UPDATE
ARBEITSRECHT
Ausgabe
ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 05|2024

Update Arbeitsrecht 05|2024 vom 06.03.2024

Entscheidungsbesprechungen

LAG Schleswig-Holstein: Krankheitsbedingte Kündigung wegen dauernder Leistungsunfähigkeit

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 10.01.2024, 3 Sa 74/23

Ist die Rückkehr eines länger erkrankten Arbeitnehmers völlig ungewiss, ist der Arbeitgeber gehalten, für die Dauer von 24 Monaten eine befristete Ersatzkraft einzustellen oder dies zumindest zu versuchen.

§ 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); § 102 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG); § 167 Abs.2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); § 14 Abs.2 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG)

Rechtlicher Hintergrund

Ist die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses, das durch das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) geschützt ist, wegen krankheitsbedingter Arbeitsausfälle gestört und dem Arbeitgeber daher nicht zumutbar, kann eine ordentliche Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen im Sinne von § 1 Abs.2 KSchG sozial gerechtfertigt sein. Anwendbar ist das KSchG auf Arbeitnehmer, die länger als sechs Monate in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern beschäftigt sind.

Krankheitsbedingte Kündigungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) gerechtfertigt, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: 

Erstens muss zu befürchten sein, dass es auch künftig in erheblichem Umfang zu krankheitsbedingten Arbeitsausfällen kommt (negative Prognose). 

Zweitens muss es infolgedessen voraussichtlich zu (weiteren) erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher und/oder wirtschaftlicher Interessen des Arbeitgebers kommen (Interessenbeeinträchtigung). 

Schließlich muss die Abwägung der Interessen zugunsten des Arbeitgebers ausgehen, d.h. die voraussichtlichen künftigen Beeinträchtigungen seiner Interessen müssen unzumutbar sein (Interessenabwägung).

Krankheitsbedingte Kündigungen werden meistens wegen häufiger Kurzerkrankungen ausgesprochen. Dann sind Arbeitnehmer immer wieder einmal für einige Tage oder ein bis zwei Wochen krank. 

Das rechtfertigt eine negative Prognose, wenn die Erkrankungen in den letzten drei Jahren durchschnittlich pro Zwölfmonatszeitraum über sechs Wochen lagen. Betriebliche Interessen werden in solchen Fällen vor allem dadurch beeinträchtigt, dass kurzfristige Personallücken entstehen.

Aber auch auf lang andauernde Erkrankungen können Arbeitgeber mit einer krankheitsbedingten Kündigung reagieren. 

Das sind Fälle, in denen eine Genesung aus medizinischen Gründen dauernd ausgeschlossen ist (sog. dauernde Arbeitsunfähigkeit), oder in denen die Wiederherstellung der Gesundheit zum Zeitpunkt der Kündigung völlig ungewiss ist, was nach dem BAG anzunehmen ist, wenn jedenfalls in den nächsten 24 Monaten mit einer Genesung nicht zu rechnen ist (BAG, Urteil vom 13.05.2015, 2 AZR 565/14, Rn.18).

In solchen Fällen stellt sich die Frage, welche Überbrückungsmaßnahmen (bis zu maximal 24 Monaten) dem Arbeitgeber zuzumuten sind. Denn eine Kündigung ist immer nur als äußerstes Mittel (ultima ratio) zulässig, d.h. wenn keine milderen Mittel gegeben sind.

Hier ging das BAG bisher davon aus, dass Arbeitgeber für eine Zeit bis zu 24 Monaten eine befristete Ersatzkraft einstellen könnten. Denn bis zu 24 Monaten sind sachgrundlose Befristungen bei Neueinstellungen gemäß § 14 Abs.2 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) rechtlich zulässig (BAG, Urteil vom 13.05.2015, 2 AZR 565/14, Rn.18).

Fraglich ist allerdings, ob diese Möglichkeit angesichts des anhaltenden Arbeitskräftemangels heutzutage heute immer noch besteht oder ob sich Arbeitgeber darauf berufen können, dass ihnen dies aufgrund der Arbeitsmarktlage nicht möglich sei. 

Um diese Frage ging es in einer aktuellen Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Schleswig-Holstein.

Sachverhalt

Eine über 50 Jahre alte Bilanzbuchhalterin war seit August 2020 in einem größeren mitbestimmten Betrieb tätig. Nachdem sie bereits im Oktober und November 2021 mehrfach krankheitsbedingt ausgefallen war, war sie seit dem 06.12.2021 dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt. 

Vom Mitte August 2022 bis Mitte Oktober 2022 wurde sie akut stationär behandelt und arbeitsunfähig entlassen.

Anfang Juni und Ende Oktober 2022 lud der Arbeitgeber die Buchhalterin zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) im Sinne von § 167 Abs.2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) ein. Die Buchhalterin lehnte das Angebot aufgrund ihres aktuellen Gesundheitszustands ab. 

Anfang November 2022 hörte der Arbeitgeber den Betriebsrat gemäß § 102 Abs.1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) zu einer geplanten ordentlichen Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen an. In dem Anhörungsschreiben wurde die Tatsache nicht erwähnt, dass man die Stelle der Buchhalterin mit einer internen Mitarbeiterin, Frau C., besetzt hatte.

Nach Zustimmung des Betriebsrats zu der geplanten Kündigung sprach der Arbeitgeber eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung aus, gegen die die Buchhalterin Kündigungsschutzklage einlegte. Das Arbeitsgericht Elmshorn gab der Klage statt (Urteil vom 05.04.2023, 3 Ca 1330 d/22).

Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein

Das LAG Schleswig-Holstein wies die Berufung des Arbeitgebers zurück. Die Kündigung war nicht sozial gerechtfertigt im Sinne von § 1 KSchG und daher unwirksam. 

Außerdem hatte der Arbeitgeber auf dem Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört. Daher war die Kündigung auch gemäß § 102 Abs.1 Satz 3 BetrVG unwirksam.

Die Kündigung erfüllte die Anforderungen einer sozial gerechtfertigten Krankheitskündigung deshalb nicht, weil eine arbeitgeberseitig behauptete Beeinträchtigung betrieblicher Interessen durch die langfristige Erkrankung der Buchhalterin nicht vorlag. Die Kündigung scheiterte damit am zweiten Prüfungspunkt (Interessenbeeinträchtigung).

Hier hatte sich der Arbeitgeber auf die - angeblich notwendige dauerhafte - Beschäftigung von Frau C. auf dem Arbeitsplatz der Klägerin berufen. Eine solche Doppelbesetzung wäre zwar eine erhebliche betriebliche Beeinträchtigung, doch hatte der Arbeitgeber dazu zu wenig vorgetragen.

Denn möglicherweise könnte man Frau C. ja nach der Genesung der Klägerin wieder auf ihrem vorherigen Arbeitsplatz oder auf einer anderen Position einsetzen. Auch eine befristete Einstellung einer externen Kraft zur Vertretung der erkrankten Buchhalterin wäre denkbar, so das LAG. 

Die allgemein schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt, auf die sich der Arbeitgeber berufen hatte, waren dem LAG zu wenig. Das Gericht vermisste Ausführungen des Arbeitgebers dazu, welche (erfolglosen) Anstrengungen er ggf. unternommen hatte. 

Weiterhin wäre auch eine befristet eingestellte Ersatzkraft für Frau C. in Betracht gekommen, oder auch ein anderweitiger Einsatz der Klägerin nach ihrer Genesung, d.h. eine Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz.

Abgesehen davon war auch die Betriebsratsanhörung unzureichend, so das LAG, weil die dauerhafte Besetzung der Stelle der Klägerin mit Frau C. in der Anhörung nicht erwähnt worden war. Die dauerhafte Doppelbesetzung der Stelle der Klägerin war aber - aus Sicht des Arbeitgebers - der wesentliche Grund für die Kündigung.

Praxishinweis

Die Entscheidung des LAG lehnt sich eng an eine ähnliche Entscheidung des BAG in einem gleichgelagerten Fall an (BAG, Urteil vom 13.05.2015, 2 AZR 565/14). 

Im Ergebnis ist dem LAG zuzustimmen. Ist die Rückkehr eines länger erkrankten Arbeitnehmers völlig ungewiss, ist der Arbeitgeber gehalten, für die Dauer von 24 Monaten eine befristete Ersatzkraft einzustellen oder dies zumindest zu versuchen.

Die Anforderungen an eine sozial gerechtfertigte Krankheitskündigung sind bei lang andauernden Erkrankungen zurecht hoch, da die Interessen des Arbeitgebers infolge des Krankengeldbezugs und der meist besser handhabbaren Vertretung nicht so erheblich beeinträchtigt sind wie bei häufigen Kurzerkrankungen.

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 10.01.2024, 3 Sa 74/23

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.05.2015, 2 AZR 565/14 

 

Handbuch Arbeitsrecht: Anhörung des Betriebsrats

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Kündigung wegen Krankheit

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigungsschutzklage

Handbuch Arbeitsrecht: Unkündbarkeit

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

IMPRESSUM