HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

HANDBUCH ARBEITSRECHT

Ta­rif­ein­heit, Grund­satz der Ta­rif­ein­heit

In­for­ma­tio­nen zum The­ma Ta­rif­ein­heit, Grund­satz der Ta­rif­ein­heit: Hen­sche Rechts­an­wäl­te, Kanz­lei für Ar­beits­recht
Fünf Arbeitnehmer

Le­sen Sie hier, was der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit be­sagt, aus wel­chen Grün­den das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) ihn im Jah­re 2010 auf­ge­ge­ben hat und war­um die Ko­ali­ti­ons­frei­heit klei­ner Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten (Art.9 Abs.3 Grund­ge­setz - GG) ge­gen den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit spricht.

Au­ßer­dem fin­den Sie In­for­ma­tio­nen da­zu, war­um der Ge­setz­ge­ber den um­strit­te­nen Ein­heits­grund­satz nach lan­ger Dis­kus­si­on mit Wir­kung zum 10.07.2015 durch das Ge­setz zur Ta­rif­ein­heit (Ta­rif­ein­heits­ge­setz) er­neut ein­ge­führt hat, und zwar durch die Ein­fü­gung ei­nes neu­en § 4a in das Ta­rif­ver­trags­ge­setz (TVG).

von Rechts­an­walt Dr. Mar­tin Hen­sche, Fach­an­walt für Ar­beits­recht, Ber­lin

Wie kommt es zur Gel­tung meh­re­rer Ta­rif­verträge in ei­nem Be­trieb?

Ta­rif­verträge gel­ten un­mit­tel­bar und zwin­gend für die ta­rif­ge­bun­de­nen Ar­beits­ver­trags­par­tei­en (§ 4 Abs.1 Ta­rif­ver­trags­ge­setz - TVG).

Ar­beit­ge­ber können aus zwei Gründen an ei­nen Ta­rif­ver­trag ge­bun­den sein:

  • Ent­we­der sind sie selbst Par­tei ei­nes Haus­ta­rif­ver­trags (Fir­men­ta­rif­ver­trags), den sie als Ver­trags­par­tei be­ach­ten müssen.
  • Oder sie sind Mit­glied ei­nes Ar­beit­ge­ber­ver­ban­des, der sei­ner­seits ei­nen Ver­bands­ta­rif­ver­trag ver­ein­bart hat, an den der Ar­beit­ge­ber auf­grund sei­ner Ver­bands­mit­glied­schaft ge­bun­den ist.

In bei­den Fällen müssen Ar­beit­ge­ber die Ta­rif­verträge, an die sie ge­bun­den sind, zu­guns­ten der ih­rer­seits ta­rif­ge­bun­de­ne Ar­beit­neh­mer an­wen­den.

Ar­beit­neh­mer wie­der­um sind ta­rif­ge­bun­den, wenn sie ge­werk­schaft­lich or­ga­ni­siert sind, d.h. (ge­nau­er ge­sagt) wenn sie Mit­glie­der Ge­werk­schaft sind, die ei­nen Ta­rif­ver­trag ent­we­der mit dem Ar­beit­ge­ber (= Haus­ta­rif, Fir­men­ta­rif) oder mit dem Ar­beit­ge­ber­ver­band ab­ge­schlos­sen hat.

Da Ar­beit­ge­ber oft an die Ta­rif­verträge meh­re­rer Ge­werk­schaf­ten ge­bun­den sind, und weil die Ar­beit­neh­mer größerer Be­trie­be mit großer Wahr­schein­lich­keit in ver­schie­de­nen Ge­werk­schaf­ten or­ga­ni­siert sind, kann § 4 Abs.1 TVG da­zu führen, dass in ei­nem Be­trieb für ver­schie­de­ne Ar­beits­verhält­nis­se bzw. ver­schie­de­ne Ar­beit­neh­mer(grup­pen) ver­schie­de­ne Ta­rif­verträge gel­ten.

Was be­sag­te der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit nach der al­ten Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) bis 2010?

Die oben be­schrie­be­ne Ta­rifp­lu­ra­lität führt für Ar­beit­ge­ber zu ei­nem or­ga­ni­sa­to­ri­schen Mehr­auf­wand, ver­gli­chen mit der eher ein­fa­chen Si­tua­ti­on, in der die Per­so­nal­ver­wal­tung nur die Ta­rif­verträge ei­ner Ge­werk­schaft an­wen­den muss.

Um die Ar­beit­ge­ber hier zu ent­las­ten, wand­te das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) lan­ge Jah­re das Prin­zip der Ta­rif­ein­heit an. Die­sem Prin­zip zu­fol­ge soll­te nur ein Ta­rif­ver­trag für al­le Ar­beit­neh­mer­grup­pen ei­nes Be­triebs an­ge­wandt wer­den, auch wenn die­se in ver­schie­de­nen Ge­werk­schaf­ten or­ga­ni­siert wa­ren.

Die Fra­ge, wel­cher Ta­rif­ver­trag die­se her­aus­ge­ho­be­ne Rol­le spie­len soll­te, wur­de be­ant­wor­tet, in­dem man sich den Ta­rif­ver­trag her­aus­such­te, der dem Be­trieb räum­lich, fach­lich und persönlich am nächs­ten stand und da­her den Ei­gen­ar­ten des Be­triebs am bes­ten ge­recht wur­de. Da­her ver­dräng­te der „sachnähe­re“ Ta­rif­ver­trag al­le an­de­ren.

Und da die großen, im Deut­schen Ge­werk­schafts­bund (DGB) ver­tre­te­nen Ge­werk­schaf­ten auf­grund ih­rer vie­len Mit­glie­der und ih­rer jahr­zehn­te­lan­gen er­folg­rei­chen Ta­rif­pra­xis prak­tisch im­mer sol­che „sachnähe­re“ Ta­rif­verträge vor­wei­sen konn­ten, muss­ten es die klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten hin­neh­men, dass ih­re Ta­rif­verträge nicht an­ge­wandt wur­den.

Das Prin­zip der Ta­rif­ein­heit führ­te da­her im Er­geb­nis da­zu, dass die von klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten aus­ge­han­del­ten Ta­rif­verträge weit­ge­hend recht­lich wir­kungs­los blie­ben, ob­wohl § 4 Abs.1 TVG vor­schreibt, dass die Ta­rif­verträge für die bei­der­seits ta­rif­ge­bun­de­nen Ar­beits­ver­trags­par­tei­en un­mit­tel­bar und zwin­gend gel­ten.

Wann hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit auf­ge­ge­ben und war­um?

Der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit ist nicht nur schlecht mit § 4 Abs.1 TVG zu ver­ein­ba­ren, son­dern passt eben­so schlecht zu dem Ko­ali­ti­ons­grund­recht von Ge­werk­schaf­ten und ge­werk­schaft­lich or­ga­ni­sier­ten Ar­beit­neh­mern, d.h. zu Art.9 Abs.3 Satz 1 des Grund­ge­set­zes (GG).

Nach die­sem Ver­fas­sungs­ar­ti­kel ist das Recht, zur Wah­rung und Förde­rung der Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen Ver­ei­ni­gun­gen zu bil­den, d.h. Ge­werk­schaf­ten und Ar­beit­ge­ber­verbände, für je­der­mann und für al­le Be­ru­fe gewähr­leis­tet. Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (BVerfG) be­inhal­tet die­ses Grund­recht vor al­lem

  • die Frei­heit der Bil­dung und der Betäti­gung von Ge­werk­schaf­ten und Ar­beit­ge­ber­verbänden,
  • die Frei­heit des Aus­han­delns von Ta­rif­verträgen, und
  • die Frei­heit des Ar­beits­kamp­fes, d.h. auf Sei­ten der Ge­werk­schaf­ten das Streik­recht.

Wenn spe­zia­li­sier­te klei­ne Ge­werk­schaf­ten da­mit rech­nen müssen, dass die von ih­ren aus­ge­han­del­ten (und not­falls er­streik­ten) Ta­rif­verträge in der Ab­la­ge lan­den, ist die Mit­glied­schaft in ei­ner sol­chen Ge­werk­schaft für Ar­beit­neh­mer un­in­ter­es­sant. Außer­dem wer­den sie von der Ar­beit­ge­ber­sei­te nicht ernst ge­nom­men.

Die­se recht­li­che Un­gleich­be­hand­lung be­nach­tei­ligt klei­ne­re Ge­werk­schaf­ten ge­genüber den großen bei der Mit­glie­der­wer­bung und beim Aus­han­deln von Ta­rif­verträgen und schränkt da­her die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten ein. Da die­se Grund­recht­s­ein­schränkung kaum durch über­wie­gen­de trif­ti­ge Gründe des Ge­mein­wohls ge­recht­fer­tigt ist, liegt ei­ne Grund­rechts­ver­let­zung vor. Der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit wur­de da­her von vie­len ar­beits­recht­li­chen Au­to­ren als ver­fas­sungs­recht­lich un­zulässig kri­ti­siert.

In zwei Ent­schei­dun­gen aus dem Jah­re 2010 ist das BAG die­ser Kri­tik ge­folgt und hat den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit of­fi­zi­ell auf­ge­ge­ben (BAG, Be­schluss vom 27.01.2010, 4 AZR 549/08 (A), und BAG, Be­schluss vom 23.06.2010, 10 AS 3/10 -wir be­rich­te­ten darüber in: Ar­beits­recht ak­tu­ell: 10/134 Ab­schied vom Grund­satz der Ta­rif­ein­heit).

Wel­che Aus­wir­kun­gen hat der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit auf das Streik­recht klei­ne­rer Ge­werk­schaf­ten?

Gar kei­ne. Streiks sind nämlich wie erwähnt vom Ko­ali­ti­ons­grund­recht (Art.9 Abs.3 GG) ab­ge­deckt, d.h. das Strei­ken ist ei­ne Betäti­gung die­ses Grund­rechts mit dem Ziel, ei­nen Ta­rif­ver­trag ab­zu­sch­ließen.

Dem­ge­genüber ist der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit ei­ne recht­li­che Re­gel, die be­stimmt, wel­cher von ver­schie­de­nen, glei­cher­maßen für den Ar­beit­ge­ber ver­bind­li­chen Ta­rif­verträgen auf ein Ar­beits­verhält­nis im Er­geb­nis An­wen­dung fin­den soll.

Da­mit es aber über­haupt zu ver­schie­de­nen, für ei­nen Ar­beit­ge­ber glei­cher­maßen ver­bind­li­chen Ta­rif­verträgen kommt, müssen auch die klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten zunächst ein­mal strei­ken dürfen mit dem Ziel, die Ar­beit­ge­ber­sei­te zum Ta­rif­ab­schluss zu brin­gen. Denn oh­ne das Recht zum Streik sind Ta­rif­ver­hand­lun­gen, so das BAG in ständi­ger Recht­spre­chung, nicht viel mehr als "kol­lek­ti­ves Bet­teln".

Im We­sent­li­chen ist ein Streik nach der Recht­spre­chung rechtmäßig, wenn er als Mit­tel zum Zweck ei­ner ta­rif­ver­trag­li­chen Ei­ni­gung ein­ge­setzt wird. Da­zu müssen Streiks

  • von ei­ner Ge­werk­schaft or­ga­ni­siert ("ge­tra­gen") sein (da auf Ar­beit­neh­mer­sei­te nur Ge­werk­schaf­ten Ta­rif­verträge ab­sch­ließen können),
  • den Ab­schluss ei­nes (recht­li­che zulässi­gen) Ta­rif­ver­trags zum Ziel ha­ben, und
  • die Frie­dens­pflicht be­ach­ten, d.h. das Streik­ver­bot, das sich aus der Gel­tung noch lau­fen­der Ta­rif­verträge er­gibt.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen hier­zu fin­den Sie in un­se­rem Hand­buch zum Ar­beits­recht un­ter "Streik und Streik­recht".

Dem­zu­fol­ge hat­te die Ände­rung der BAG-Recht­spre­chung im Jah­re 2010, d.h. die Auf­ga­be des Grund­sat­zes der Ta­rif­ein­heit, kei­ne Aus­wir­kun­gen auf das Streik­recht klei­ne­rer Ge­werk­schaf­ten. Sie durf­ten be­reits vor die­ser Ände­rung der Recht­spre­chung für ih­re Ta­rif­verträge strei­ken und sie dürfen es auch heu­te noch.

Kann der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit mit prak­ti­schen Pro­ble­men bei der Ta­rif­an­wen­dung ge­recht­fer­tigt wer­den?

In der po­li­ti­schen Dis­kus­si­on von 2010 bis 2015 wur­de die Bei­be­hal­tung bzw. ge­setz­li­che Wie­der-Einführung des Grund­sat­zes der Ta­rif­ein­heit oft mit ei­nem prak­ti­schen Ar­gu­ment ge­recht­fer­tigt:

Das Ne­ben­ein­an­der ver­schie­de­ner Ta­rif­verträge führt, so heißt es, zu er­heb­li­chen prak­ti­schen Schwie­rig­kei­ten bei der Ta­rif­an­wen­dung durch die Ar­beit­ge­ber, ins­be­son­de­re dann, wenn Ar­beit­neh­mer die Ge­werk­schaft wech­seln. Die­ses Ar­gu­ment wird von Ar­beit­ge­bern vor­ge­bracht.

Da­ge­gen kann man ein­wen­den, dass die An­wen­dung ver­schie­de­ner Ta­rif­verträge durch ein und den­sel­ben Ar­beit­ge­ber be­reits seit ei­ni­gen Jah­ren funk­tio­niert, ins­be­son­de­re in Kran­kenhäusern, die ne­ben­ein­an­der die Ta­rif­verträge der ver.di und der Ärz­te­ge­werk­schaft Mar­bur­ger Bund durchführen müssen.

Stärkt der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit die So­li­da­rität un­ter den Ar­beit­neh­mern?

Ein wei­te­res Ar­gu­ment pro Grund­satz der Ta­rif­ein­heit wird vom Deut­schen Ge­werk­schafts­bund (DGB) und sei­nen Mit­glieds­ge­werk­schaf­ten vor­ge­bracht. Es lau­tet:

Die Ta­rif­verträge klei­ne­rer Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten sind Er­geb­nis ei­ner un­so­li­da­ri­schen Son­der­wirt­schaft. Bes­ser wäre es, wenn möglichst al­le Ar­beit­neh­mer in den eta­blier­ten, nach Bran­chen statt nach Be­rufs­grup­pen or­ga­ni­sier­ten Ge­werk­schaf­ten des DGB or­ga­ni­siert wären.

Da­ge­gen wäre zu sa­gen, dass gut qua­li­fi­zier­te Be­rufs­grup­pen wie zum Bei­spiel Ärz­te oder Jour­na­lis­ten mit ih­ren be­son­de­ren An­lie­gen in mit­glie­der­star­ken DGB-Ge­werk­schaf­ten kaum gehört wer­den. Außer­dem wird man das Rad der Ge­schich­te kaum zurück­dre­hen können. Die Ärz­te­ge­werk­schaft Mar­bur­ger Bund, die Ge­werk­schaft Deut­scher Lokführer (GDL) oder die Pi­lo­ten­ver­ei­ni­gung Cock­pit wer­den wei­ter­hin ih­re ei­ge­ne Ta­rif­po­li­tik be­trei­ben.

Ver­hin­dert der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit zu häufi­ge Streiks klei­ner Ge­werk­schaf­ten?

Sch­ließlich wird der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit in der po­li­ti­schen Dis­kus­si­on oft in Zu­sam­men­hang mit Streiks klei­ner Ge­werk­schaf­ten ge­bracht. Die­ses Ar­gu­ment lau­tet:

Das Ne­ben­ein­an­der von Ta­rif­verträgen großer DGB-Ge­werk­schaf­ten und klei­ner Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten führt zu da­zu, dass dau­ernd ir­gend­ei­ne Ge­werk­schaft For­de­run­gen er­hebt und not­falls streikt. Oh­ne den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit wird im Er­geb­nis zu oft ge­streikt. Das ist die Mei­nung man­cher Po­li­ti­ker, ins­be­son­de­re aus den Rei­hen der SPD.

Die­ses Ar­gu­ment ist al­ler­dings von vorn­her­ein nicht schlüssig. Denn wie erwähnt, be­schränkt der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit als sol­cher nicht das Strei­k­reicht klei­ne­rer Ge­werk­schaf­ten, son­dern führt "nur" da­zu, dass de­ren (er­streik­te) Ta­rif­verträge nicht an­wen­det wer­den.

Außer­dem lässt sich bis­lang nicht be­le­gen, dass die Auf­ga­be des Grund­sat­zes der Ta­rif­ein­heit durch das BAG im Jah­re 2010 fak­tisch zu ver­mehr­ten Streiks geführt hätte. Zu die­sem Er­geb­nis kommt ei­ne 2011 vor­ge­stell­te wis­sen­schaft­li­che Stu­die des Rhei­nisch-Westfäli­schen In­sti­tuts für Wirt­schafts­for­schung (RWI), die im Auf­trag des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Wirt­schaft und Tech­no­lo­gie (BM­Wi) die Aus­wir­kun­gen un­ter­such­te, die die Ta­rifp­lu­ra­lität auf das deut­sche Ta­rif­ver­trags­sys­tem und auf die Häufig­keit von Ar­beitskämp­fen hat. Das Fa­zit die­ser Stu­die lau­tet (S.33):

„Es lässt sich ... fest­hal­ten, dass das BAG-Ur­teil bis­her kei­ne mess­ba­ren Spu­ren bei den Streik­ak­ti­vitäten hin­ter­las­sen hat. Von ei­nem star­ken Hand­lungs­druck sei­tens des Ge­setz­ge­bers in dem Sin­ne, dass nur ei­ne ra­sche ge­setz­li­che Re­ge­lung zur Ta­rif­ein­heit ei­nen star­ken An­stieg der Ar­beits­kampf­ak­ti­vitäten würde ver­hin­dern können, kann so­mit ei­gent­lich kaum ei­ne Re­de sein.“

Muss der Staat et­was ge­gen Dau­er-Ta­rif­ver­hand­lun­gen und Dau­er-Streiks klei­ner Ge­werk­schaf­ten un­ter­neh­men?

Wenn "klei­ne" Be­rufs­grup­pen wie die Lokführer, Pi­lo­ten, Flug­lot­sen oder Kran­ken­hausärz­te strei­ken, können man­che Po­li­ti­ker und Jour­na­lis­ten der Ver­su­chung nicht wi­der­ste­hen, ei­ne Be­schränkung des Streik­recht klei­ne­rer Ge­werk­schaf­ten zu for­dern. Be­gründet wird die­se For­de­rung mit fol­gen­dem Ar­gu­ment:

Die Auf­spal­tung der Ar­beit­neh­mer­sei­te in vie­le ver­schie­de­ne Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten kann da­zu führen, dass an­dau­ernd ge­streikt wird: Müss­te die Luft­han­sa nur mit der ver.di ver­han­deln, gäbe es al­le zwei oder drei Jah­re Ta­rif­run­den mit ei­ner ver­hand­lungs­er­fah­re­nen, "se­riösen" DGB-Ge­werk­schaft, und in der Zeit da­zwi­schen herrsch­te Ru­he. Statt des­sen streikt ein­mal das Bo­den- und Ver­wal­tungs­per­so­nal, dann strei­ken die Pi­lo­ten, dann die Ste­war­des­sen usw.

Die­ses Ar­gu­ment ist aber we­nig plau­si­bel, denn klei­ne Ge­werk­schaf­ten müssen eben­so wie große zu­se­hen, dass sie mit ih­ren For­de­run­gen ih­re Mit­glie­der mo­bi­li­sie­ren und die öffent­li­che Mei­nung für sich ge­win­nen können.

Zu weit­ge­hen­de For­de­run­gen und/oder ei­ne zu kom­pro­miss­lo­se Hal­tung in Ta­rif­ver­hand­lun­gen stoßen bald auf Un­verständ­nis bei Mit­glie­dern und in der Öffent­lich­keit. Kei­ne Ge­werk­schaft kann es sich er­lau­ben, länger zu strei­ken als nötig, und un­rea­lis­ti­sche For­de­run­gen führen auf die Dau­er zu ta­rif­po­li­ti­schen Miss­er­fol­gen und letzt­lich zu Mit­glie­der­schwund.

Muss der Staat Streiks klei­ner Funk­ti­ons­eli­ten in Ver­kehrs- und Ver­sor­gungs­be­trie­ben be­schränken?

Ein wei­te­res Ar­gu­ment, mit dem ei­ne Be­gren­zung des Streik­rechts klei­ner Spar­ten­ge­werk­schaf­ten be­gründet wird, lau­tet:

Streiks klei­ner Funk­ti­ons­eli­ten ha­ben ne­ga­ti­ve Aus­wir­kun­gen für ei­ne un­verhält­nismäßig ho­he Zahl von Per­so­nen, die am Ar­beits­kampf nicht be­tei­ligt sind. Das be­trifft vor al­lem Streiks im öffent­li­chen Nah- und Flug­ver­kehr: Wenn ei­ni­ge we­ni­ge Lokführer, Pi­lo­ten oder Flug­lot­sen strei­ken, rich­ten die Strei­ken­den Schäden nicht nur bei dem be­streik­ten Ar­beit­ge­ber an, son­dern auch bei der All­ge­mein­heit.

Die­ses Ar­gu­ment ist zwar prin­zi­pi­ell rich­tig, darf aber nicht über­be­wer­tet wer­den. Denn Streiks sind in Deutsch­land sel­ten, und wenn es ein­mal zu Streiks kommt, dau­ern sie meist nur we­ni­ge Ta­ge. Die ty­pi­sche Streik­form in Deutsch­land ist der Warn­streik, d.h. das kur­ze Mus­kel­spiel der Ge­werk­schaf­ten.

In Frank­reich, Eng­land oder Ita­li­en ist das an­ders. Dort fal­len nicht nur ins­ge­samt pro Jahr und Ar­beit­neh­mer mehr Ar­beits­stun­den als in Deutsch­land auf­grund von Streiks aus, son­dern auch die Ver­bis­sen­heit, mit der ge­streikt wird, ist größer: Müll­wer­ker in Frank­reich strei­ken not­falls wo­chen­lang, was in Deutsch­land un­denk­bar wäre.

Ab­ge­se­hen da­von be­las­ten Streiks ge­gen Un­ter­neh­men der "Da­seins­vor­sor­ge" die All­ge­mein­heit nicht da­durch stärker, dass sie von klei­nen statt von großen Ge­werk­schaf­ten geführt wer­den. Ob die "große" DGB-Ge­werk­schaft ver.di die Bus­fah­rer zum Streik auf­ruft oder die "klei­ne" Lokführer­ge­werk­schaft GDL die Lokführer: Für die am Streik nicht be­tei­lig­ten Fahrgäste sind die ne­ga­ti­ven Ef­fek­te die­sel­ben.

Natürlich sind Streiks von Bus­fah­rern, Lokführern, Pi­lo­ten oder Flug­lot­sen lästig für al­le die­je­ni­gen, die ge­ra­de auf die be­streik­ten Ver­kehrs­mit­tel an­ge­wie­sen sind. Das heißt aber noch lan­ge nicht, dass sol­che Streiks mit kri­mi­nel­len Ma­chen­schaf­ten ver­gli­chen wer­den könn­ten, wie es das Ge­re­de von der „Gei­sel­haft“ sug­ge­riert, in die die Strei­ken­den an­geb­lich die All­ge­mein­heit neh­men würden.

Der im März 2012 un­ter dem Ein­druck des Flug­lot­sen­streiks er­stell­te, von den Ju­ra-Pro­fes­so­ren Fran­zen, Thüsing und Wald­hoff vor­ge­leg­te Ge­set­zes­ent­wurf zum „Ar­beits­kampf in der Da­seins­vor­sor­ge“ (vom 19.03.2012) wird da­her ei­ne Außen­sei­ter­mei­nung blei­ben.

Wären Ein­schränkun­gen der Streik­frei­heit klei­ner Ge­werk­schaf­ten ver­fas­sungs­gemäß?

Nein, sol­che Ein­schränkun­gen wären ver­fas­sungs­wid­rig, weil sie das durch Art.9 Abs.3 Satz 1 GG ga­ran­tier­te Streik­recht der von sol­chen Ein­schränkun­gen be­trof­fe­nen klei­nen Ge­werk­schaf­ten ver­let­zen würden.

Der Staat ist zwar nicht dar­an ge­hin­dert, den Streik ge­setz­lich zu re­geln und in ei­nem Streik­ge­setz zum Bei­spiel ei­ne ob­li­ga­to­ri­sche Sch­lich­tungs­pha­se vor­zu­se­hen. Auch spricht nichts da­ge­gen, die bis­lang nur in Form von Ge­richts­ur­tei­len exis­tie­ren­den recht­li­chen Re­geln des Ar­beits­kamp­fes in ei­nem Ge­setz zu­sam­men­zu­fas­sen und die bis­he­ri­ge Recht­spre­chung da­bei in be­stimm­ten Ein­zel­hei­ten zu kor­ri­gie­ren.

Ein sol­ches Streik­ge­setz müss­te aber ein­heit­lich für al­le Ge­werk­schaf­ten gel­ten und dürf­te sich nicht ge­zielt ge­gen "klei­ne" Spar­ten- bzw. Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten rich­ten.

So wäre es zum Bei­spiel ver­fas­sungs­wid­rig, den DGB-Ge­werk­schaf­ten Streiks (wie bis­her) auch dann oh­ne Ein­schränkun­gen zu er­lau­ben, wenn sich die­se ge­gen Un­ter­neh­men der "Da­seins­vor­sor­ge" rich­ten (d.h. ge­gen Ver­kehrs­un­ter­neh­men, Kran­kenhäuser, En­er­gie­ver­sor­ger, Schu­len), klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten sol­che Streiks aber zu un­ter­sa­gen.

Wer for­der­te in den Jah­ren 2011 bis 2015 ei­ne ge­setz­li­che Fest­schrei­bung des Grund­sat­zes der Ta­rif­ein­heit?

 

Als Re­ak­ti­on auf die o.g. Kehrt­wen­de des BAG beim The­ma Ta­rif­ein­heit im Jah­re 2010 mach­ten der DGB und die Bun­des­ver­ei­ni­gung Deut­scher Ar­beit­ge­ber­verbände (BDA) vorüber­ge­hend ge­mein­sa­me Sa­che. Sie schlu­gen nämlich in ei­nem ge­mein­sam ver­fass­ten po­li­ti­schen Po­si­ti­ons­pa­pier vor, den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit ge­setz­lich fest­zu­schrei­ben.

Die­se Vor­schläge gin­gen über die bis­he­ri­ge BAG-Recht­spre­chung hin­aus, d.h. sie woll­ten die Rech­te klei­ne­rer Ge­werk­schaf­ten noch stärker be­schränken als das BAG in sei­ner al­ten Recht­spre­chung (BDA, DGB: Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie si­chern - Ta­rif­ein­heit ge­setz­lich re­geln). Nach­dem die­se An­tis­t­reik­po­li­tik der DGB-Ge­werk­schaf­ten in ih­ren ei­ge­nen Rei­hen auf Kri­tik stieß, ließ der DGB das Pro­jekt Mit­te 2011 fal­len (wir be­rich­te­ten in: Ar­beits­recht ak­tu­ell: 11/114 BDA-DGB-Ge­set­zes­in­itia­ti­ve zur Ta­rif­ein­heit be­en­det).

Kaum hat­te der DGB zurück­ge­ru­dert, presch­te die SPD vor und nahm den Streik der Vor­feld-Mit­ar­bei­ter des Frank­fur­ter Flug­ha­fens zum An­lass, An­fang März 2012 ei­ne ge­setz­li­che Re­ge­lung zur Ta­rif­ein­heit zu for­dern.

Ei­ne kurz dar­auf ab­ge­hal­te­ne Aus­spra­che im Deut­schen Bun­des­tag mach­te al­ler­dings deut­lich, dass die SPD mit die­ser For­de­rung po­li­tisch ziem­lich al­lein da­steht. Denn al­le an­de­ren Frak­tio­nen si­gna­li­sier­ten, dass sie der SPD in die­ser Fra­ge nicht fol­gen würden.

Trotz­dem ei­nig­ten sich die CDU/CSU und die SPD in ih­rem Ko­ali­ti­ons­ver­trag vom No­vem­ber 2013 auf das Ziel, "den Ko­ali­ti­ons- und Ta­rifp­lu­ra­lis­mus in ge­ord­ne­te Bah­nen zu len­ken". Zu die­sem Zweck soll der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit "nach dem be­triebs­be­zo­ge­nen Mehr­heits­prin­zip un­ter Ein­bin­dung der Spit­zen­or­ga­ni­sa­tio­nen der Ar­beit­neh­mer und Ar­beit­ge­ber" ge­setz­lich fest­ge­schrie­ben wer­den.

En­de Ju­ni 2014 veröffent­lich­te das Ar­beits­mi­nis­te­ri­um so­dann ein Eck­punk­te­pa­pier zum The­ma Ta­rif­ein­heit, das der Vor­be­rei­tung ei­ner Ge­set­zesände­rung dient den Ko­ali­ti­ons­ver­trag in die­sem Punkt um­set­zen soll. Ziel ist die Auflösung von "Ta­rifp­lu­ra­litäten". Da­zu wa­ren fol­gen­de Re­ge­lun­gen vor­ge­se­hen:

Wenn die be­tei­lig­ten Ge­werk­schaf­ten ih­re Zuständig­kei­ten nicht ab­stim­men und wenn es nicht zu in­halts­glei­chen Ta­rif­verträgen ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten kommt (sog. An­schluss­ta­rif­verträge), dann soll das Ne­ben­ein­an­der ver­schie­de­ner Ta­rif­verträge durch An­wen­dung des Mehr­heits­prin­zips auf­gelöst wer­den, d.h. es kommt nur der Ta­rif­ver­trag der­je­ni­gen Ge­werk­schaft zur An­wen­dung, die im Be­trieb mehr Mit­glie­der hat (Mehr­heits­ge­werk­schaft).

Dies schließt, so das Eck­punk­te­pa­pier, "in­so­weit auch ei­ne Er­stre­ckung der Frie­dens­pflicht aus dem Ta­rif­ver­trag der Mehr­heits­ge­werk­schaft auf die Min­der­heits­ge­werk­schaft ein". Ei­ne kri­ti­sche Be­wer­tung die­ses Eck­punk­te­pa­piers fin­den Sie in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 14/232 Eck­punk­te zur Ta­rif­ein­heit und Streik­recht.

Den Schluss­punkt der Dis­kus­si­on bil­de­te der Ent­wurf ei­nes Ge­set­zes zur Ta­rif­ein­heit (Ta­rif­ein­heits­ge­setz), Ge­setz­ent­wurf der Bun­des­re­gie­rung vom 29.12.2014 (Bun­des­rat Drucks. 635/14). In die­sem Ent­wurf ist das Streik­ver­bot zu­las­ten der be­trieb­li­chen Min­der­heits­ge­werk­schaft, das im Eck­punk­te­pa­pier vom Ju­ni 2014 noch ent­hal­ten war, ge­stri­chen (wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 15/032 Ge­setz­ent­wurf zur Ta­rif­ein­heit).

Nach­dem der Bun­des­tag dem Ge­setz am 22.05.2015 zu­ge­stimmt hat­te, wur­de es am 03.07.2015 aus­ge­fer­tigt und trat am, 10.07.2015 in Kraft.

Was be­sagt der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG?

Die we­sent­li­che Neu­re­ge­lung des Ta­rif­ein­heits­ge­set­zes vom 03.07.2015 war wie erwähnt der neu in das TVG ein­gefügte § 4a, der zum 10.07.2015 in Kraft ge­tre­ten ist. § 4a Abs.1 und Abs.2 TVG lau­tet:

"(1) Zur Si­che­rung der Schutz­funk­ti­on, Ver­tei­lungs­funk­ti­on, Be­frie­dungs­funk­ti­on so­wie Ord­nungs­funk­ti­on von Rechts­nor­men des Ta­rif­ver­trags wer­den Ta­rif­kol­li­sio­nen im Be­trieb ver­mie­den.

(2) Der Ar­beit­ge­ber kann nach § 3 an meh­re­re Ta­rif­verträge un­ter­schied­li­cher Ge­werk­schaf­ten ge­bun­den sein. So­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che nicht in­halts­glei­cher Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten über­schnei­den (kol­li­die­ren­de Ta­rif­verträge), sind im Be­trieb nur die Rechts­nor­men des Ta­rif­ver­trags der­je­ni­gen Ge­werk­schaft an­wend­bar, die zum Zeit­punkt des Ab­schlus­ses des zu­letzt ab­ge­schlos­se­nen kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags im Be­trieb die meis­ten in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­der hat (Mehr­heits­ta­rif­ver­trag); wur­den beim Zu­stan­de­kom­men des Mehr­heits­ta­rif­ver­trags die In­ter­es­sen von Ar­beit­neh­mer­grup­pen, die auch von dem nach dem ers­ten Halb­satz nicht an­zu­wen­den­den Ta­rif­ver­trag er­fasst wer­den, nicht ernst­haft und wirk­sam berück­sich­tigt, sind auch die Rechts­nor­men die­ses Ta­rif­ver­trags an­wend­bar. Kol­li­die­ren die Ta­rif­verträge erst zu ei­nem späte­ren Zeit­punkt, ist die­ser für die Mehr­heits­fest­stel­lung maßgeb­lich. Als Be­trie­be gel­ten auch ein Be­trieb nach § 1 Ab­satz 1 Satz 2 des Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­set­zes und ein durch Ta­rif­ver­trag nach § 3 Ab­satz 1 Num­mer 1 bis 3 des Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­set­zes er­rich­te­ter Be­trieb, es sei denn, dies steht den Zie­len des Ab­sat­zes 1 of­fen­sicht­lich ent­ge­gen. Dies ist ins­be­son­de­re der Fall, wenn die Be­trie­be von Ta­rif­ver­trags­par­tei­en un­ter­schied­li­chen Wirt­schafts­zwei­gen oder de­ren Wertschöpfungs­ket­ten zu­ge­ord­net wor­den sind."

Im Un­ter­schied zu der al­ten, 2010 auf­ge­ge­be­nen BAG-Recht­spre­chung zur Ta­rif­ein­heit, der zu­fol­ge bei der Gel­tung meh­re­rer Ta­rif­verträge im sel­ben Be­trieb der für den Be­trieb sachnähe­re Ta­rif­ver­trag an­zu­wen­den war, löst § 4a Abs.2 Satz 2 TVG die vom Ge­setz so ge­nann­te "Kol­li­si­on" in der Wei­se auf, dass der Ta­rif­ver­trag der be­trieb­li­chen Mehr­heits­ge­werk­schaft an­zu­wen­den ist.

Die be­trieb­li­che Mehr­heits­ge­werk­schaft ist die­je­ni­ge Ge­werk­schaft, die "im Be­trieb die meis­ten in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­der", und zwar zu dem Zeit­punkt, in dem der zu­letzt ab­ge­schlos­se­ne kol­li­die­ren­de Ta­rif­ver­trag ver­ein­bart wur­de. 

Wo­zu sagt der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG nichts?

In den ju­ris­ti­schen Kom­men­ta­ren zu § 4a TVG be­steht weit­ge­hend Ei­nig­keit darüber, dass die­se Vor­schrift kei­ne Aus­wir­kun­gen auf das Streik­recht der be­trieb­li­chen Min­der­heits­ge­werk­schaft hat, d.h. die­ses Streik­recht nicht ein­schränkt. Auch be­trieb­li­che Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten dürfen strei­ken und mit Streiks und Streik­dro­hun­gen Ta­rif­verträge durch­set­zen, denn an­dern­falls gäbe es ja gar kei­ne mit­ein­an­der kon­kur­rie­ren­den Ta­rif­verträge in dem­sel­ben Be­trieb.

Klar ist wei­ter­hin auch, dass sich die Un­an­wend­bar­keit der Ta­rif­verträge der Min­der­heits­ge­werk­schaft nur auf die Ta­rif­wir­kung gemäß § 4 Abs.1 TVG be­zieht, d.h. auf die ge­set­zes­glei­che ("nor­ma­ti­ve") Wir­kung des Ta­rif­ver­trags. Vie­le Ar­beit­neh­mer können die An­wen­dung von Ta­rif­verträgen aber auf ei­ner an­de­ren Grund­la­ge ver­lan­gen, nämlich auf­grund ei­ner ar­beits­ver­trag­li­chen Be­zug­nah­me auf ei­nen Ta­rif­ver­trag. Und dann gilt:

§ 4a TVG hat kei­ne Aus­wir­kun­gen auf den ar­beits­ver­trag­li­chen An­spruch auf Ta­rif­an­wen­dung, d.h. § 4a TVG lässt das Recht der Ar­beit­neh­mer auf Be­zah­lung und Be­hand­lung (Ur­laub, Ar­beits­zei­ten usw.) nach dem Ta­rif­ver­trag, der ih­nen ar­beits­ver­trag­lich zu­ge­sagt wur­de, oh­ne Ein­schränkun­gen be­ste­hen. Das be­trifft ins­be­son­de­re auch Ar­beit­neh­mer, die in­fol­ge ei­nes Be­triebsüber­gangs auf ei­nen neu­en Be­triebs­in­ha­ber über­ge­lei­tet wur­den und die von die­sem die An­wen­dung der Ta­rif­verträge ver­lan­gen können, die in ih­ren Ar­beits­verträgen in Be­zug ge­nom­men wer­den.

Sch­ließlich kann der Ar­beit­ge­ber nicht oh­ne Wei­te­res be­haup­ten, dass ei­ner der in sei­nem Be­trieb mit­ein­an­der kon­kur­rie­ren­den Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten von der be­trieb­li­chen Min­der­hei­ten­ge­werk­schaft ver­ein­bart wur­de. Ei­ne Um­fra­ge un­ter den Ar­beit­neh­mern nach de­ren Ge­werk­schafts­mit­glied­schaft wäre zu die­sem Zweck un­zulässig, da der Ar­beit­ge­ber we­gen des Schut­zes der Ko­ali­ti­ons­frei­heit (Art.9 Abs.3 GG) nach Be­gründung des Ar­beits­verhält­nis­ses nur nach der Ge­werk­schafts­zu­gehörig­keit fra­gen darf, wenn er ei­nen Ta­rif­ver­trag ent­spre­chend der nor­ma­ti­ven Wir­kung des Ta­rif­ver­trags § 4 Abs.1 TVG an­wen­den, d.h. Nicht-Ge­werk­schafts­mit­glie­der von der Ta­rif­an­wen­dung aus­neh­men will.

Das be­deu­tet prak­tisch ge­se­hen: Be­vor nicht das be­son­de­re ar­beits­ge­richt­li­che Fest­stel­lungs­ver­fah­ren gemäß § 99 Ar­beits­ge­richts­ge­setz (ArbGG) über den Ta­rif­ver­trag der be­trieb­li­chen Mehr­heits­ge­werk­schaft durch­geführt und rechts­kräftig ab­ge­schlos­sen wur­de, kann der Ar­beit­ge­ber Ge­werk­schafts­mit­glie­dern die nor­ma­ti­ve Ta­rif­an­wen­dung gemäß § 4 Abs.1 TVG nicht ver­wei­gern, auch nicht im Fal­le ei­ner Lohn­kla­ge. Fa­zit an die­ser Stel­le: 

§ 4a TVG hat oh­ne vor­aus­ge­gan­ge­nes Fest­stel­lungs­ver­fah­rens gemäß § 99 ArbGG kei­ne Aus­wir­kun­gen auf die nor­ma­ti­ve Gel­tung des Ta­rif­ver­trags der be­trieb­li­chen Min­der­hei­ten­ge­werk­schaft.

Ins­ge­samt ist § 4a TVG ein Pa­pier­ti­ger. Die Vor­schrift möch­te Pro­ble­me, die es in Wahr­heit gar nicht gibt, "lösen" und geht da­her von fal­schen Vor­aus­set­zun­gen aus.

Die bei­den Hauptirrtümer der Ge­set­zes­ver­fas­ser sind die Überschätzung der (ge­rin­gen) prak­ti­schen Be­deu­tung der nor­ma­ti­ven Ta­rif­wir­kung so­wie der nai­ve Irr­glau­be, man könn­te die re­la­ti­ve be­trieb­li­che Mit­glie­derstärke von Ge­werk­schaf­ten zu ei­nem be­stimm­ten in der Ver­gan­gen­heit lie­gen­den Zeit­punkt un­schwer ge­richt­lich fest­stel­len las­sen. § 4a TVG ist nicht wirk­lich gut ge­meint, aber je­den­falls schlecht ge­macht.

Wel­che ver­fas­sungs­recht­li­chen Ar­gu­men­te spre­chen ge­gen den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit gemäß § 4a Abs.2 Satz 2 TVG?

 

Zu der durch Art.9 Abs.3 Satz 1 GG geschütz­ten ge­werk­schaft­li­chen Betäti­gung gehört nicht nur die Frei­heit zum Ab­schluss von Ta­rif­verträgen. Viel­mehr gehören da­zu auch recht­li­che Rah­men­be­din­gun­gen, die si­cher­stel­len, dass sol­che Ta­rif­verträge auf die Ge­werk­schafts­mit­glie­der an­ge­wandt wer­den und nicht in der Ab­la­ge lan­den. Im­mer­hin ha­ben sich de­ren Mit­glie­der in der Ge­werk­schaft zu­sam­men­ge­schlos­sen, was mit persönli­chem En­ga­ge­ment und Mit­glieds­beiträgen ver­bun­den ist, und sie ha­ben mögli­cher­wei­se so­gar ge­streikt und da­mit ihr Ar­beits­verhält­nis be­las­tet, um ih­re Ge­werk­schaft beim Ab­schluss des Ta­rif­ver­trags zu un­terstützen.

Die Nicht­an­wen­dung le­gal zu­stan­de ge­kom­me­ner Ta­rif­verträge klei­ner, aber so­zi­al mäch­ti­ger, streik­be­rei­ter und da­her "ech­ter" Ge­werk­schaf­ten auf­grund ei­ner recht­li­chen Be­vor­zu­gung größerer Ge­werk­schaf­ten schränkt die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der klei­nen Ge­werk­schaf­ten da­her ein, und zwar ein ei­ner ziem­lich weit­ge­hen­den Wei­se. Letzt­lich de­gra­diert der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit die klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten zu so­zi­al­po­li­ti­schen De­bat­tier­clubs.

Über­wie­gen­de Gründe des Ge­mein­wohls, die ei­nen so weit­ge­hen­den Grund­rechts­ein­griff recht­fer­ti­gen würden, sind nicht wirk­lich klar er­kenn­bar. Ar­beit­ge­ber, die auf­grund ab­wei­chen­der Ge­werk­schafts­zu­gehörig­kei­ten ih­rer Ar­beit­neh­mer gleich­zei­tig ver­schie­de­ne Ta­rif­verträge an­wen­den müssen, ste­hen da­durch zwar vor ge­wis­sen prak­ti­schen Pro­ble­men, doch sind die­se Pro­ble­me nicht so er­heb­lich, dass sie die Ta­rif­unmündig­keit klei­ner Ge­werk­schaf­ten recht­fer­ti­gen könn­ten.

Wie hat das BVerfG über die Ver­fas­sungs­be­schwer­den ent­schie­den, die von klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten ge­gen das Ta­rif­ein­heits­ge­setz an­ge­strengt wur­den?

Die o.g. ver­fas­sungs­recht­li­chen Be­den­ken ge­gen das Ta­rif­ein­heits­ge­setz hat das BVerfG be­dau­er­li­cher­wei­se nicht gel­ten las­sen.

Zunächst hat­te das BVerfG im Ok­to­ber 2015 die Eil­anträge ver­schie­de­ner Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten ge­gen das Ge­setz zurück­ge­wie­sen (Be­schluss vom 06.10.2015, 1 BvR 1571/15 u.a., wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 15/292 Eil­anträge ge­gen Ta­rif­ein­heit ge­schei­tert).

Im Som­mer 2017 kam dann die endgülti­ge Wat­schen für die klei­nen Ge­werk­schaf­ten. Das BVerfG ent­schied, dass das Ta­rif­ein­heits­ge­setz im We­sent­li­chen ver­fas­sungs­gemäß ist (BVerfG, Ur­teil vom 11.07.2017, 1 BvR 1571/15, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 17/187 Ta­rif­ein­heits­ge­setz ver­fas­sungs­gemäß). Denn der Ge­setz­ge­ber ver­folgt nach An­sicht der Karls­ru­her Rich­ter mit § 4a Abs.2 Satz 2 TVG ein le­gi­ti­mes Ziel. Die­ses "Ziel" be­steht in der Ver­ein­heit­li­chung der Ar­beit­neh­mer­for­de­run­gen im Fal­le meh­re­rer an Ta­rif­ver­hand­lun­gen be­tei­lig­ter Ge­werk­schaf­ten (Ur­teil, Rn.153). An die­ser Stel­le über­nimmt das Ur­teil ziem­lich un­kri­tisch die po­li­ti­sche „Ver­kau­fe“ der da­ma­li­gen Ar­beits­mi­nis­te­rin An­drea Nah­les:

„Zweck der an­ge­grif­fe­nen Re­ge­lun­gen ist es, An­rei­ze für ein ko­or­di­nier­tes und ko­ope­ra­ti­ves Vor­ge­hen der Ar­beit­neh­mer­sei­te in Ta­rif­ver­hand­lun­gen zu set­zen und so Ta­rif­kol­li­sio­nen zu ver­mei­den (vgl. BT­Drucks 18/4062, S. 9). Da­mit will der Ge­setz­ge­ber die Aus­gangs­be­din­gun­gen für im Ta­rif­ver­trags­sys­tem funk­tio­nie­ren­de Ta­rif­ver­hand­lun­gen si­chern, wel­che er spe­zi­fisch gefähr­det sieht, wenn es auf­grund der Aus­nut­zung be­trieb­li­cher Schlüssel­po­si­tio­nen auf Ar­beit­neh­mer­sei­te zur Ta­rif­kol­li­si­on im Be­trieb kommt.“ (Ur­teil, Rn.153)

Hat man das lösen­de „Pro­blem“ aber erst ein­mal in ei­ner sol­chen Wei­se be­schrie­ben, dass die Ta­rifp­lu­ra­lität (an­geb­lich) ein ge­sell­schaft­li­ches Übel sei, liegt auch die "Lösung" auf der Hand, nämlich ih­re Ab­schaf­fung bzw. die Einführung des Prin­zips der Ta­rif­ein­heit.

Im­mer­hin hat das BVerfG auch ge­ur­teilt, dass der im Ta­rif­ein­heits­ge­setz völlig feh­len­de Min­der­hei­ten­schutz zu­guns­ten der un­ter­ge­but­ter­ten be­ruf­li­chen Min­der­hei­ten­grup­pen nach­ge­holt wer­den muss, wo­zu es dem Ge­setz­ge­ber bis En­de 2018 Zeit gab.

Wie wird der vom Ver­fas­sungs­ge­richt ge­for­der­te Schutz von Min­der­hei­ten­ge­werk­schaf­ten bei der Ta­rif­ein­heit um­ge­setzt?

Die ursprüng­li­che, ab dem 10.07.2015 gel­ten­de Fas­sung von § 4a Abs.2 Satz lau­te­te:

"So­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che nicht in­halts­glei­cher Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten über­schnei­den (kol­li­die­ren­de Ta­rif­verträge), sind im Be­trieb nur die Rechts­nor­men des Ta­rif­ver­trags der­je­ni­gen Ge­werk­schaft an­wend­bar, die zum Zeit­punkt des Ab­schlus­ses des zu­letzt ab­ge­schlos­se­nen kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags im Be­trieb die meis­ten in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­der hat."

Die auf­grund des BVerfG-Ur­teils ergänz­te, seit dem 01.01.2019 und bis heu­te gülti­ge Fas­sung von § 4a Abs.2 Satz lau­tet:

"So­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che nicht in­halts­glei­cher Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten über­schnei­den (kol­li­die­ren­de Ta­rif­verträge), sind im Be­trieb nur die Rechts­nor­men des Ta­rif­ver­trags der­je­ni­gen Ge­werk­schaft an­wend­bar, die zum Zeit­punkt des Ab­schlus­ses des zu­letzt ab­ge­schlos­se­nen kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags im Be­trieb die meis­ten in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­der hat (Mehr­heits­ta­rif­ver­trag); wur­den beim Zu­stan­de­kom­men des Mehr­heits­ta­rif­ver­trags die In­ter­es­sen von Ar­beit­neh­mer­grup­pen, die auch von dem nach dem ers­ten Halb­satz nicht an­zu­wen­den­den Ta­rif­ver­trag er­fasst wer­den, nicht ernst­haft und wirk­sam berück­sich­tigt, sind auch die Rechts­nor­men die­ses Ta­rif­ver­trags an­wend­bar."

Der mit dem ein­ge­scho­be­nen Halb­satz um­ge­setz­te Schutz von Min­der­hei­ten­ge­werk­schaf­ten ist auf den ers­ten Blick ziem­lich ne­bulös ("In­ter­es­sen von Ar­beit­neh­mer­grup­pen (...) nicht ernst­haft und wirk­sam berück­sich­tigt"). Denn es ist un­klar und wird vom Ge­setz nicht wei­ter de­fi­niert, was man sich un­ter ei­ner "ernst­haf­ten" und "wirk­sa­men" "Berück­sich­ti­gung" von In­ter­es­sen vor­stel­len soll. 

Al­ler­dings ist die Pflicht der Mehr­heits­ge­werk­schaft zur Berück­sich­ti­gung der un­ter den Min­der­hei­ten­ta­rif fal­len­den Ar­beit­neh­mer­grup­pen zeit­lich ein­ge­grenzt, denn die In­ter­es­sen­berück­sich­ti­gung muss "beim Zu­stan­de­kom­men des Mehr­heits­ta­rif­ver­trags" fest­zu­stel­len sein. Da­mit ist es zu­min­dest denk­bar, dass die­se Fra­ge ge­richt­lich in ei­nem Ver­fah­ren gemäß § 99 ArbGG geklärt wird.

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Letzte Überarbeitung: 26. August 2022

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