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Eckpunkte zur Tarifeinheit und Streikrecht
30.06.2014. Seit langer Zeit wird über eine gesetzliche Einführung des Prinzips "Ein Betrieb - ein Tarifvertrag" diskutiert.
Eine solche gesetzliche Festschreibung des Grundsatzes der Tarifeinheit wäre gut für die großen Gewerkschaften und schlecht für die kleinen, denn ihre Tarifverträge blieben dabei auf der Strecke.
Das aber ist verfassungsrechtlich heikel, denn es würde das Koalitionsgrundrecht der kleineren Gewerkschaften massiv einschränken und wahrscheinlich auch verletzen.
Trotzdem will die Bundesregierung anscheinend ernstmachen mit diesem Vorhaben: Arbeitsministerium: Eckpunkte zu einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit (26.06.2014).
- Verabschiedung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG im Jahre 2010
- Forderungen nach einer gesetzlichen Festschreibung des Grundsatzes der Tarifeinheit
- Die Bundesregierung macht ernst: Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit
- Nichtanwendung der Tarifverträge kleinerer Gewerkschaften und Koalitionsfreiheit
- Friedensflicht aufgrund der Tarifverträge Dritter und Streikrecht
- Anti-Gewerkschaftsgesetzgebung und Verfassung
- Fazit: Das Eckpunktepapier zum Grundsatz der Tarifeinheit beinhaltet offenkundige und massive Grundrechtsverletzungen
Verabschiedung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG im Jahre 2010
Seit das Bundesarbeitsgericht (BAG) den Grundsatz der Tarifeinheit im Jahre 2010 aufgegeben hat (wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 10/134 Abschied vom Grundsatz der Tarifeinheit), ist er in der politischen Diskussion.
Im Kern besagt der Grundsatz der Tarifeinheit, dass nur die Tarifverträge einer einzigen Gewerkschaft für alle Arbeitnehmergruppen eines Betriebs angewandt werden, auch wenn die Arbeitnehmer in verschiedenen Gewerkschaften organisiert sind. Nach der bis 2010 "geltenden" BAG-Rechtsprechung kam es dabei darauf an, welcher Tarifvertrag die für den jeweiligen Betrieb speziellsten, d.h. sachlich am besten passenden Regelungen bereit hält.
Und weil die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vertretenen Gewerkschaften aufgrund ihrer langen Tarifpraxis meist solche „spezielleren“ Tarifverträge vorweisen konnten, mussten es die kleineren Gewerkschaften hinnehmen, dass ihre Tarifverträge nicht angewandt wurden.
Im Ergebnis führte das Prinzip der Tarifeinheit dazu, dass die von kleineren Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträge rechtlich wirkungslos blieben, obwohl § 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz (TVG) ohne Unterscheidung nach großen oder kleinen Gewerkschaften vorschreibt, dass (alle) Tarifverträge für die beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien unmittelbar und zwingend gelten.
Die Nichtanwendung legal zustande gekommener Tarifverträge kleiner, aber streikbereiter "echter" Gewerkschaften aufgrund der rechtlichen Privilegierung größerer Gewerkschaften ist aber nicht nur mit § 4 Abs.1 TVG, sondern auch mit Art.9 Abs.3 Satz 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar, und aus diesem Grund hat das BAG den Grundsatz der Tarifeinheit 2010 aufgegeben.
Denn zu der in Art.9 Abs.3 GG geschützten Koalitionsfreiheit gehören nicht nur die Streikfreiheit und die Freiheit zum Abschluss von Tarifverträgen, sondern natürlich auch rechtliche Rahmenbedingungen, die gewährleisten, dass solche Tarifverträge auch angewandt werden und nicht in der Ablage landen.
Forderungen nach einer gesetzlichen Festschreibung des Grundsatzes der Tarifeinheit
Nachdem das BAG seine Rechtsprechung zum Thema Tarifeinheit im Jahre 2010 geändert hatte, überraschten der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) die Öffentlichkeit mit einem gemeinsamen Gesetzesvorschlag, dem zufolge der Grundsatz der Tarifeinheit nunmehr gesetzlich festgeschrieben werden sollte (BDA, DGB: Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern - Tarifeinheit gesetzlich regeln).
Da diese Politik aber in eigenen Reihen auf Kritik stieß, ließen die DGB-Gewerkschaften das Projekt Mitte 2011 fallen (wir berichteten in: Arbeitsrecht aktuell: 11/114 BDA-DGB-Gesetzesinitiative zur Tarifeinheit beendet).
Kaum war das Thema wieder vom Tisch, verlangte die SPD im März 2012 eine gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit. Eine wenige Tage später abgehaltene Aussprache im Deutschen Bundestag zeigte allerdings, dass die SPD mit dieser Forderung politisch isoliert war.
Trotzdem einigten sich die CDU/CSU und die SPD in ihrem Koalitionsvertrag vom November 2013 auf das Ziel, "den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken". Zu diesem Zweck soll der Grundsatz der Tarifeinheit "nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber" gesetzlich festgeschrieben werden.
Die Bundesregierung macht ernst: Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit
Am 26.06.2014 wurde nunmehr ein Eckpunktepapier des Arbeitsministeriums zum Thema Tarifeinheit bekannt, das der Vorbereitung einer Gesetzesänderung dient und den Koalitionsvertrag in diesem Punkt umsetzen soll. Ziel ist die Auflösung von "Tarifpluralitäten". Dazu ist im Kern Folgendes vorgesehen:
Das Nebeneinander verschiedener Tarifverträge in einem Betrieb soll durch Anwendung des Mehrheitsprinzips aufgelöst werden, d.h. es sollen nur die Tarifverträge derjenigen Gewerkschaft zur Anwendung kommen, die im Betrieb mehr Mitglieder hat (Mehrheitsgewerkschaft).
Diese Verdrängung der Tarifverträge von Minderheitengewerkschaften ist als Auffangregel gedacht, d.h. diese gesetzliche Verdrängung soll in folgenden zwei Fällen nicht eingreifen:
- Erstens: Die beteiligten Gewerkschaften stimmen ihre Zuständigkeiten einvernehmlich untereinander ab und die von ihnen vereinbarten Tarifverträge gelten für jeweils verschiedene Arbeitnehmergruppen. Dann werden die Tarifverträge der verschiedenen Gewerkschaften auf die Arbeitnehmergruppen angewandt, auf die sie gemäß der von den Gewerkschaften getroffenen Vereinbarung Anwendung finden sollen ("gewillkürte Tarifpluralität").
- Zweitens: Es kommt zu inhaltsgleichen Tarifverträgen verschiedener Gewerkschaften, d.h. zu sog. Anschlusstarifverträgen. Auch dann werden die Tarifverträge kleinerer Gewerkschaften nicht kraft Gesetzes verdrängt, sondern auf deren Mitglieder angewandt.
Darüber hinaus sieht das Eckpunktepapier vor, dass kleinere Gewerkschaften nicht mehr für ihre eigenen Tarifverträge streiken dürfen, d.h. genauer gesagt: Sie sollen künftig an die Friedenspflicht gebunden sein, die sich aus den im Betrieb angewandten Tarifverträgen der Mehrheitsgewerkschaft ergibt. Im Eckpunktepapier heißt es dazu:
"Soweit sich im Betrieb Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften überschneiden, kommt nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft zur Anwendung, die im Betrieb mehr Mitglieder hat (Mehrheitsgewerkschaft). Dies schließt insoweit auch eine Erstreckung der Friedenspflicht aus dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft auf die Minderheitsgewerkschaft ein."
Nichtanwendung der Tarifverträge kleinerer Gewerkschaften und Koalitionsfreiheit
Wie erwähnt gehören zu der grundrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit (Art.9 Abs.3 Satz 1 GG) sämtlicher und damit auch kleinerer Gewerkschaften rechtliche Rahmenbedingungen, die die Anwendung der von der Gewerkschaft abgeschlossenen Tarifverträge auf ihre Mitglieder sicherstellen.
Diese Rahmenbedingungen sollen den kleineren Gewerkschaften nach den Zielvorstellungen des Eckpunktepapiers genommen werden. Darin liegt ein sehr erheblicher Eingriff in das Koalitionsgrundrecht der davon betroffenen Gewerkschaften.
Die Intensität dieses Eingriffs wird dadurch nicht abgemildert, dass das Gesetz es den Gewerkschaften "erlaubt", durch Vereinbarung die Arbeitnehmergruppen festzulegen, für die jeweils die die Tarifverträge der einen oder der anderen Gewerkschaft gelten soll.
Denn hier müssten die kleineren Gewerkschaften bei den Mehrheitsgewerkschaften betteln gehen, d.h. sie wären auf deren Gutdünken angewiesen. Die Mehrheitsgewerkschaften könnten solche Abstimmungen jederzeit verweigern, weil ihre Tarifverträge ja ohnehin gemäß dem Mehrheitsprinzip angewandt werden, und zwar auf alle Arbeitnehmergruppen des Betriebs.
Auch die Möglichkeit der Vereinbarung von Anschlusstarifverträgen mildert den geplanten Eingriff in die Koalitionsfreiheit der kleineren Gewerkschaften nicht ab. Anschlusstarifverträge sind Tarifverträge, die von den großen (DGB-)Gewerkschaften ausgehandelt werden und unter die sodann die kleineren Gewerkschaften auch "ihre Unterschrift setzen" dürfen, so dass sie formal Partei solcher Tarifverträge werden. Anschlusstarifverträge werden daher nicht ohne Grund auch Gefälligkeitstarifverträge genannt. Sie sind für kleinere Gewerkschaften im Vergleich zu den von ihnen selbst inhaltlich ausgehandelten Tarifverträgen wertlos.
Somit fragt sich, durch welche überwiegenden Belange des Gemeinwohls so extreme Eingriffe in die Koalitionsfreiheit kleinerer Gewerkschaften gerechtfertigt werden könnte. Im Eckpunktepapier heißt es hierzu:
"Die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie kann durch ungeordnete Tarifpluralitäten beeinträchtigt werden. Die Friedenspflicht des Tarifvertrags wird entwertet, wenn sich ein bereits tarifgebundener Arbeitgeber einer Vielzahl weiterer Forderungen und ggf. Arbeitskampfmaßnahmen konkurrierender Gewerkschaften gegenübersieht. Zudem können innerbetriebliche Verteilungskämpfe den Betriebsfrieden gefährden, soweit sich Interessengegensätze innerhalb der Belegschaft, die unter dem Grundsatz der Tarifeinheit intern von den Gewerkschaften zum Ausgleich gebracht werden, in die Tarifverhandlungen verlagern. Die Akzeptanz einer betrieblichen Lohnpolitik, die vor allem die besonderen Machtpositionen einzelner Berufsgruppen im Betriebsablauf prämiert, ist gering."
Wenn die Regierung selbst davon ausgeht, dass die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie durch das Nebeneinander verschiedener Tarifverträge lediglich beeinträchtigt werden "kann" (!) und wenn angebliche "innerbetriebliche Verteilungskämpfe" den sog. Betriebsfrieden gefährden "können", dann ist ein dringender Handlungsbedarf offensichtlich nicht gegeben.
Die Tarifautonomie funktioniert seit 2010 ganz gut, und auch größere Arbeitgeber, die Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften nebeneinander anwenden müssen, kommen damit offenbar praktisch zurecht.
Überwiegende Belange des Gemeinwohls, die die Tarifunmündigkeit kleinerer Gewerkschaften und deren Degradierung zu sozialpolitischen Debattierclubs rechtfertigen könnten, sind demnach nicht ersichtlich.
Kann die Regierung aber keine handfesten und überwiegenden Sachgründe für eine so extrem weitgehende Einschränkung der Koalitionsfreiheit kleinerer Gewerkschaften aufzeigen, ist die geplante Regelung zur Tarifeinheit verfassungswidrig, weil sie die Koalitionsfreiheit der kleineren Gewerkschaften verletzt.
Friedensflicht aufgrund der Tarifverträge Dritter und Streikrecht
Der Grundsatz der Tarifeinheit ist eine rechtliche Regel, die festlegt, welcher von verschiedenen, für den Arbeitgeber gleichermaßen verbindlichen Tarifverträgen auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung finden soll. Das Prinzip der Tarifeinheit beschränkt daher die Streikfreiheit kleinerer Gewerkschaften - entgegen einem weit verbreiteten Irrtum - zunächst einmal nicht.
Denn damit überhaupt verschiedene Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften nebeneinander bestehen, müssen sie ja erst einmal wirksam vereinbart worden sein. Und da zu Tarifverhandlungen im Normalfall Streiks (oder zumindest glaubwürdige Streikdrohungen) gehören, setzt der Grundsatz der Tarifeinheit als solcher dem Streikrecht kleinerer Gewerkschaften keine Schranken.
Solche Schranken allerdings sieht das jetzt vorliegende Eckpunktepapier vor. Damit geht es weit über die Rechtswirkungen hinaus, die der Grundsatz der Tarifeinheit gemäß der alten, im Jahre 2010 aufgegebenen BAG-Rechtsprechung hatte.
Denn wie erwähnt ist geplant, dass die kleineren Gewerkschaften künftig an die "Friedenspflicht aus dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft" gebunden sein sollen.
Hat daher zum Beispiel die DGB-Gewerkschaft ver.di als Mehrheitsgewerkschaft einen für Krankenhausärzte geltenden Tarifvertrag abgeschlossen, darf der Marburger Bund als Minderheitsgewerkschaft während der Laufzeit dieses Tarifvertrags keinen Streik führen.
Erst wenn die Friedenspflicht aus dem ver.di-Tarifvertrag abgelaufen ist und die ver.di daher streiken könnte, darf auch der Marburger Bund streiken und er darf sich dabei auch eigene Forderungen auf die Fahnen schreiben, nur endet das Streikrecht sofort, wenn die ver.di mit der Arbeitgeberseite einig geworden ist. Denn dann gibt es ja wieder einen Tarifvertrag für die Krankenhausärzte.
Eine eigenständige Streikplanung und Streikführung wäre daher für eine Minderheitengewerkschaft wie den Marburger Bund gar nicht mehr möglich.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Arbeitgeberseite während laufender Streiks ja gar nicht mehr ernsthaft mit einer Minderheitengewerkschaft verhandeln müsste. Denn deren Tarifverträge sind ja ohnehin dazu bestimmt, in der Ablage landen, d.h. sie sollen dem Grundsatz der Tarifeinheit zum Opfer fallen.
Eine so extreme Beschränkung des Streikrechts wäre nur rechtens, wenn es dafür überwiegenden Belange des Gemeinwohls gäbe. Solche Gründe sind aber nicht ersichtlich.
In Deutschland wird im Vergleich zu anderen Ländern sehr selten gestreikt und wenn überhaupt, dann nur für kurze Zeit. Es ist nicht erkennbar, dass das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften größere volkswirtschaftliche "Schäden" anrichtet als das Streikrecht der DGB-Gewerkschaften.
Die bloße abstrakte Möglichkeit, dass ein und derselbe Arbeitgeber sich einer Mehrzahl von Gewerkschaften gegenübersehen könnte und mit diesen unter Androhung von Streiks verhandeln müsste, ist alles andere als ein untragbarer Zustand, der einen so massiven gesetzlichen Grundrechtseingriff rechtfertigen könnte.
An dieser Stelle muss man sich auch vor Augen halten, dass Art.9 Abs.3 Satz 3 GG sogar für Fälle des Notstands und des Spannungsfalls keine gegen Arbeitskämpfe gerichteten Maßnahmen erlaubt. Wenn aber bereits die Notstandsverfassung das Streikrecht ausklammert, dann sind die von der Bundesregierung nur nebulös und schlagwortartig genannten "Sachgründe" nicht ausreichend, um eine weitgehende Lahmlegung kleiner Gewerkschaften zu rechtfertigen.
Im Ergebnis wäre die jetzt geplante weitgehende Beseitigung des Streikrechts kleinerer Gewerkschaften verfassungswidrig, weil sie deren Grundrecht auf Streik (Art.9 Abs.3 GG) verletzen würde.
Anti-Gewerkschaftsgesetzgebung und Verfassung
Die geplante Privilegierung der etablierten und mitgliederstarken DGB-Gewerkschaften richtet sich unverhohlen gegen Gewerkschaften, die nach einem anderen Prinzip als die DGB-Gewerkschaften organisiert sind:
Während die DGB-Gewerkschaften nach dem sog. Industrieverbandsprinzip organisiert sind, d.h. nach dem Prinzip "eine Branche - eine Gewerkschaft", folgen die kleineren Gewerkschaften, gegen die sich das Gesetzesvorhaben richtet, dem Berufsgruppenprinzip, d.h. dem Prinzip "ein Beruf - eine Gewerkschaft".
Beide Organisationsprinzipien sind verfassungsrechtlich gleichermaßen durch die Koalitionsfreiheit geschützt, haben allerdings faktisch unterschiedliche Folgen für die Mitgliederzahl. Wenn eine Gewerkschaft von vornherein nur die Berufsgruppe der Ärzte, der Piloten oder der Lokführer organisieren möchte, wird sie zwangsläufig niemals so viele Mitglieder gewinnen können wie eine Gewerkschaft, die allen Arbeitnehmern der gesamten Dienstleistungsbranche offensteht.
Die geplante gesetzliche Regelung ist offen darauf gerichtet, die Rechte der kleinen (Berufsgruppen-)Gewerkschaften zugunsten der großen (Industrie-)Gewerkschaften des DGB zu beschneiden. Denn das Gesetzesvorhaben ist ausdrücklich gegen eine gewerkschaftliche Lohnpolitik gerichtet, "die vor allem die besonderen Machtpositionen einzelner Berufsgruppen im Betriebsablauf prämiert" (Eckpunktepapier), d.h. der Gesetzgeber möchte explizit und zielgerichtet die Rechte der nach dem Berufsgruppenprinzip organisierten Gewerkschaften beschneiden.
Welche dieser Organisationsprinzipien "richtig" oder "besser" ist, hat aber nicht der Staat zu entscheiden. Das ist eine koalitionspolitische Streitfrage, die dem freien Wettbewerb der Gewerkschaften und deren Überzeugungsarbeit bei der Mitgliederwerbung überlassen bleiben muss.
Die derzeit bekannt gewordene gesetzgeberische Zielsetzung verstößt als solche bereits gegen das Grundgesetz, d.h. gegen die Koalitionsfreiheit (Art.9 Abs.3 GG) und auch gegen den Gleichheitssatz (Art.3 Abs.1 GG). Denn die staatliche Gesetzgebung muss dafür Sorge tragen, dass alle echten (d.h. "sozial mächtigen" bzw. streikbereiten) Arbeitnehmerkoalitionen formal gleiche rechtliche Chancen haben, gemäß ihren frei gewählten und von der Koalitionsfreiheit geschützten Organisationsgrundsätzen erfolgreich zu sein.
Im Ergebnis würde die geplante Anti-Gewerkschaftsgesetzgebung dazu führen, dass neue und mit den etablierten DGB-Gewerkschaften konkurrierende Berufsgruppen-Gewerkschaften aus rechtlichen Gründen dauerhaft keine Chance hätten, echte Tarifverträge abzuschließen und dafür zu streiken. Dadurch würden die von den Regierungsplänen rechtlich privilegierten Industrieverbands-Gewerkschaften des DGB faktisch zu Staatsgewerkschaften. Das würde die verfassungsrechtlich gebotene rechtliche Chancengleichheit der Gewerkschaften im Wettbewerb um neue Mitglieder und tarifpolitische Erfolge zunichte machen und den freiheitlichen Charakter des deutschen Tarifvertragssystems zerstören.
Fazit: Das Eckpunktepapier zum Grundsatz der Tarifeinheit beinhaltet offenkundige und massive Grundrechtsverletzungen
Angesichts der Tatsache, dass der Staat mit dem jetzt vorliegenden Eckpunktepapier das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine für den Normalfall von Tarifverhandlungen geltende gesetzliche Regelung des Streikrechts plant, ist die Arroganz bemerkenswert, mit der die Regierung handgreifliche und seit Jahren bekannte verfassungsrechtliche Probleme ignoriert. Anscheinend hat es die große Koalition in ihrer Machtfülle nicht nötig, Grundrechte zu beachten.
Natürlich ist der Staat nicht gehindert, den Streik gesetzlich zu regeln und in einem Streikgesetz zum Beispiel eine obligatorische Schlichtungsphase vorzuschreiben oder gewisse Änderungen der bisherigen Rechtsprechung zum Streikrecht vorzunehmen. Ein solches Streikgesetz müsste aber einheitlich für alle Gewerkschaften gelten und dürfte sich nicht gezielt gegen "kleine" Sparten- bzw. Berufsgruppengewerkschaften richten.
Möglicherweise spekuliert man in den Ministerien auch darauf, dass es Jahre dauern kann, bis das jetzt geplante Gesetz vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geprüft und aufgehoben wird, und bis dahin hat man erst einmal Tatsachen geschaffen. Eine solche Taktik könnte aber scheitern, denn die kleinen Gewerkschaften werden sich wahrscheinlich nicht an ein offenkundig verfassungswidriges Streikverbot halten. Dann wird es zu arbeitsgerichtlichen Eilverfahren kommen und möglicherweise auch zu einer Eilentscheidung des BVerfG.
Die Politiker der großen Koalition wären im übrigen gut beraten, zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht nur die betroffenen kleinen Gewerkschaften gegen die Pläne der Regierung Sturm laufen, sondern dass auch die DGB-Gewerkschaften mittlerweile auf Distanz zu der aktuellen Antistreikgesetzgebung gegangen sind. Zwar hätte man beim DGB nichts gegen eine gesetzliche Wiedereinführung der Tarifeinheit, doch wendet man sich auch dort gegen eine Beschränkung des Streikrechts kleinerer Gewerkschaften.
Nähere Informationen finden Sie hier:
- Arbeitsministerium: Eckpunkte zu einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit (26.06.2014)
- Der Tagesspiegel, 29.06.2014: "Eingriff in das Streikrecht" IG Metall rückt ab von Regierungsplänen zur Tarifeinheit
- Handbuch Arbeitsrecht: Streik und Streikrecht
- Handbuch Arbeitsrecht: Tarifeinheit, Grundsatz der Tarifeinheit
- Handbuch Arbeitsrecht: Tarifvertrag
- Arbeitsrecht aktuell: 15/292 Eilanträge gegen Tarifeinheit gescheitert
- Arbeitsrecht aktuell: 15/139 Tarifeinheit und internationales Recht
- Arbeitsrecht aktuell: 15/032 Gesetzentwurf zur Tarifeinheit
- Arbeitsrecht aktuell: 15/006 Tarifeinheit und Streikrecht
- Arbeitsrecht aktuell: 14/387 Frage des Arbeitgebers nach der Gewerkschaftszugehörigkeit
- Arbeitsrecht aktuell: 12/143 Reizthema Tarifeinheit
- Arbeitsrecht aktuell: 11/114 BDA-DGB-Gesetzesinitiative zur Tarifeinheit beendet
- Arbeitsrecht aktuell: 10/134 Abschied vom Grundsatz der Tarifeinheit
- Plenarprotokoll 17/164, Seite 19479: Aktuelle Stunde des Deutschen Bundestages vom 07.03.2012 zum Thema "Tarifeinheit sicherstellen - Tarifzersplitterung vermeiden"
- Franzen/Thüsing/Waldhoff: Gesetzesentwurf "Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge", vorgestellt am 19.03.2012
- RWI (2011), Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen
- BDA, DGB: Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern - Tarifeinheit gesetzlich regeln
Letzte Überarbeitung: 16. November 2020
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