Update Arbeitsrecht 09|2024 vom 01.05.2024
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Durchführung einer Betriebsratswahl bei Kandidatenmangel
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 24.04.2024, 7 ABR 26/23
Bewerben sich bei einer Betriebsratswahl weniger Arbeitnehmer um einen Betriebsratssitz als Betriebsratsmitglieder gemäß § 9 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) zu wählen sind, ist ein kleinerer Betriebsrat zu errichten.
§§ 1; 9; 11; 13 Abs.2 Nr.2; 19; 23 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 1 Abs.1 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) „werden“ in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten, d.h. mindestens 16-jährigen Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind (§ 7 Satz 1 BetrVG), Betriebsräte gewählt. Wählbar sind Arbeitnehmer ab 18 Jahren und einer Betriebszugehörigkeit von drei Monaten (§ 8 Abs.1 Satz 1 BetrVG).
Wie groß der gewählte Betriebsrat ist, d.h. aus wie vielen Mitgliedern er besteht, hängt gemäß § 9 BetrVG von der Anzahl der Arbeitnehmer des Betriebs ab. So sind bei einer Betriebsgröße von z.B. 101 bis 200 Arbeitnehmern sieben Mitglieder des Betriebsrats vorgeschrieben, bei 201 bis 400 Arbeitnehmern neun Betriebsratsmitglieder usw.
Voraussetzung für die Anwendung dieser Regelung ist u.a., dass es in dem Betrieb überhaupt ausreichend viele wählbare Arbeitnehmer gibt, d.h. Arbeitnehmer im Alter von mindestens 18 Jahren mit einer Betriebszugehörigkeit von mindestens drei Monaten. Andernfalls ist die in § 9 BetrVG vorgeschriebene Anzahl von Betriebsratsmitgliedern von vornherein nicht erfüllbar, da es im Betrieb zu wenige „betriebsratsfähige“ Arbeitnehmer gibt.
Für diesen - ziemlich seltenen - Fall, d.h. wenn in einem Betrieb nicht die ausreichende Zahl von wählbaren Arbeitnehmern vorhanden ist, sieht § 11 BetrVG vor, dass für die Zahl der Betriebsratsmitglieder die nächstniedrigere Betriebsgröße gemäß der Staffel des § 9 BetrVG gilt.
Öfter als ein Mangel an wählbaren Arbeitnehmern kommt es vor, dass in einem Betrieb (zwar genügend wählbare Arbeitnehmer arbeiten, aber:) zu wenige (wählbare) Arbeitnehmer bereit sind, für den Betriebsrat zu kandidieren oder, falls sie kandidiert haben und gewählt wurden, die Wahl auch anzunehmen.
Zu der Frage, aus wie vielen Mitgliedern der Betriebsrat im Falle eines Kandidatenmangels besteht oder ob die Wahl dann möglicherweise von vornherein ungültig ist, hat vor kurzem das Bundesarbeitsgericht (BAG) Stellung genommen.
Sachverhalt
In einer Klinik mit in der Regel 170 beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wurde im Frühjahr 2022 ein Betriebsrat gewählt.
Gemäß § 9 BetrVG besteht der Betriebsrat bei einer Arbeitnehmerzahl von 101 bis 200 Arbeitnehmern aus sieben Mitgliedern.
Bei der Wahl im Frühjahr 2022 kandidierten aber nur drei Arbeitnehmerinnen, die auch gewählt wurden und die Wahl annahmen.
Nachdem die Klinik bereits während der Durchführung der Wahl den Wahlvorstand ohne Erfolg unter Hinweis auf den Kandidatenmangel zum Abbruch der Wahl aufgefordert hatte, zog er nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses vor das Arbeitsgericht Hamburg mit dem Ziel, die Wahl für nichtig und hilfsweise für unwirksam gemäß § 19 BetrVG zu erklären.
Das Arbeitsgericht Hamburg wies den Antrag zurück (Beschluss vom 04.10.2022, 12 BV 7/22), und auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg entschied gegen den Arbeitgeber (Beschluss vom 01.02.2023, 5 TaBV 7/22). Beide Gerichte stützten sich zur Begründung auf eine analoge (sinngemäße) Anwendung von § 11 BetrVG.
Über die gegen die Wahl gerichteten Argumente hinaus hatte die Klinik in der Beschwerde vor dem LAG versucht, den Betriebsrat mit einem weiteren - ergänzenden - Rechtsmittel aus dem Amt zu entfernen, nämlich mit einem Auflösungsantrag gemäß § 23 Abs.1 BetrVG.
Die dafür erforderliche grobe Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten sah der Arbeitgeber darin, dass der Betriebsrat nicht unverzüglich bzw. innerhalb einer Woche, sondern erst einige Tage später Neuwahlen initiiert hatte, nachdem im Januar 2023 einer der drei Betriebsrätinnen ihr Amt niedergelegt hatte.
Die geringfügige Fristüberschreitung bewertete das LAG aber nicht als „groben“ Pflichtverstoß im Sinne von § 23 Abs.1 BetrVG. Daher hatte auch der Auflösungsantrag des Arbeitgebers vor dem LAG keinen Erfolg.
Entscheidung des BAG
Auch das BAG entschied gegen die Klinik.
Da das LAG die Rechtsbeschwerde nur bzgl. der Wahlanfechtung zugelassen hatte, musste das BAG nicht zu der Frage Stellung nehmen, ob das LAG (auch) den Auflösungsantrag des Arbeitgebers zurecht abgewiesen hatte.
Die Wahl selbst war aber in Ordnung, so das BAG in seiner derzeit allein vorliegenden Pressemeldung.
Es ist nämlich kein Hinderungsgrund für die Wahl eines Betriebsrats, wenn sich nicht genügend Bewerber für das Betriebsratsamt finden, so das BAG.
Das ergibt sich aus § 1 Abs.1 Satz 1 BetrVG. Diese Vorschrift bringt den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass in allen Betrieben ab einer (geringen) Mindestgröße Betriebsräte gewählt werden sollten.
Gibt es zu wenige Kandidaten als zu vergebende Betriebsratssitze gemäß § 9 BetrVG, ist damit eine Betriebsratswahl nicht ausgeschlossen.
In einem solchen Fall ist die jeweils niedrigere Stufe des § 9 BetrVG maßgeblich, und zwar so lange, bis die Anzahl von Bewerbern für die Errichtung eines Betriebsrats mit einer ungeraden Anzahl von Mitgliedern ausreicht.
Praxishinweis
Die Entscheidung des BAG ist richtig. Sie entspricht auch der vorherrschenden Meinung in der juristischen Literatur und der Rechtsprechung der LAG.
Gibt es bei einer Betriebsratswahl weniger Kandidaten als Betriebsratsmitglieder gemäß § 9 BetrVG zu wählen sind, ist ein kleinerer Betriebsrat zu errichten.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 24.04.2024, 7 ABR 26/23 (Pressemitteilung des Gerichts)
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratswahl - Amtszeit und Wahlzeitpunkt: Wann wird gewählt?
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratswahl - Arbeitnehmer und Wahlberechtigung: Wer wählt wen?
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratswahl - Betrieb und Betriebsteil: Wo wird gewählt?
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratswahl - Betriebsgröße und Wahlverfahren: Wie wird gewählt?
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratswahl - Wahlvorstand: Wer organisiert die Wahl?
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsratswahl - Urnengang und Stimmenauszählung: Wer ist gewählt?
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