Update Arbeitsrecht 16|2022 vom 10.08.2022
Leitsatzreport
EGMR: Das Tarifeinheitsgesetz ist mit dem Recht auf gewerkschaftliche Betätigung gemäß Art.11 EMRK vereinbar
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 05.07.2022, 815/18 u.a.
Art.11 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK); § 4a Tarifvertragsgesetz (TVG)
Leitsätze der Redaktion:
1. Infolge des Tarifeinheitsgrundsatzes gemäß § 4a Tarifvertragsgesetz (TVG) verlieren die betrieblichen Minderheitsgewerkschaften nicht das Recht, Tarifverhandlungen zu führen und, falls nötig, Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen. Auch das Recht zum Abschluss von Tarifverträgen ist nicht berührt.
2. Durch § 4a TVG sollen die Gewerkschaften dazu angehalten werden, ihre Tarifverhandlungen zu koordinieren. Für den Fall des Scheiterns der Koordinierung sieht § 4a TVG unterschiedliche Rechtswirkungen für die kollidierenden Tarifverträge vor, indem nur der durch die betriebliche Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossene Tarifvertrag anwendbar bleibt.
3. Der Grundsatz der Tarifeinheit beeinträchtigt das Recht kleinerer Gewerkschaften auf Tarifverhandlungen nur in geringem Umfang. Die wesentlichen Elemente der Gewerkschaftsfreiheit bleiben bestehen.
4. Art.11 EMRK beinhaltet ein Recht auf Tarifverhandlungen, aber kein Recht auf einen Tarifvertrag. Wesentlich für die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit ist das Recht der Gewerkschaften, beim Arbeitgeber vorstellig zu werden und von ihm angehört zu werden. Diese Rechte werden durch § 4a TVG nicht beeinträchtigt.
Hintergrund:
Im Juli 2015 wurde ein neuer § 4a in das Tarifvertragsgesetz (TVG) eingefügt, wonach in Betrieben mit nicht inhaltsgleichen Tarifverträgen verschiedener Gewerkschaften nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags der im Betrieb mitgliederstärkeren Gewerkschaft anwendbar sind (Gesetz vom 03.07.2015, BGBl.I S.1130). Diese Regelung zur sog. Tarifeinheit wurde aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 2017 (Urteil vom 11.07.2017, 1 BvR 1571/15 u.a.) zugunsten der kleineren Gewerkschaften nachgebessert. Seit dem 01.01.2019 hat der Mehrheitstarifvertrag keinen Vorrang, wenn bei seinem Zustandekommen die Interessen der vom Minderheitstarifvertrag erfassten Arbeitnehmergruppen „nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt“ wurden. Die gegen die reformierte Gesetzesfassung erhobenen Verfassungsbeschwerden der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und des Beamtenbundes (DBB) nahm das BVerfG nicht zur Entscheidung an (BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, 1 BvR 672/19 u.a., s. dazu Update Arbeitsrecht 15|2020). Davon ließen sich Marburger Bund, GDL und DBB nicht entmutigen und zogen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Ihrer Meinung nach verstößt § 4a TVG bzw. das darin festgeschriebene Prinzip der Tarifeinheit gegen ihr Recht zur gewerkschaftlichen Betätigung, das durch Art.11 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert ist. Mit Urteil vom 05.07.2022 hat der EGMR die Klage abschlägig beschieden und mit fünf gegen zwei Stimmen festgestellt, dass keine Verletzung von Art.11 EMRK vorliegt.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 05.07.2022, 815/18 u.a.
Handbuch Arbeitsrecht: Streik und Streikrecht
Handbuch Arbeitsrecht: Tarifvertrag
Handbuch Arbeitsrecht: Tarifeinheit, Grundsatz der Tarifeinheit
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