehmern?
Ein weiteres Argument pro Grundsatz der Tarifeinheit wird vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und seinen Mitgliedsgewerkschaften vorgebracht. Es lautet:
Die Tarifverträge kleinerer Berufsgruppengewerkschaften sind Ergebnis einer unsolidarischen Sonderwirtschaft. Besser wäre es, wenn möglichst alle Arbeitnehmer in den etablierten, nach Branchen statt nach Berufsgruppen organisierten Gewerkschaften des DGB organisiert wären.
Dagegen wäre zu sagen, dass gut qualifizierte Berufsgruppen wie zum Beispiel Ärzte oder Journalisten mit ihren besonderen Anliegen in mitgliederstarken DGB-Gewerkschaften kaum gehört werden. Außerdem wird man das Rad der Geschichte kaum zurückdrehen können. Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) oder die Pilotenvereinigung Cockpit werden weiterhin ihre eigene Tarifpolitik betreiben.
Verhindert der Grundsatz der Tarifeinheit zu häufige Streiks kleiner Gewerkschaften?
Schließlich wird der Grundsatz der Tarifeinheit in der politischen Diskussion oft in Zusammenhang mit Streiks kleiner Gewerkschaften gebracht. Dieses Argument lautet:
Das Nebeneinander von Tarifverträgen großer DGB-Gewerkschaften und kleiner Berufsgruppengewerkschaften führt zu dazu, dass dauernd irgendeine Gewerkschaft Forderungen erhebt und notfalls streikt. Ohne den Grundsatz der Tarifeinheit wird im Ergebnis zu oft gestreikt. Das ist die Meinung mancher Politiker, insbesondere aus den Reihen der SPD.
Dieses Argument ist allerdings von vornherein nicht schlüssig. Denn wie erwähnt, beschränkt der Grundsatz der Tarifeinheit als solcher nicht das Streikreicht kleinerer Gewerkschaften, sondern führt "nur" dazu, dass deren (erstreikte) Tarifverträge nicht anwendet werden.
Außerdem lässt sich bislang nicht belegen, dass die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG im Jahre 2010 faktisch zu vermehrten Streiks geführt hätte. Zu diesem Ergebnis kommt eine 2011 vorgestellte wissenschaftliche Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), die im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi) die Auswirkungen untersuchte, die die Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen hat. Das Fazit dieser Studie lautet (S.33):
„Es lässt sich ... festhalten, dass das BAG-Urteil bisher keine messbaren Spuren bei den Streikaktivitäten hinterlassen hat. Von einem starken Handlungsdruck seitens des Gesetzgebers in dem Sinne, dass nur eine rasche gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit einen starken Anstieg der Arbeitskampfaktivitäten würde verhindern können, kann somit eigentlich kaum eine Rede sein.“
Muss der Staat etwas gegen Dauer-Tarifverhandlungen und Dauer-Streiks kleiner Gewerkschaften unternehmen?
Wenn "kleine" Berufsgruppen wie die Lokführer, Piloten, Fluglotsen oder Krankenhausärzte streiken, können manche Politiker und Journalisten der Versuchung nicht widerstehen, eine Beschränkung des Streikrecht kleinerer Gewerkschaften zu fordern. Begründet wird diese Forderung mit folgendem Argument:
Die Aufspaltung der Arbeitnehmerseite in viele verschiedene Berufsgruppengewerkschaften kann dazu führen, dass andauernd gestreikt wird: Müsste die Lufthansa nur mit der ver.di verhandeln, gäbe es alle zwei oder drei Jahre Tarifrunden mit einer verhandlungserfahrenen, "seriösen" DGB-Gewerkschaft, und in der Zeit dazwischen herrschte Ruhe. Statt dessen streikt einmal das Boden- und Verwaltungspersonal, dann streiken die Piloten, dann die Stewardessen usw.
Dieses Argument ist aber wenig plausibel, denn kleine Gewerkschaften müssen ebenso wie große zusehen, dass sie mit ihren Forderungen ihre Mitglieder mobilisieren und die öffentliche Meinung für sich gewinnen können.
Zu weitgehende Forderungen und/oder eine zu kompromisslose Haltung in Tarifverhandlungen stoßen bald auf Unverständnis bei Mitgliedern und in der Öffentlichkeit. Keine Gewerkschaft kann es sich erlauben, länger zu streiken als nötig, und unrealistische Forderungen führen auf die Dauer zu tarifpolitischen Misserfolgen und letztlich zu Mitgliederschwund.
Muss der Staat Streiks kleiner Funktionseliten in Verkehrs- und Versorgungsbetrieben beschränken?
Ein weiteres Argument, mit dem eine Begrenzung des Streikrechts kleiner Spartengewerkschaften begründet wird, lautet:
Streiks kleiner Funktionseliten haben negative Auswirkungen für eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Personen, die am Arbeitskampf nicht beteiligt sind. Das betrifft vor allem Streiks im öffentlichen Nah- und Flugverkehr: Wenn einige wenige Lokführer, Piloten oder Fluglotsen streiken, richten die Streikenden Schäden nicht nur bei dem bestreikten Arbeitgeber an, sondern auch bei der Allgemeinheit.
Dieses Argument ist zwar prinzipiell richtig, darf aber nicht überbewertet werden. Denn Streiks sind in Deutschland selten, und wenn es einmal zu Streiks kommt, dauern sie meist nur wenige Tage. Die typische Streikform in Deutschland ist der Warnstreik, d.h. das kurze Muskelspiel der Gewerkschaften.
In Frankreich, England oder Italien ist das anders. Dort fallen nicht nur insgesamt pro Jahr und Arbeitnehmer mehr Arbeitsstunden als in Deutschland aufgrund von Streiks aus, sondern auch die Verbissenheit, mit der gestreikt wird, ist größer: Müllwerker in Frankreich streiken notfalls wochenlang, was in Deutschland undenkbar wäre.
Abgesehen davon belasten Streiks gegen Unternehmen der "Daseinsvorsorge" die Allgemeinheit nicht dadurch stärker, dass sie von kleinen statt von großen Gewerkschaften geführt werden. Ob die "große" DGB-Gewerkschaft ver.di die Busfahrer zum Streik aufruft oder die "kleine" Lokführergewerkschaft GDL die Lokführer: Für die am Streik nicht beteiligten Fahrgäste sind die negativen Effekte dieselben.
Natürlich sind Streiks von Busfahrern, Lokführern, Piloten oder Fluglotsen lästig für alle diejenigen, die gerade auf die bestreikten Verkehrsmittel angewiesen sind. Das heißt aber noch lange nicht, dass solche Streiks mit kriminellen Machenschaften verglichen werden könnten, wie es das Gerede von der „Geiselhaft“ suggeriert, in die die Streikenden angeblich die Allgemeinheit nehmen würden.
Der im März 2012 unter dem Eindruck des Fluglotsenstreiks erstellte, von den Jura-Professoren Franzen, Thüsing und Waldhoff vorgelegte Gesetzesentwurf zum „Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge“ (vom 19.03.2012) wird daher eine Außenseitermeinung bleiben.
Wären Einschränkungen der Streikfreiheit kleiner Gewerkschaften verfassungsgemäß?
Nein, solche Einschränkungen wären verfassungswidrig, weil sie das durch Art.9 Abs.3 Satz 1 GG garantierte Streikrecht der von solchen Einschränkungen betroffenen kleinen Gewerkschaften verletzen würden.
Der Staat ist zwar nicht daran gehindert, den Streik gesetzlich zu regeln und in einem Streikgesetz zum Beispiel eine obligatorische Schlichtungsphase vorzusehen. Auch spricht nichts dagegen, die bislang nur in Form von Gerichtsurteilen existierenden rechtlichen Regeln des Arbeitskampfes in einem Gesetz zusammenzufassen und die bisherige Rechtsprechung dabei in bestimmten Einzelheiten zu korrigieren.
Ein solches Streikgesetz müsste aber einheitlich für alle Gewerkschaften gelten und dürfte sich nicht gezielt gegen "kleine" Sparten- bzw. Berufsgruppengewerkschaften richten.
So wäre es zum Beispiel verfassungswidrig, den DGB-Gewerkschaften Streiks (wie bisher) auch dann ohne Einschränkungen zu erlauben, wenn sich diese gegen Unternehmen der "Daseinsvorsorge" richten (d.h. gegen Verkehrsunternehmen, Krankenhäuser, Energieversorger, Schulen), kleineren Gewerkschaften solche Streiks aber zu untersagen.
Wer forderte in den Jahren 2011 bis 2015 eine gesetzliche Festschreibung des Grundsatzes der Tarifeinheit?
Als Reaktion auf die o.g. Kehrtwende des BAG beim Thema Tarifeinheit im Jahre 2010 machten der DGB und die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) vorübergehend gemeinsame Sache. Sie schlugen nämlich in einem gemeinsam verfassten politischen Positionspapier vor, den Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich festzuschreiben.
Diese Vorschläge gingen über die bisherige BAG-Rechtsprechung hinaus, d.h. sie wollten die Rechte kleinerer Gewerkschaften noch stärker beschränken als das BAG in seiner alten Rechtsprechung (BDA, DGB: Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern - Tarifeinheit gesetzlich regeln). Nachdem diese Antistreikpolitik der DGB-Gewerkschaften in ihren eigenen Reihen auf Kritik stieß, ließ der DGB das Projekt Mitte 2011 fallen (wir berichteten in: Arbeitsrecht aktuell: 11/114 BDA-DGB-Gesetzesinitiative zur Tarifeinheit beendet).
Kaum hatte der DGB zurückgerudert, preschte die SPD vor und nahm den Streik der Vorfeld-Mitarbeiter des Frankfurter Flughafens zum Anlass, Anfang März 2012 eine gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit zu fordern.
Eine kurz darauf abgehaltene Aussprache im Deutschen Bundestag machte allerdings deutlich, dass die SPD mit dieser Forderung politisch ziemlich allein dasteht. Denn alle anderen Fraktionen signalisierten, dass sie der SPD in dieser Frage nicht folgen würden.
Trotzdem einigten sich die CDU/CSU und die SPD in ihrem Koalitionsvertrag vom November 2013 auf das Ziel, "den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken". Zu diesem Zweck soll der Grundsatz der Tarifeinheit "nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber" gesetzlich festgeschrieben werden.
Ende Juni 2014 veröffentlichte das Arbeitsministerium sodann ein Eckpunktepapier zum Thema Tarifeinheit, das der Vorbereitung einer Gesetzesänderung dient den Koalitionsvertrag in diesem Punkt umsetzen soll. Ziel ist die Auflösung von "Tarifpluralitäten". Dazu waren folgende Regelungen vorgesehen:
Wenn die beteiligten Gewerkschaften ihre Zuständigkeiten nicht abstimmen und wenn es nicht zu inhaltsgleichen Tarifverträgen verschiedener Gewerkschaften kommt (sog. Anschlusstarifverträge), dann soll das Nebeneinander verschiedener Tarifverträge durch Anwendung des Mehrheitsprinzips aufgelöst werden, d.h. es kommt nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft zur Anwendung, die im Betrieb mehr Mitglieder hat (Mehrheitsgewerkschaft).
Dies schließt, so das Eckpunktepapier, "insoweit auch eine Erstreckung der Friedenspflicht aus dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft auf die Minderheitsgewerkschaft ein". Eine kritische Bewertung dieses Eckpunktepapiers finden Sie in Arbeitsrecht aktuell: 14/232 Eckpunkte zur Tarifeinheit und Streikrecht.
Den Schlusspunkt der Diskussion bildete der Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz), Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 29.12.2014 (Bundesrat Drucks. 635/14). In diesem Entwurf ist das Streikverbot zulasten der betrieblichen Minderheitsgewerkschaft, das im Eckpunktepapier vom Juni 2014 noch enthalten war, gestrichen (wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 15/032 Gesetzentwurf zur Tarifeinheit).
Nachdem der Bundestag dem Gesetz am 22.05.2015 zugestimmt hatte, wurde es am 03.07.2015 ausgefertigt und trat am, 10.07.2015 in Kraft.
Was besagt der Grundsatz der Tarifeinheit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG?
Die wesentliche Neuregelung des Tarifeinheitsgesetzes vom 03.07.2015 war wie erwähnt der neu in das TVG eingefügte § 4a, der zum 10.07.2015 in Kraft getreten ist. § 4a Abs.1 und Abs.2 TVG lautet:
"(1) Zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags werden Tarifkollisionen im Betrieb vermieden.
(2) Der Arbeitgeber kann nach § 3 an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden sein. Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat (Mehrheitstarifvertrag); wurden beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die Interessen von Arbeitnehmergruppen, die auch von dem nach dem ersten Halbsatz nicht anzuwendenden Tarifvertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt, sind auch die Rechtsnormen dieses Tarifvertrags anwendbar. Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, ist dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. Als Betriebe gelten auch ein Betrieb nach § 1 Absatz 1 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes und ein durch Tarifvertrag nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 bis 3 des Betriebsverfassungsgesetzes errichteter Betrieb, es sei denn, dies steht den Zielen des Absatzes 1 offensichtlich entgegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Betriebe von Tarifvertragsparteien unterschiedlichen Wirtschaftszweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet worden sind."
Im Unterschied zu der alten, 2010 aufgegebenen BAG-Rechtsprechung zur Tarifeinheit, der zufolge bei der Geltung mehrerer Tarifverträge im selben Betrieb der für den Betrieb sachnähere Tarifvertrag anzuwenden war, löst § 4a Abs.2 Satz 2 TVG die vom Gesetz so genannte "Kollision" in der Weise auf, dass der Tarifvertrag der betrieblichen Mehrheitsgewerkschaft anzuwenden ist.
Die betriebliche Mehrheitsgewerkschaft ist diejenige Gewerkschaft, die "im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder", und zwar zu dem Zeitpunkt, in dem der zuletzt abgeschlossene kollidierende Tarifvertrag vereinbart wurde.
Wozu sagt der Grundsatz der Tarifeinheit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG nichts?
In den juristischen Kommentaren zu § 4a TVG besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass diese Vorschrift keine Auswirkungen auf das Streikrecht der betrieblichen Minderheitsgewerkschaft hat, d.h. dieses Streikrecht nicht einschränkt. Auch betriebliche Minderheitsgewerkschaften dürfen streiken und mit Streiks und Streikdrohungen Tarifverträge durchsetzen, denn andernfalls gäbe es ja gar keine miteinander konkurrierenden Tarifverträge in demselben Betrieb.
Klar ist weiterhin auch, dass sich die Unanwendbarkeit der Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaft nur auf die Tarifwirkung gemäß § 4 Abs.1 TVG bezieht, d.h. auf die gesetzesgleiche ("normative") Wirkung des Tarifvertrags. Viele Arbeitnehmer können die Anwendung von Tarifverträgen aber auf einer anderen Grundlage verlangen, nämlich aufgrund einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag. Und dann gilt:
§ 4a TVG hat keine Auswirkungen auf den arbeitsvertraglichen Anspruch auf Tarifanwendung, d.h. § 4a TVG lässt das Recht der Arbeitnehmer auf Bezahlung und Behandlung (Urlaub, Arbeitszeiten usw.) nach dem Tarifvertrag, der ihnen arbeitsvertraglich zugesagt wurde, ohne Einschränkungen bestehen. Das betrifft insbesondere auch Arbeitnehmer, die infolge eines Betriebsübergangs auf einen neuen Betriebsinhaber übergeleitet wurden und die von diesem die Anwendung der Tarifverträge verlangen können, die in ihren Arbeitsverträgen in Bezug genommen werden.
Schließlich kann der Arbeitgeber nicht ohne Weiteres behaupten, dass einer der in seinem Betrieb miteinander konkurrierenden Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften von der betrieblichen Minderheitengewerkschaft vereinbart wurde. Eine Umfrage unter den Arbeitnehmern nach deren Gewerkschaftsmitgliedschaft wäre zu diesem Zweck unzulässig, da der Arbeitgeber wegen des Schutzes der Koalitionsfreiheit (Art.9 Abs.3 GG) nach Begründung des Arbeitsverhältnisses nur nach der Gewerkschaftszugehörigkeit fragen darf, wenn er einen Tarifvertrag entsprechend der normativen Wirkung des Tarifvertrags § 4 Abs.1 TVG anwenden, d.h. Nicht-Gewerkschaftsmitglieder von der Tarifanwendung ausnehmen will.
Das bedeutet praktisch gesehen: Bevor nicht das besondere arbeitsgerichtliche Feststellungsverfahren gemäß § 99 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) über den Tarifvertrag der betrieblichen Mehrheitsgewerkschaft durchgeführt und rechtskräftig abgeschlossen wurde, kann der Arbeitgeber Gewerkschaftsmitgliedern die normative Tarifanwendung gemäß § 4 Abs.1 TVG nicht verweigern, auch nicht im Falle einer Lohnklage. Fazit an dieser Stelle:
§ 4a TVG hat ohne vorausgegangenes Feststellungsverfahrens gemäß § 99 ArbGG keine Auswirkungen auf die normative Geltung des Tarifvertrags der betrieblichen Minderheitengewerkschaft.
Insgesamt ist § 4a TVG ein Papiertiger. Die Vorschrift möchte Probleme, die es in Wahrheit gar nicht gibt, "lösen" und geht daher von falschen Voraussetzungen aus.
Die beiden Hauptirrtümer der Gesetzesverfasser sind die Überschätzung der (geringen) praktischen Bedeutung der normativen Tarifwirkung sowie der naive Irrglaube, man könnte die relative betriebliche Mitgliederstärke von Gewerkschaften zu einem bestimmten in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt unschwer gerichtlich feststellen lassen. § 4a TVG ist nicht wirklich gut gemeint, aber jedenfalls schlecht gemacht.
Welche verfassungsrechtlichen Argumente sprechen gegen den Grundsatz der Tarifeinheit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG?
Zu der durch Art.9 Abs.3 Satz 1 GG geschützten gewerkschaftlichen Betätigung gehört nicht nur die Freiheit zum Abschluss von Tarifverträgen. Vielmehr gehören dazu auch rechtliche Rahmenbedingungen, die sicherstellen, dass solche Tarifverträge auf die Gewerkschaftsmitglieder angewandt werden und nicht in der Ablage landen. Immerhin haben sich deren Mitglieder in der Gewerkschaft zusammengeschlossen, was mit persönlichem Engagement und Mitgliedsbeiträgen verbunden ist, und sie haben möglicherweise sogar gestreikt und damit ihr Arbeitsverhältnis belastet, um ihre Gewerkschaft beim Abschluss des Tarifvertrags zu unterstützen.
Die Nichtanwendung legal zustande gekommener Tarifverträge kleiner, aber sozial mächtiger, streikbereiter und daher "echter" Gewerkschaften aufgrund einer rechtlichen Bevorzugung größerer Gewerkschaften schränkt die Koalitionsfreiheit der kleinen Gewerkschaften daher ein, und zwar ein einer ziemlich weitgehenden Weise. Letztlich degradiert der Grundsatz der Tarifeinheit die kleineren Gewerkschaften zu sozialpolitischen Debattierclubs.
Überwiegende Gründe des Gemeinwohls, die einen so weitgehenden Grundrechtseingriff rechtfertigen würden, sind nicht wirklich klar erkennbar. Arbeitgeber, die aufgrund abweichender Gewerkschaftszugehörigkeiten ihrer Arbeitnehmer gleichzeitig verschiedene Tarifverträge anwenden müssen, stehen dadurch zwar vor gewissen praktischen Problemen, doch sind diese Probleme nicht so erheblich, dass sie die Tarifunmündigkeit kleiner Gewerkschaften rechtfertigen könnten.
Wie hat das BVerfG über die Verfassungsbeschwerden entschieden, die von kleineren Gewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz angestrengt wurden?
Die o.g. verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Tarifeinheitsgesetz hat das BVerfG bedauerlicherweise nicht gelten lassen.
Zunächst hatte das BVerfG im Oktober 2015 die Eilanträge verschiedener Berufsgruppengewerkschaften gegen das Gesetz zurückgewiesen (Beschluss vom 06.10.2015, 1 BvR 1571/15 u.a., wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 15/292 Eilanträge gegen Tarifeinheit gescheitert).
Im Sommer 2017 kam dann die endgültige Watschen für die kleinen Gewerkschaften. Das BVerfG entschied, dass das Tarifeinheitsgesetz im Wesentlichen verfassungsgemäß ist (BVerfG, Urteil vom 11.07.2017, 1 BvR 1571/15, wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 17/187 Tarifeinheitsgesetz verfassungsgemäß). Denn der Gesetzgeber verfolgt nach Ansicht der Karlsruher Richter mit § 4a Abs.2 Satz 2 TVG ein legitimes Ziel. Dieses "Ziel" besteht in der Vereinheitlichung der Arbeitnehmerforderungen im Falle mehrerer an Tarifverhandlungen beteiligter Gewerkschaften (Urteil, Rn.153). An dieser Stelle übernimmt das Urteil ziemlich unkritisch die politische „Verkaufe“ der damaligen Arbeitsministerin Andrea Nahles:
„Zweck der angegriffenen Regelungen ist es, Anreize für ein koordiniertes und kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen zu setzen und so Tarifkollisionen zu vermeiden (vgl. BTDrucks 18/4062, S. 9). Damit will der Gesetzgeber die Ausgangsbedingungen für im Tarifvertragssystem funktionierende Tarifverhandlungen sichern, welche er spezifisch gefährdet sieht, wenn es aufgrund der Ausnutzung betrieblicher Schlüsselpositionen auf Arbeitnehmerseite zur Tarifkollision im Betrieb kommt.“ (Urteil, Rn.153)
Hat man das lösende „Problem“ aber erst einmal in einer solchen Weise beschrieben, dass die Tarifpluralität (angeblich) ein gesellschaftliches Übel sei, liegt auch die "Lösung" auf der Hand, nämlich ihre Abschaffung bzw. die Einführung des Prinzips der Tarifeinheit.
Immerhin hat das BVerfG auch geurteilt, dass der im Tarifeinheitsgesetz völlig fehlende Minderheitenschutz zugunsten der untergebutterten beruflichen Minderheitengruppen nachgeholt werden muss, wozu es dem Gesetzgeber bis Ende 2018 Zeit gab.
Wie wird der vom Verfassungsgericht geforderte Schutz von Minderheitengewerkschaften bei der Tarifeinheit umgesetzt?
Die ursprüngliche, ab dem 10.07.2015 geltende Fassung von § 4a Abs.2 Satz lautete:
"Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat."
Die aufgrund des BVerfG-Urteils ergänzte, seit dem 01.01.2019 und bis heute gültige Fassung von § 4a Abs.2 Satz lautet:
"Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat (Mehrheitstarifvertrag); wurden beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die Interessen von Arbeitnehmergruppen, die auch von dem nach dem ersten Halbsatz nicht anzuwendenden Tarifvertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt, sind auch die Rechtsnormen dieses Tarifvertrags anwendbar."
Der mit dem eingeschobenen Halbsatz umgesetzte Schutz von Minderheitengewerkschaften ist auf den ersten Blick ziemlich nebulös ("Interessen von Arbeitnehmergruppen (...) nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt"). Denn es ist unklar und wird vom Gesetz nicht weiter definiert, was man sich unter einer "ernsthaften" und "wirksamen" "Berücksichtigung" von Interessen vorstellen soll.
Allerdings ist die Pflicht der Mehrheitsgewerkschaft zur Berücksichtigung der unter den Minderheitentarif fallenden Arbeitnehmergruppen zeitlich eingegrenzt, denn die Interessenberücksichtigung muss "beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags" festzustellen sein. Damit ist es zumindest denkbar, dass diese Frage gerichtlich in einem Verfahren gemäß § 99 ArbGG geklärt wird.
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- Update Arbeitsrecht 23|2021 LAG Berlin-Brandenburg: Streiks auch ohne Vereinbarung eines Notdienstes
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- Arbeitsrecht aktuell: 07/23 Streik bei der Deutschen Bahn
- Arbeitsministerium: Eckpunkte zu einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit (26.06.2014)
- BDA, DGB: Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern - Tarifeinheit gesetzlich regeln
- Plenarprotokoll 17/164, Seite 19479: Aktuelle Stunde des Deutschen Bundestages vom 07.03.2012 zum Thema "Tarifeinheit sicherstellen - Tarifzersplitterung vermeiden"
- Franzen/Thüsing/Waldhoff: Gesetzesentwurf "Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge", vorgestellt am 19.03.2012
- RWI (2011), Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen
Letzte Überarbeitung: 26. August 2022
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