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ARBEITSRECHT AKTUELL // 15/032

Ge­setz­ent­wurf zur Ta­rif­ein­heit

Bun­des­re­gie­rung will Ta­rif­ein­heit trotz ver­fas­sungs­recht­li­cher Be­den­ken ge­setz­lich vor­schrei­ben: Ent­wurf ei­nes Ge­set­zes zur Ta­rif­ein­heit (Ta­rif­ein­heits­ge­setz), Ge­setz­ent­wurf der Bun­des­re­gie­rung vom 29.12.2014, Bun­des­rat Drucks. 635/14
Handschlag Playmobil Müs­sen Ar­beit­ge­ber künf­tig nur noch mit ei­ner Ge­werk­schaft ver­han­deln?

30.01.2015. Nach­dem die Bun­des­re­gie­rung im Som­mer 2014 in ei­nem Eck­punk­te­pa­pier zur Ta­rif­ein­heit an­ge­kün­digt hat­te, ei­ne ge­setz­li­che Re­ge­lung zur Ta­rif­ein­heit auf den Weg zu brin­gen, hat sie En­de De­zem­ber 2014 ei­nen kon­kre­ten Ge­setz­ent­wurf vor­ge­legt.

An­ders als ur­sprüng­lich im Eck­punk­te­pa­pier ge­plant soll das Streik­recht nun doch nicht per Ge­setz ein­ge­schränkt wer­den. Trotz­dem dürf­te es für klei­ne­re Ge­werk­schaf­ten künf­tig schwer wer­den, ih­re An­hän­ger zu Streiks zu mo­bi­li­sie­ren.

Im fol­gen­den fin­den Sie ei­nen Über­blick über die we­sent­li­chen In­hal­te des Ge­setz­ent­wurfs: Ent­wurf ei­nes Ge­set­zes zur Ta­rif­ein­heit (Ta­rif­ein­heits­ge­setz), Ge­setz­ent­wurf der Bun­des­re­gie­rung vom 29.12.2014, Bun­des­rat Drucks. 635/14.

We­sent­li­cher In­halt des Ge­setz­ent­wurfs

Wie die Bun­des­re­gie­rung be­reits im Som­mer 2014 in ih­rem Eck­punk­te­pa­pier des Ar­beits­mi­nis­te­ri­ums zur Ta­rif­ein­heit vom 26.06.2014 deut­lich ge­macht hat­te (wir be­rich­te­ten in: Ar­beits­recht ak­tu­ell: 14/232 Eck­punk­te zur Ta­rif­ein­heit und Streik­recht), soll die ge­setz­li­che Ver­an­ke­rung der Ta­rif­ein­heit im We­sent­li­chen in ei­nem be­trieb­li­chen Mehr­heits­prin­zip be­ste­hen. Die­se Re­ge­lung ist in § 4a Abs.2 Satz 2 Ta­rif­ver­trags­ge­setz (TVG) neue Fas­sung (n.F.) ent­hal­ten und lau­tet:

"So­weit sich die Gel­tungs­be­rei­che nicht in­halts­glei­cher Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten über­schnei­den (kol­li­die­ren­de Ta­rif­verträge), sind im Be­trieb nur die Rechts­nor­men des Ta­rif­ver­trags der­je­ni­gen Ge­werk­schaft an­wend­bar, die zum Zeit­punkt des Ab­schlus­ses des zu­letzt ab­ge­schlos­se­nen kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags im Be­trieb die meis­ten in ei­nem Ar­beits­verhält­nis ste­hen­den Mit­glie­der hat."

Die­se Re­ge­lung nimmt den In­halts­nor­men, die in den Ta­rif­verträge ei­ner be­trieb­li­chen Min­der­heits­ge­werk­schaft ent­hal­ten sind, ih­re nor­ma­ti­ve bzw. ge­set­zes­glei­che Wir­kung, die sie ei­gent­lich nach § 4 Abs.1 Satz 1 TVG ha­ben würden, vor­aus­ge­setzt, so­wohl der Ar­beit­neh­mer (als Mit­glied der Min­der­heits­ge­werk­schaft) als auch der Ar­beit­ge­ber (als Ta­rif­ver­trags­par­tei oder Mit­glie­der ei­nes Ar­beit­ge­ber­ver­ban­des) sind ta­rif­ge­bun­den.

Von ei­ner "Kol­li­si­on" zu re­den ist übri­gens nicht ganz rich­tig, denn nach dem Ge­setz wir­ken der Ta­rif­ver­trag der Mehr­heits­ge­werk­schaft und der der Min­der­heits­ge­werk­schaft par­al­lel auf die Ar­beits­verhält­nis­se ih­rer je­wei­li­gen Mit­glie­der ein, d.h. ei­ne Kol­li­si­on be­steht nur dann, wenn ein Ar­beit­neh­mer in bei­den Ge­werk­schaf­ten zu­gleich ist.

Die ge­plan­te Neu­re­ge­lung schließt al­ler­dings nicht aus, dass die Ta­rif­verträge ei­ner be­trieb­li­chen Min­der­heits­ge­werk­schaft wei­ter­hin (trotz "kol­li­die­ren­der" Ta­rif­verträge ei­ner Mehr­heits­ge­werk­schaft) an­zu­wen­den sind, weil ih­re Gel­tung nämlich ar­beits­ver­trag­lich durch Be­zug­nah­me­klau­seln ver­ein­bart wor­den ist.

Wie be­reits im Eck­punk­te­pa­pier zur Ta­rif­ein­heit vom 26.06.2014 vor­ge­se­hen, stellt auch die Ge­set­zes­be­gründung klar, dass die ge­setz­li­che Ver­drängung von Ta­rif­verträgen nur hilfs­wei­se ("sub­si­diär") ein­greift, nämlich dann, wenn sich die "Ta­rif­kol­li­si­on" nicht be­reits durch an­de­re Re­ge­lun­gen in Luft auflöst. Sol­che an­de­ren Re­ge­lun­gen können

  • Ta­rif­ge­mein­schaf­ten ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten sein, oder
  • die ein­ver­nehm­li­che Ab­gren­zung von Zuständig­kei­ten für be­stimm­te Be­rufs­grup­pen zwi­schen Ge­werk­schaf­ten, oder
  • der Ab­schluss von An­schluss­ta­rif­verträgen oder von in­halts­glei­chen Ta­rif­verträgen, oder
  • ver­bands­in­ter­ne Schieds­ver­fah­ren wie sie z.B. zwi­schen ver­schie­de­nen DGB-Ge­werk­schaf­ten prak­ti­ziert wer­den, wenn zwi­schen ih­nen Streit über die Ta­rif­zuständig­keit be­steht.

Als Trost­pflas­ter für die klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten, de­ren Ta­rif­verträge der Ta­rif­ein­heit zum Op­fer fal­len sol­len, sieht das Ge­setz ei­nen An­spruch auf "Nach­zeich­nung der Rechts­nor­men ei­nes mit ih­rem Ta­rif­ver­trag kol­li­die­ren­den Ta­rif­ver­trags" vor (§ 4a Abs.4 Satz 1 TVG n.F.), d.h. auf Ab­schluss ei­nes mit dem Ta­rif­ver­trag des großen Bru­ders in­halts­glei­chen Ta­rif­ver­trags. Außer­dem müssen Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­ge­ber­verbände die Auf­nah­me von Ta­rif­ver­hand­lun­gen be­kannt­ma­chen, da­mit sich die klei­ne­ren Ge­werk­schaf­ten Gehör ver­schaf­fen können. Kon­kret ha­ben sie das Recht,

"dem Ar­beit­ge­ber oder der Ver­ei­ni­gung von Ar­beit­ge­bern ih­re Vor­stel­lun­gen und For­de­run­gen münd­lich vor­zu­tra­gen."

Sch­ließlich sieht die Neu­re­ge­lung auch Ergänzun­gen des Ar­beits­ge­richts­ge­set­zes (ArbGG) vor, mit de­nen den Ar­beits­ge­rich­ten die Ent­schei­dung über den kraft des Mehr­heits­prin­zips an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag zu­ge­wie­sen wird und mit de­nen klar­ge­stellt wird, dass die An­zahl der im Be­trieb ar­bei­ten­den Ge­werk­schafts­an­gehöri­gen vor Ge­richt durch Vor­la­ge no­ta­ri­el­ler Ur­kun­den be­wie­sen wer­den kann, da­mit die Ge­werk­schafts­mit­glie­der sich nicht dem Ar­beit­ge­ber ge­genüber "ou­ten" müssen.

Be­gründung des Ge­setz­ent­wurfs

Für ei­ne ge­setz­lich ver­ord­ne­te be­trieb­li­che Ta­rif­ein­heit führt die Ge­set­zes­be­gründung fol­gen­de Ar­gu­men­te an:

  • Kol­li­die­ren­de ta­rif­li­che Re­ge­lun­gen im Be­trieb be­ein­träch­tig­ten "die Schaf­fung ei­ner wi­der­spruchs­frei­en Ord­nung der Ar­beits­be­zie­hun­gen im Be­trieb", d.h. die "Kohärenz des im Be­trieb gel­ten­den Ent­gelt­sys­tems"
  • Die "Ver­tei­lungs­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags" sei "gestört", wenn Ta­riflöhne "vor al­lem Aus­druck der je­wei­li­gen Schlüssel­po­si­tio­nen der un­ter­schied­li­chen Beschäftig­ten­grup­pen" sei­en. Das lau­fe der "in­ner­be­trieb­li­chen Lohn­ge­rech­tig­keit" zu­wi­der.
  • Un­ter der Bes­ser­stel­lung von Ar­beit­neh­mern mit "Schlüssel­po­si­tio­nen" lei­de die "Be­frie­dungs­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags", der "Be­triebs­frie­den" und die "Ak­zep­tanz" ei­ner sol­chen Lohn­po­li­tik bei den Ar­beit­neh­mern.
  • Durch die Ta­rifp­lu­ra­lität kom­me es zu "Ver­tei­lungskämp­fen" kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten.
  • Die "Be­frie­dungs­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags" wer­de be­ein­träch­tigt, weil "sich ein be­reits ta­rif­ge­bun­de­ner Ar­beit­ge­ber je­der­zeit ei­ner Viel­zahl wei­te­rer For­de­run­gen kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten ge­genüber­se­hen kann".
  • Ta­rif­kol­li­sio­nen er­schwer­ten die Ver­ein­ba­rung von be­triebs­ein­heit­lich gel­ten­den Ta­rif­nor­men, die vor al­lem in Kri­sen­zei­ten bzw. in Sa­nie­rungsfällen nötig sei­en.
  • Die "Ent­so­li­da­ri­sie­rung der Be­leg­schaf­ten" durch die Ta­rifp­lu­ra­lität könne so weit ge­hen, dass Ar­beit­neh­mer oh­ne Schlüssel­funk­tio­nen nicht mehr aus­rei­chend durch Ta­rif­verträge geschützt würden.

Im We­sent­li­chen ver­wei­sen die Ge­set­zes­ver­fas­ser da­mit auf die an­geb­lich zu große Macht von Funk­ti­ons­eli­ten, wenn die­se in Be­rufs­ge­werk­schaf­ten or­ga­ni­siert sind und die Ge­fahr ei­nes Über­bie­tungs­wett­be­werbs zwi­schen den Ge­werk­schaf­ten.

Kri­tik der Ge­set­zes­be­gründung

Die Ge­set­zes­be­gründung ist durch die Ver­wen­dung ne­bel­haf­ter Schlagwörter ge­kenn­zeich­net und kann da­her nicht über­zeu­gen.

  • Ta­rif­li­che Re­ge­lun­gen ent­hal­ten im­mer in ei­nem ge­wis­sen Um­fang "Wi­dersprüche", auch wenn sie von ei­ner Ge­werk­schaft stam­men, z.B. bei der sinn­vol­len Ab­gren­zung ver­schie­de­ner Vergütungs­grup­pen des­sel­ben Ta­rif­ver­trags. Dass Un­ter­neh­men un­ter­schied­li­che Ta­rif­verträge ne­ben­ein­an­der auf die­sel­ben Ar­beit­neh­mer­grup­pen an­wen­den können, ist im Zeit­al­ter der EDV-gestütz­ten Lohn­ab­rech­nun­gen selbst­verständ­lich.
  • Ta­riflöhne sind auch dann "Aus­druck der je­wei­li­gen Schlüssel­po­si­tio­nen der un­ter­schied­li­chen Beschäftig­ten­grup­pen", wenn sie in Lohn­ta­rif­verträgen ei­ner DGB-Ge­werk­schaft ent­hal­ten sind. (Männ­li­che) Fach­ar­bei­ter be­zie­hen tra­di­tio­nell sehr viel höhe­re Ta­riflöhne als an­de­re, vor­wie­gend weib­li­che Ar­beit­neh­mer­grup­pen.
  • Dass die Bes­ser­stel­lung von Ar­beit­neh­mern mit "Schlüssel­po­si­tio­nen" bei den Ar­beit­neh­mern nicht "ak­zep­tiert" wer­de und dass dies die "Be­frie­dungs­funk­ti­on des Ta­rif­ver­trags" oder den "Be­triebs­frie­den" (?) be­ein­träch­ti­gen soll, müss­te man mit kon­kre­ten Bei­spie­len und fak­ti­schen Be­le­gen nach­wei­sen. Die An­ein­an­der­rei­hung po­li­ti­scher Blähwörter kann je­den­falls nicht über­zeu­gen. Ab­ge­se­hen da­von ist ab­seh­bar, dass die Neu­re­ge­lung die Ge­werk­schaf­ten zwin­gen wird, in möglichst vie­len Be­trie­ben möglichst vie­le Ar­beit­neh­mer­grup­pen zu ver­tre­ten, d.h. zu wach­sen. Das wird Kon­flik­te zwi­schen den Ge­werk­schaf­ten um Ta­rif­zuständig­kei­ten, wie sie der­zeit zwi­schen der Ge­werk­schaft Deut­scher Lo­ko­mo­tivführer (GDL) und der Ei­sen­bahn- und Ver­kehrs­ge­werk­schaft (EVG) be­ste­hen, wei­ter an­hei­zen.
  • Es gibt in Deutsch­land kaum "Ver­tei­lungskämp­fe" kon­kur­rie­ren­der Ge­werk­schaf­ten, d.h. ei­nen Über­bie­tungs­wett­be­werb, son­dern viel­mehr ei­nen Wett­be­werb nach un­ten, d.h. ei­nen Un­ter­bie­tungs­wett­be­werb. Leih­ar­beit­neh­mer wer­den nach schlech­te­ren Ta­rif­verträgen be­zahlt, was Be­leg­schaf­ten spal­tet, christ­li­che Ge­werk­schaf­ten die­nen sich mit Dum­ping-Ta­rif­verträgen an usw. Dar­un­ter und nicht un­ter ei­nem an­geb­li­chen Über­bie­tungs­wett­be­werb lei­det die Ta­rif­au­to­no­mie.
  • Dass "ein be­reits ta­rif­ge­bun­de­ner Ar­beit­ge­ber" auf wei­te­re For­de­run­gen an­de­rer Ge­werk­schaf­ten ein­ge­hen muss, kommt äußert sel­ten vor, da es fak­tisch nur ei­ni­ge we­ni­ge Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten gibt. Wenn es aber ein­mal zu ei­nem sol­chen Ne­ben­ein­an­der von Ta­rif­for­de­run­gen kommt, ist das eben Aus­druck der Ko­ali­ti­ons­frei­heit der Ar­beit­neh­mer.
  • In Kri­sen­zei­ten und Sa­nie­rungsfällen wer­den sich die im Be­trieb ver­tre­te­nen Ge­werk­schaf­ten si­cher auf ei­ne be­triebs­ein­heit­li­che Li­nie ei­ni­gen können. Außer­dem ist es we­nig über­zeu­gend, all­ge­mein gel­ten­de ta­rif­recht­li­che Re­ge­lun­gen mit Kri­sen­zei­ten und Sa­nie­rungsfällen zu be­gründen, d.h. mit Aus­nah­me­si­tua­tio­nen.
  • Die "Ent­so­li­da­ri­sie­rung der Be­leg­schaf­ten" ist nicht Fol­ge ei­ner ge­setz­lich un­ge­re­gel­ten Ta­rifp­lu­ra­lität, son­dern des weit ver­brei­te­ten Ein­sat­zes von Leih­ar­beit­neh­mern, der Auf­spal­tung von Un­ter­neh­men und Be­trie­ben zwecks Um­ge­hung teu­rer Ta­rif­verträge und nicht zu­letzt auch der Pri­va­ti­sie­rung öffent­li­cher Un­ter­neh­men.

Das zen­tra­le Ar­gu­ment ei­nes dro­hen­den Über­bie­tungs­wett­be­werbs zwi­schen kon­kur­rie­ren­den Ge­werk­schaf­ten kann nicht über­zeu­gen. Die re­la­ti­ve Macht von Funk­ti­ons­eli­ten hat so oder so Fol­gen für die Ta­rif­pra­xis: Auch die DGB-Ge­werk­schaf­ten kom­men nicht um­hin, Ta­rif­verträge ab­zu­sch­ließen, die ei­ne be­son­ders gu­te Be­zah­lung von Funk­ti­ons­eli­ten vor­se­hen.

Fak­tisch ist die Ge­fahr ei­nes Sich-Hoch­schau­kelns von Ta­rif­for­de­run­gen viel ge­rin­ger als die Ge­fahr, dass Schein­ge­werk­schaf­ten oder ar­beit­ge­ber­na­he Ge­werk­schaf­ten Dum­ping­ta­rif­verträge ver­ein­ba­ren und da­mit die Ta­rif­verträge ech­ter Ge­werk­schaf­ten aus­he­beln.

Ver­drängung der Ta­rif­verträge von Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten und Ko­ali­ti­ons­frei­heit

Die Ver­drängung der Ta­rif­verträge der be­trieb­li­chen Min­der­heits­ge­werk­schaft ist ver­fas­sungs­wid­rig, denn sie nimmt der be­trieb­lich klei­ne­ren Ge­werk­schaft den Kern ih­rer durch Art.9 Abs.3 Grund­ge­setz (GG) geschütz­ten Ko­ali­ti­ons­frei­heit. Das ist vom GG nicht ge­deckt, denn der Ge­setz­ge­ber hat nicht die Möglich­keit, so weit­ge­hend in die Ko­ali­ti­ons­frei­heit ein­zu­grei­fen.

Der we­sent­li­che Ge­halt der Ko­ali­ti­ons­frei­heit be­steht nämlich in der nor­ma­ti­ven bzw. ge­set­zes­glei­chen An­wen­dung der Ta­rif­verträge auf die Ge­werk­schafts­mit­glie­der. Oh­ne die recht­li­che Ab­si­che­rung der Ta­rif­an­wen­dung wer­den aus Ge­werk­schaf­ten so­zi­al­po­li­ti­sche De­bat­tier­clubs. De­ren Bil­dung und Betäti­gung ist nicht erst durch die Ko­ali­ti­ons­frei­heit (Art.9 Abs.3 GG), son­dern be­reits durch die all­ge­mei­ne Ver­ei­ni­gungs­frei­heit (Art.9 Abs.1 GG) geschützt.

An der Ver­fas­sungs­wid­rig­keit der ge­plan­ten ge­setz­li­chen Ver­drängung der Ta­rif­verträge klei­ne­rer Ge­werk­schaf­ten ändert die An­wen­dung des Mehr­heits­prin­zips nichts, denn das Mehr­heits­prin­zip ist hier nicht de­mo­kra­tisch be­gründet. Es ist viel­mehr ei­ne Aus­wir­kung der Or­ga­ni­sa­ti­ons­ent­schei­dun­gen des Ar­beit­ge­bers. 

Der Ar­beit­ge­ber kann nämlich auf­grund sei­ner Or­ga­ni­sa­ti­ons­ge­walt je­der­zeit über die Größe und den Zu­schnitt sei­ner Be­trie­be be­lie­big ent­schei­den und da­mit auch über die Aus­wir­kun­gen des Mehr­heits­prin­zips. Letzt­lich hat es der Ar­beit­ge­ber (!) da­mit in der Hand, durch ge­eig­ne­te Auf­tei­lun­gen bzw. Zu­sam­men­le­gun­gen von Be­trie­ben und Be­triebs­tei­len die ihm ge­neh­me Ge­werk­schaft in die Mehr­heits­po­si­ti­on zu brin­gen. Der Kölner Ar­beits­rechts­pro­fes­sor Ul­rich Preis hat dar­auf hin­ge­wie­sen, dass al­lein im Un­ter­neh­men der Deut­schen Bahn AG über 300 Be­trie­be be­ste­hen, d.h. hier wäre drei­hun­dert­mal zu prüfen, wel­che der kon­kur­rie­ren­den Bahn­ge­werk­schaf­ten die je­wei­li­ge Mehr­heit der Ar­beit­neh­mer hin­ter sich hat.

Aber auch ab­ge­se­hen da­von: Der Grund­rechts­schutz dient ge­ra­de den­je­ni­gen Per­so­nen und Ver­ei­ni­gun­gen, die in der Min­der­heit sind.

Die ge­plan­te Re­ge­lung wäre auch dann ver­fas­sungs­wid­rig, wenn die Aus­le­gung der ge­plan­ten Neu­re­ge­lung er­ge­ben soll­te, dass die Ta­rif­verträge be­trieb­li­cher Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten nicht ver­drängt wer­den, wenn sie kraft ar­beits­ver­trag­li­cher Be­zug­nah­me gel­ten. Denn auch dann, wenn die Neu­re­ge­lung nur ei­ne be­grenz­te, nämlich auf die nor­ma­ti­ve Wir­kung von Ta­rif­verträgen be­zo­ge­ne Wir­kung hätte, wäre sie mit der Ko­ali­ti­ons­frei­heit der klei­ne­ren Ge­werk­schaft un­ver­ein­bar.

Ta­rif­ein­heit und Streik­recht

Die ge­setz­li­che Neu­re­ge­lung will of­fi­zi­ell nicht in das Streik­recht der Min­der­heits­ge­werk­schaft ein­grei­fen. An­ders als das Eck­punk­te­pa­pier zur Ta­rif­ein­heit vom 26.06.2014, das ei­ne Bin­dung der Min­der­heits­ge­werk­schaft an die aus den Ta­rif­verträgen der Mehr­heits­ge­werk­schaft fol­gen­den Frie­dens­pflicht vor­sah, enthält der jetzt vor­lie­gen­de Ge­setz­ent­wurf vom 29.12.2014 kei­ne Re­ge­lun­gen zum Streik­recht.

Al­ler­dings geht die Ge­set­zes­be­gründung da­von aus, dass die Ar­beits­ge­rich­te Streiks un­ter­sa­gen wer­den, wenn sie von ei­ner Min­der­heits­ge­werk­schaft mit dem Ziel geführt wer­den, ei­nen Ta­rif­ver­trag ab­zu­sch­ließen, der letzt­lich we­gen des Mehr­heits­prin­zips nicht an­ge­wen­det wer­den würde. Da­mit weicht der Ge­setz­ge­ber der un­an­ge­neh­men Be­gren­zung des Streik­rechts aus und überlässt die­se heik­len Fra­gen lie­ber den Ar­beits­ge­rich­ten. Hier­zu heißt es in der Ge­set­zes­be­gründung:

"Die Re­ge­lun­gen zur Ta­rif­ein­heit ändern nicht das Ar­beits­kampf­recht. Über die Verhält­nismäßig­keit von Ar­beitskämp­fen, mit de­nen ein kol­li­die­ren­der Ta­rif­ver­trag er­wirkt wer­den soll, wird al­ler­dings im Ein­zel­fall im Sin­ne des Prin­zips der Ta­rif­ein­heit zu ent­schei­den sein. Der Ar­beits­kampf ist Mit­tel zur Si­che­rung der Ta­rif­au­to­no­mie. Der Ar­beits­kampf dient nicht der Si­che­rung der Ta­rif­au­to­no­mie, so­weit dem Ta­rif­ver­trag, der mit ihm er­wirkt wer­den soll, ei­ne ord­nen­de Funk­ti­on of­fen­sicht­lich nicht mehr zu­kom­men würde, weil die ab­sch­ließen­de Ge­werk­schaft kei­ne Mehr­heit der or­ga­ni­sier­ten Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer im Be­trieb ha­ben würde."

Die­se Rech­nung dürf­te al­ler­dings nicht auf­ge­hen, denn wel­che Ge­werk­schaft in wel­chen Be­trie­ben in der Mehr­heits- bzw. Min­der­heits­si­tua­ti­on ist, kann man erst nach Be­en­di­gung des Streiks und Ab­schluss des Ta­rif­ver­trags wis­sen.

Denn ers­tens legt der Ta­rif­ver­trag sei­nen be­trieb­li­chen An­wen­dungs­be­reich fest, zwei­tens können Ar­beit­ge­ber je­der­zeit den Zu­schnitt ih­rer Be­trie­be ändern und außer­dem ha­ben Streiks meis­tens po­si­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf die Mit­glie­der­ent­wick­lung: Vie­le Ar­beit­neh­mer tre­ten im Ver­lauf von Streiks in die Ge­werk­schaft ein. Das al­les führt da­zu, dass sich die Ar­beits­ge­rich­te kaum da­zu her­ge­ben wer­den, der Auf­for­de­rung der Ge­set­zes­ver­fas­ser zu rich­ter­li­chen Streik­ver­bo­ten nach­zu­kom­men.

Wich­ti­ger als ei­ne von der Neu­re­ge­lung aus­ge­spar­te recht­li­che Be­schränkung des Streik­rechts dürf­te die fak­ti­sche Be­ein­träch­ti­gung der Streikmöglich­kei­ten klei­ne­rer Ge­werk­schaf­ten sein: Wenn sie nur noch Ta­rif­verträge ab­sch­ließen können, die da­zu be­stimmt sind, in der Ab­la­ge zu lan­den, dürf­te es schwer und auf die Dau­er unmöglich wer­den, Ar­beit­neh­mer für ei­nen Streik zu mo­bi­li­sie­ren.

Fa­zit

Die ge­plan­te Neu­re­ge­lung sieht ei­ne Über­g­angs­re­ge­lung zu­guns­ten von Ta­rif­verträgen vor, die zum Zeit­punkt des In­kraft­tre­tens des Ge­set­zes be­reits be­ste­hen.

Ab­ge­se­hen von die­sem Be­stands­schutz soll es den Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten an den Kra­gen ge­hen, d.h. sie sol­len letzt­lich von der ta­rif­po­li­ti­schen Bühne ver­schwin­den. Das ist völlig un­verhält­nismäßig und da­her auf­grund der Ver­let­zung von Art.9 Abs.3 GG ver­fas­sungs­wid­rig. Denn wie erwähnt gehören zur Ko­ali­ti­ons­frei­heit (Art.9 Abs.3 Satz 1 GG) al­ler und da­mit auch der klei­nen Ge­werk­schaf­ten recht­li­che Re­ge­lun­gen, die die An­wen­dung der von der Ge­werk­schaft aus­ge­han­del­ten Ta­rif­verträge auf ih­re Mit­glie­der gewähr­leis­ten.

In die­ses Grund­recht kann der Ge­setz­ge­ber nur im Rah­men ei­ner ge­setz­li­chen Aus­ge­stal­tung ein­grei­fen oder aber zum Schutz gleich­ran­gi­ger Güter von Ver­fas­sungs­rang. Da die ge­plan­te Neu­re­ge­lung aber die Ta­rif­frei­heit und da­mit die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der be­trieb­li­chen Min­der­heits­ge­werk­schaf­ten nicht aus­ge­stal­ten, son­dern schlicht be­sei­ti­gen will, kann sich der Ge­setz­ge­ber hier nicht auf sei­ne Be­fug­nis zu in­sti­tu­tio­nel­len Aus­ge­stal­tung stützen. Und auf das Ziel, die "prak­ti­sche Kon­kor­danz" der Ko­ali­ti­ons­frei­heit mit ent­ge­gen­ste­hen­den Ver­fas­sungsgütern her­stel­len zu wol­len, be­ruft sich die Ge­set­zes­be­gründung zu­recht erst gar nicht.

Ab­ge­se­hen von Art.9 Abs.3 GG dürf­te die ge­plan­te Re­ge­lung auch ge­gen den Gleich­heits­satz (Art.3 Abs.1 GG) ver­s­toßen, da der Ge­setz­ge­ber ver­pflich­tet ist, al­len ech­ten Ar­beit­neh­mer­ko­ali­tio­nen glei­che recht­li­che Chan­cen ein­zuräum­en, gemäß ih­ren Or­ga­ni­sa­ti­ons­grundsätzen er­folg­reich zu sein. Ei­ne ge­setz­li­che Be­vor­zu­gung größerer, nach dem In­dus­trie­ver­bands­prin­zip ge­bil­de­ten Ge­werk­schaf­ten ge­genüber klei­ne­ren Be­rufs­grup­pen­ge­werk­schaf­ten ist da­her un­zulässig.

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Letzte Überarbeitung: 30. Oktober 2020

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