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Be­triebs­treue als Vor­aus­set­zung ta­rif­li­cher Son­der­zah­lun­gen

Ta­rif­ver­trä­ge kön­nen ei­ne jähr­li­che Son­der­zah­lung mit Misch­cha­rak­ter vom Be­stand des Ar­beits­ver­hält­nis­ses am 31. März des Fol­ge­jah­res ab­hän­gig ma­chen: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 27.06.2018, 10 AZR 290/17
Geld schenken, Geldscheine übergeben

03.07.2018. Mit Son­der­zah­lun­gen ver­bin­den Ar­beit­ge­ber die Er­war­tung oder je­den­falls den Wunsch, dass der Ar­beit­neh­mer durch die zu­sätz­li­che fi­nan­zi­el­le Ver­güns­ti­gung da­von ab­ge­hal­ten wird, sich be­ruf­lich zu ver­än­dern.

Ent­spre­chend die­ser In­ter­es­sen­la­ge schrei­ben vie­le Ar­beit­ge­ber in ih­re All­ge­mei­nen Ge­schäfts­be­din­gun­gen (AGB) hin­ein, dass die Son­der­zah­lung vom Be­stand des Ar­beits­ver­hält­nis­ses zu ei­nem be­stimm­ten künf­ti­gen Stich­tag ab­hän­gig sein soll. Und auch in Ta­rif­ver­trä­gen und Be­triebs­ver­ein­ba­run­gen fin­den sich sol­che Stich­tags­re­ge­lun­gen bzw. „Be­stands­klau­seln“.

Am Mitt­woch letz­ter Wo­che hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) ent­schie­den, dass Ta­rif­ver­trä­ge ei­ne im No­vem­ber fäl­li­ge jähr­li­che Son­der­zah­lung vom Be­stand des Ar­beits­ver­hält­nis­ses am 31. März des Fol­ge­jah­res ab­hän­gig ma­chen kön­nen: BAG, Ur­teil vom 27.06.2018,10 AZR 290/17 (Pres­se­mel­dung des Ge­richts).

Stich­tags­re­ge­lun­gen für Son­der­zah­lun­gen in AGB, Be­triebs­ver­ein­ba­run­gen und Ta­rif­verträgen

Son­der­zah­lun­gen wie z.B. Pro­vi­sio­nen, Ziel­ver­ein­ba­rungs­prämi­en, Bo­ni oder ein im No­vem­ber fälli­ges 13. Ge­halt die­nen dem Zweck, die er­brach­te Ar­beits­leis­tung zu be­zah­len. Dem­ent­spre­chend können Ar­beit­neh­mer sol­che Zah­lun­gen zeit­an­tei­lig („pro ra­ta tem­po­ris“) ver­lan­gen, wenn sie im Lau­fe des Ka­len­der­jah­res aus dem Ar­beits­verhält­nis aus­schei­den.

An­de­re Gra­ti­fi­ka­tio­nen da­ge­gen sol­len nicht die Ar­beits­leis­tung vergüten, son­dern die Be­triebs­treue be­loh­nen, wie z.B. ei­ne Ju­biläumsprämie aus An­lass ei­ner be­stimm­ten (lan­gen) Be­triebs­zu­gehörig­keit. Hier gilt das Al­les-oder-nichts-Prin­zip: Wer kurz vor sei­nem be­vor­ste­hen­den Fir­men­ju­biläum aus­schei­det, be­kommt nichts.

Zwi­schen die­sen bei­den Zah­lun­gen bzw. Ansprüchen ste­hen Gra­ti­fi­ka­tio­nen mit „Misch­cha­rak­ter“, mit de­nen so­wohl die Ar­beits­leis­tung be­zahlt als auch die Be­triebs­treue an­er­kannt wer­den soll. Bei ih­nen ist oft nicht klar und da­her um­strit­ten, ob sie vom Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses zu ei­nem be­stimm­ten Stich­tag abhängen dürfen oder nicht.

Da­zu hat das BAG in den ver­gan­ge­nen Jah­ren zu­guns­ten der Ar­beit­neh­mer­sei­te ent­schie­den, dass so­wohl Son­der­zah­lun­gen mit al­lei­ni­gem Vergütungs­zweck als auch Son­der­zah­lun­gen mit „Misch­cha­rak­ter“ durch ent­spre­chen­de Klau­seln durch die AGB des Ar­beit­ge­bers nicht aus­ge­schlos­sen wer­den können, falls das Ar­beits­verhält­nis zu ei­nem be­stimm­ten Stich­tag nicht mehr be­ste­hen soll­te. Sol­che AGB-Klau­seln be­nach­tei­li­gen den Ar­beit­neh­mer un­an­ge­mes­sen im Sin­ne von § 307 Abs.1 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (BGB), denn sie neh­men ihm (ent­ge­gen dem Mo­dell des Ar­beits­ver­trags als ei­nes Aus­tausch­verhält­nis­ses, § 611 BGB) sei­nen be­reits er­ar­bei­te­ten Lohn­an­spruch.

Die­ses Ver­bot ei­ner un­an­ge­mes­se­nen AGB-Ge­stal­tung von Gra­ti­fi­ka­tio­nen mit Misch­cha­rak­ter gilt so­wohl für Stich­tags­re­ge­lun­gen, die auf den Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses an ei­nem Stich­tag im nächs­ten Jahr ab­stel­len (BAG, Ur­teil vom 18.01.2012, 10 AZR 612/10), als auch für den 31. De­zem­ber als Stich­tag, zu dem das Ar­beits­verhält­nis für den An­spruch auf ein Weih­nachts­geld (noch) be­stan­den ha­ben muss (BAG, Ur­teil vom 13.11.2013, 10 AZR 848/12, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 13/336 Weih­nachts­geld und Kündi­gung).

Auch in Be­triebs­ver­ein­ba­run­gen sind der­ar­ti­ge Re­ge­lun­gen un­wirk­sam, denn die Be­triebs­par­tei­en (Ar­beit­ge­ber und Be­triebs­rat) ha­ben nicht die Rechts­macht, dem Ar­beit­neh­mer sei­nen be­reits er­ar­bei­te­ten Lohn­an­spruch durch ungüns­ti­ge Stich­tags­re­ge­lun­gen zu neh­men, so das BAG mit Ur­teil vom 12.04.2011, 1 AZR 412/09 (hier ging es um den Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses im Fol­ge­jahr).

Dem­ge­genüber ist das BAG großzügi­ger, wenn es um Be­stands­klau­seln in Ta­rif­verträgen geht. Denn hin­ter Ta­rif­verträgen ste­hen durch­set­zungs­star­ke Ge­werk­schaf­ten. Sie han­deln mit Ta­rif­verträgen ein „Ge­samt­pa­ket“ aus, das über­wie­gend für Ar­beit­neh­mer güns­tig ist und da­her in ein­zel­nen Punk­ten auch ein­mal nach­tei­lig sein kann. Dem­ent­spre­chend hat das BAG die Stich­tags­re­ge­lung des § 20 Abs.1 Ta­rif­ver­trag für den öffent­li­chen Dienst (TVöD) ab­ge­seg­net, die den An­spruch auf die im No­vem­ber fälli­ge Jah­res­son­der­zah­lung vom Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses am 01. De­zem­ber abhängig macht (BAG, Ur­teil vom 12.12.2012, 10 AZR 718/11).

Die­se Re­ge­lung, so das BAG, greift zwar in die Be­rufs­frei­heit (Art.12 Grund­ge­setz - GG) des Ar­beit­neh­mers ein, da sie ihm die Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses durch den Ver­lust der Son­der­zah­lung er­schwert, doch wiegt die­ser Ein­griff nicht schwer, denn der Ar­beit­neh­mer muss bei ei­ner Kündi­gungs­ent­schei­dung nur ei­nen Mo­nat länger war­ten: Will er die Son­der­zah­lung be­kom­men, kann er erst zu En­de De­zem­ber kündi­gen (um am 01. De­zem­ber "im Ar­beits­verhält­nis" zu ste­hen), statt schon zum 30. No­vem­ber. Außer­dem ha­ben die Ta­rif­par­tei­en auf­grund der Ta­rif­au­to­no­mie (Art.9 Abs.3 GG) ei­nen größeren Ge­stal­tungs­spiel­raum (auch zu Un­guns­ten des Ar­beit­neh­mers) als die Be­triebs­par­tei­en oder der Ar­beit­ge­ber bei der Ge­stal­tung sei­ner AGB.

Aber geht die­ser Ge­stal­tungs­spiel­raum so weit, dass ta­rif­ver­trag­li­che Son­der­zah­lun­gen von ei­nem noch späte­ren Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses abhängig ge­macht wer­den können, z.B. am 31. März des Fol­ge­jah­res?

Der Streit­fall: Ta­rif­ver­trag­li­che Be­stands­klau­sel macht Son­der­zah­lung vom Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses am 31. März des Fol­ge­jah­res abhängig

In dem Fall des BAG stand der Ar­beit­neh­mer, ein Bus­fah­rer, auf der Be­klag­ten­sei­te. Sein Ex-Ar­beit­ge­ber hat­te ihn (im We­ge ei­ner Wi­der­kla­ge) auf Rück­zah­lung ei­nes ta­rif­li­chen 13. Ge­halts bzw. ei­ner „Son­der­zu­wen­dung“ ver­klagt, die er im No­vem­ber 2015 ge­zahlt hat­te (1.540,29 EUR net­to). In dem auf das Ar­beits­verhält­nis an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trag war in § 1 fol­gen­des ge­re­gelt:

„(1) Die Be­diens­te­ten er­hal­ten in je­dem Ka­len­der­jahr an­stel­le ei­ner Weih­nachts­zu­wen­dung ei­ne Son­der­zu­wen­dung, wenn sie

1. am 1. De­zem­ber seit dem 1. Ok­to­ber un­un­ter­bro­chen bei dem­sel­ben Ar­beit­ge­ber in ei­nem Beschäfti­gungs- oder Aus­bil­dungs­verhält­nis ste­hen und

2. nicht in der Zeit bis ein­sch­ließlich 31. März des fol­gen­den Jah­res aus ei­ge­nem Ver­schul­den oder auf ei­ge­nen Wunsch aus dem Beschäfti­gungs- oder Aus­bil­dungs­verhält­nis aus­schei­den.

(2) Ist die Zu­wen­dung im Fal­le des Ab­sat­zes 1 Nr. 2 ge­zahlt wor­den, so ist sie in vol­ler Höhe zurück­zu­zah­len.“

Da der Bus­fah­rer mit Kündi­gungs­schrei­ben vom 01.10.2015 (vor­fris­tig) zum 14.01.2016 gekündigt hat­te (wo­mit sich das Bus­un­ter­neh­men aus­drück­lich ein­ver­stan­den erklärt hat­te), war die zu­sam­men mit dem No­vem­ber­lohn (ver­se­hent­lich) ge­zahl­te Son­der­zu­wen­dung aus Sicht des Bus­un­ter­neh­mens zurück­zu­zah­len. Das sah der Bus­fah­rer an­ders. Er mein­te, die ta­rif­li­che Be­stands- bzw. Rück­zah­lungs­klau­sel sei un­wirk­sam, weil sie als un­verhält­nismäßige Kündi­gungs­be­schränkung ge­gen sein Grund­recht auf Be­rufs­frei­heit aus Art.12 Abs.1 GG ver­s­toße.

Das Ar­beits­ge­richt Frei­burg ent­schied zu­guns­ten des Bus­un­ter­neh­mens (Ur­teil vom 30.11.2016, 10 Ca 143/16), wie auch das in der Be­ru­fung zuständi­ge Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ba­den-Würt­tem­berg (Ur­teil vom 09.05.2017, 9a Sa 12/17). Da­bei be­wer­te­te das LAG die strei­ti­ge Son­der­zah­lung als Leis­tung mit Misch­cha­rak­ter. Denn sie war gemäß § 3 des Ta­rif­ver­trags an­tei­lig um 1/12 für je­den Ka­len­der­mo­nat ver­min­dert, für den der Be­diens­te­te kei­ne Bezüge er­hal­ten hat, so dass sie die ge­leis­te­te Ar­beit vergüte­te. An­de­rer­seits be­lohn­te sie durch die Be­stands- bzw. Stich­tags­re­ge­lung auch die Be­triebs­treue (Ur­teil vom 09.05.2017, 9a Sa 12/17, Rn.58).

BAG: Ta­rif­verträge können ei­ne jähr­li­che Son­der­zah­lung mit Misch­cha­rak­ter vom Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses am 31. März des Fol­ge­jah­res abhängig ma­chen

Auch in der Re­vi­si­on vor dem BAG hat­te der Bus­fah­rer kei­nen Er­folg. Zur Be­gründung heißt es in der der­zeit al­lein vor­lie­gen­den Pres­se­mel­dung des BAG:

Die um­strit­te­ne ta­rif­ver­trag­li­che Re­ge­lung greift zwar in die Be­rufs­frei­heit der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer ein, denn Art.12 Abs.1 GG schützt auch Auf­ga­be ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses durch Kündi­gung. Die­se Ein­schränkung war hier aber verhält­nismäßig.

Den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en steht nämlich bei Be­stands- bzw. Stich­tags­re­ge­lun­gen wie hier im Streit­fall auf­grund der Ta­rif­au­to­no­mie (Art.9 Abs.3 GG) ein wei­ter Ge­stal­tungs­spiel­raum zu. Über ei­nen sol­chen Spiel­raum verfügen we­der der Ar­beit­ge­ber bei der For­mu­lie­rung sei­ner AGB noch die Be­triebs­par­tei­en bei der Aus­ge­stal­tung von Be­triebs­ver­ein­ba­run­gen. Die Ta­rif­par­tei­en ha­ben ei­ne „Einschätzungs­präro­ga­ti­ve“, so die Er­fur­ter Rich­ter, bei der Be­ur­tei­lung der tatsächli­chen Ge­ge­ben­hei­ten, der be­trof­fe­nen In­ter­es­sen und der Aus­wir­kun­gen von Ta­rif­verträgen. Darüber hin­aus ha­ben sie auch ei­nen Be­ur­tei­lungs- und Er­mes­sens­spiel­raum bei der in­halt­li­chen Ge­stal­tung ih­rer ta­rif­li­chen Ver­ein­ba­run­gen. Da­her sind sie nicht ver­pflich­tet,

„die zweckmäßigs­te, vernünf­tigs­te oder ge­rech­tes­te Lösung zu wählen. Es genügt, wenn es für die ge­trof­fe­ne Re­ge­lung ei­nen sach­lich ver­tret­ba­ren Grund gibt.“

Im vor­lie­gen­den Streit­fall be­weg­te sich die ta­rif­li­che Re­ge­lung noch in­ner­halb des Ge­stal­tungs­spiel­raums der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en, so das BAG.

Fa­zit: Das Ur­teil des BAG schreibt die Ta­rif­au­to­no­mie groß. Dem­ent­spre­chend stel­len die Er­fur­ter Rich­ter zur Ver­mei­dung von Miss­verständ­nis­sen klar, dass ei­ne Rück­zah­lungs­re­ge­lung wie hier im Streit­fall un­wirk­sam wäre, wenn sie in ar­beits­ver­trag­li­chen AGB ent­hal­ten und da­her an § 307 Abs.1 BGB zu mes­sen wäre.

In die­sem Zu­sam­men­hang ver­weist die Pres­se­mel­dung aus­drück­lich auf das o.g. Grund­satz­ur­teil vom 18.01.2012 (10 AZR 612/10), dem zu­fol­ge Son­der­zah­lun­gen mit Misch­cha­rak­ter in den AGB des Ar­beit­ge­bers nicht vom Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses am Jah­res­en­de abhängig ge­macht wer­den können (wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 13/336 Weih­nachts­geld und Kündi­gung).

In­halt­lich geht das Ur­teil vom 27.06.2018 (10 AZR 290/17) nur ei­nen klei­nen Schritt über das Ur­teil vom 12.12.2012 (10 AZR 718/11) hin­aus, das § 20 Abs.1 TVöD ab­ge­seg­net hat­te, d.h. die dar­in ent­hal­te­ne Stich­tags­re­ge­lung, der zu­fol­ge die No­vem­ber-Son­der­zah­lung den Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses am 1. De­zem­ber vor­aus­setzt. Wirk­sam sind auch Ta­rif­verträge, so das ak­tu­el­le BAG-Ur­teil, die den Ar­beit­neh­mern ei­ne Ver­trags­bin­dung zu­mu­ten, die ei­ni­ge Mo­na­te länger dau­ert.

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Letzte Überarbeitung: 13. November 2020

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