HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

ARBEITSRECHT AKTUELL // 12/102

Ur­laub und Dau­er­krank­heit

LAG Hamm: Bei Dau­er­krank­heit ver­fällt der Ur­laub 18 Mo­na­te nach dem En­de des Ur­laubs­jah­res: Lan­des­ar­beits­ge­richt Hamm, Ur­teil vom 12.01.2012, 16 Sa 1352/11
Abrisskalender Ur­laubs­ab­si­che­rung bei lan­ger Krank­heit nur noch als "Light-Ver­si­on"?

08.03.2012. Sei­nen Jah­res­ur­laub muss man nor­ma­ler­wei­se bis zum 31. De­zem­ber ge­nom­men ha­ben, denn sonst ver­fällt er. Al­ler­spä­tes­tens geht er im Fol­ge­jahr am 31. März un­ter, wenn er bis da­hin nicht ge­nom­men wur­de (§ 7 Abs.3 Bun­des­ur­laubs­ge­setz - BUrlG). Das gilt aber nicht bei Dau­er­krank­heit. Denn für sol­che Fäl­le hat der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) ent­schie­den, dass der Ur­laub län­ger auf­recht­er­hal­ten wer­den muss, da kran­ke Ar­beit­neh­mer sonst schlech­ter ge­stellt wä­ren als ge­sun­de (EuGH, Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06 - Schultz-Hoff). Und das wür­de, so der EuGH, ge­gen die Eu­ro­päi­sche Richt­li­nie 2003/88/EG ver­sto­ßen.

Kaum hat­te sich das deut­sche Ar­beits­recht auf das Schultz-Hoff-Ur­teil ein­ge­stellt und das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) sei­ne Recht­spre­chung zu­guns­ten lang­fris­tig er­krank­ter Ar­beit­neh­mer ge­än­dert (BAG, Ur­teil vom 24.03.2009, 9 AZR 983/07), voll­zog der EuGH im No­vem­ber 2011 ei­ne Kehrt­wen­de: Er stell­te klar, dass nicht ge­nom­me­ner Ur­laub bei Dau­er­krank­heit nicht et­wa "ewig" ge­si­chert wer­den muss, son­dern dass er 15 Mo­na­te nach Ab­lauf des Ur­laubs­jah­res ver­fal­len darf - falls es ei­ne der­ar­ti­ge na­tio­na­le Rechts­vor­schrift gibt wie z.B. ei­nen Ta­rif­ver­trag, der ei­nen Ver­fall nach 15 Mo­na­ten vor­sieht (EuGH, Ur­teil vom 22.11.2011, C-214/10 - KHS gg. Schul­te).

Seit dem Schul­te-KHS-Ur­teil des EuGH sind die Ar­beits­ge­rich­te dar­um be­müht, den Ur­laubs­an­spruch bei Lang­zeit­er­kran­kung zu be­gren­zen. Die ju­ris­ti­schen Be­grün­dun­gen sind eben­so un­ter­schied­lich wie die Er­geb­nis­se, zu de­nen die Ge­rich­te da­bei kom­men. Im De­zem­ber 2011 ent­schied das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ba­den-Würt­tem­berg, dass krank­heits­be­dingt nicht ge­nom­me­ner Ur­laub ge­ne­rell 15 Mo­na­te nach Ab­lauf des Ur­laubs­jah­res un­ter­geht (LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 21.12.2011, 10 Sa 19/11 - wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell 12/002: Ur­laub und Ur­laubs­ab­gel­tung bei Krank­heit - nur 15 Mo­na­te lang?), und kurz dar­auf mein­te das Ar­beits­ge­richt Bonn, dass ei­ne sol­che Gren­ze ge­ra­de nicht gibt (Ar­beits­ge­richt Bonn, Ur­teil vom 18.01.2012, 5 Ca 2499/11 - wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell 12/098: Ur­laub und Krank­heit - kein Ver­fall des Ur­laubs nach 15 Mo­na­ten).

Das letz­te, so­eben erst ver­öf­fent­lich­te State­ment stammt vom LAG Hamm. Es ent­schied, dass der Ur­laubs­an­spruch nach 18 Mo­na­ten, ge­rech­net ab dem En­de des Ur­laubs­jah­res, au­to­ma­tisch ver­fällt (LAG Hamm, Ur­teil vom 12.01.2012, 16 Sa 1352/11).

Verfällt der Ur­laub bei Dau­er­krank­heit ge­ne­rell, d.h. auch oh­ne ta­rif­li­che Re­ge­lung, nach 18 Mo­na­ten?

Im Prin­zip muss der Ur­laub im Ur­laubs­jahr sei­ner Ent­ste­hung, d.h. in der Zeit vom 1. Ja­nu­ar bis zum 31. De­zem­ber ge­nom­men wer­den. Nur aus­nahms­wei­se, wenn das aus be­trieb­li­chen oder persönli­chen Gründen nicht möglich ist, kann er bis zum 31. März des Fol­ge­jah­res ge­nom­men wer­den. Das er­gibt sich aus § 7 Abs.3 und 4 BUrlG. Bei Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ist noch of­fe­ner Ur­laub ab­zu­gel­ten, d.h. der Ar­beit­neh­mer erhält ei­ne Ur­laubs­ab­gel­tung.

Auf­grund die­ser ge­setz­li­chen Re­ge­lung wären Ar­beit­neh­mer in­fol­ge ei­ner jah­re­lan­gen Dau­er­krank­heit "ge­lack­mei­ert", denn sie würden zwar im­mer er­neut ei­nen Ur­laubs­an­spruch er­wer­ben, doch würde die­ser im­mer wie­der am 31. März des Fol­ge­jah­res un­ter­ge­hen.

Das darf nicht sein, so der EuGH in sei­ner be­reits erwähn­ten Schultz-Hoff-Ent­schei­dung (EuGH, Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06 - Schultz-Hoff), die das BAG kurz dar­auf durch ei­ne geänder­te Aus­le­gung von § 7 Abs.3 BUrlG um­ge­setzt hat (BAG, Ur­teil vom 24.03.2009, 9 AZR 983/07). Seit An­fang 2009 gilt da­her: Bei Dau­er­krank­heit verfällt der Ur­laubs­an­spruch nicht mehr zum 31. März des Fol­ge­jah­res, son­dern wird im­mer wei­ter an­ge­sam­melt.

An­de­rer­seits ist ein un­be­grenz­tes An­wach­sen von Ansprüchen auf Ur­laub und Ur­laubs­ab­gel­tung Ar­beit­ge­bern ein Dorn im Au­ge, und das kann man im An­satz auch ver­ste­hen: Denn war­um soll­te ein Ar­beit­neh­mer, der z.B. nach fünf Jah­ren Dau­er­krank­heit aus dem Ar­beits­verhält­nis aus­schei­det, für (min­des­tens) 20 Wo­chen Ur­laubs­an­gel­tung kas­sie­ren?

Das wur­de ir­gend­wann auch dem EuGH klar, der im No­vem­ber 2011 ent­schied, dass Ta­rif­verträge die­se Ur­laubs-Ver­meh­rung auf 15 Mo­na­te be­gren­zen können, und zwar ge­rech­net ab dem En­de des je­wei­li­gen Ur­laubs­jah­res (EuGH, Ur­teil vom 22.11.2011, C-214/10 - KHS gg. Schul­te - wir be­rich­te­ten in: Ar­beits­recht ak­tu­ell 11/234 Ur­laub und Krank­heit: Krank­heits­be­dingt nicht ge­nom­me­ner Ur­laub kann nach 15 Mo­na­ten ver­fal­len).

Aus die­sem neu­en EuGH-Ur­teil hat das LAG Ba­den-Würt­tem­berg wie erwähnt die Schluss­fol­ge­rung ge­zo­gen, dass ei­ne 15-Mo­nats­gren­ze auch im BUrlG steckt (LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 21.12.2011, 10 Sa 19/11). Aber das ist frag­lich, da sich ei­ne so kon­kre­te Gren­ze dem BUrlG nicht ent­neh­men lässt.

Auch wenn es laut EuGH eu­ro­pa­recht­lich in Ord­nung wäre, wenn das deut­sche Ar­beits­recht ei­ne 15-Mo­nats­gren­ze ent­hal­ten würde, heißt das noch lan­ge nicht, dass das deut­sche Recht auch ei­ne sol­che Gren­ze tatsächlich be­inhal­tet. Und es gibt sie im deut­schen Ur­laubs­recht auch nicht, so je­den­falls das Ar­beits­ge­richt Bonn (Ar­beits­ge­richt Bonn, Ur­teil vom 18.01.2012, 5 Ca 2499/11).

Gibt es doch, so jetzt das LAG Hamm. Nur liegt die Gren­ze sei­ner An­sicht nach sich nicht bei 15 Mo­na­ten, son­dern bei 18 Mo­na­ten nach dem En­de des Ur­laubs­jah­res (LAG Hamm, Ur­teil vom 12.01.2012, 16 Sa 1352/11).

LAG Hamm: Ur­laub und Ur­laubs­ab­gel­tung ver­fal­len bei lan­ger Krank­heit au­to­ma­tisch 18 Mo­na­te nach dem En­de des Ur­laubs­jah­res

Im Fall des LAG Hamm war ei­ne Fach­verkäufe­r­in von März 2007 bis zur Be­en­di­gung ih­res Ar­beits­verhält­nis­ses En­de Ja­nu­ar 2011 durch­ge­hend krank. Nach § 15 Man­tel­ta­rif­ver­trag (MTV) Ein­zel­han­del NRW soll­te der Ur­laub ähn­lich wie nach den ge­setz­li­chen Vor­schrif­ten des BUrlG ver­fal­len, al­ler­dings im Fal­le ei­ner Über­tra­gung nicht schon zu En­de März des Fol­ge­jah­res, son­dern erst zu En­de April. Die Ar­beit­neh­me­rin er­hob An­fang 2011 Kla­ge und ver­lang­te u.a. 30 Ta­ge Ur­laubs­ab­gel­tung pro Jahr für die Jah­re 2007 bis 2010 ein so­wie 2,5 Ta­ge für das Jahr 2011. Da­mit hat­te sie in der ers­ten In­stanz vor dem Ar­beits­ge­richt Her­ford Er­folg (Ur­teil vom 09.08.2011, 3 Ca 95/11).

Das LAG Hamm da­ge­gen ent­schied, dass der Ar­beit­neh­me­rin Ur­laubs­ab­gel­tung für die Jah­re 2007 und 2008 nicht zustünden. Denn die­se Ansprüche sei­en "ent­spre­chend § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG ver­fal­len". Zur Be­gründung meint das LAG Hamm, dass ei­ne "richt­li­ni­en­kon­for­me Rechts­fort­bil­dung des § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG" er­ge­be, dass bei Dau­er­krank­heit an die Stel­le des ge­setz­li­chen drei­mo­na­ti­gen Über­tra­gungs­zeit­raums ein Über­tra­gungs­zeit­raum von 18 Mo­na­ten tre­te. Die­sen Zeit­raum ent­nimmt das LAG dem Art. 9 Abs. 1 des Übe­r­ein­kom­men Nr. 132 der In­ter­na­tio­na­len Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on (IAO bzw. ILO) vom 24.06.1970 über den be­zahl­ten Jah­res­ur­laub IAO. In die­ser Vor­schrift heißt es:

"Der in Ar­ti­kel 8 Ab­satz 2 die­ses Übe­r­ein­kom­mens erwähn­te un­un­ter­bro­che­ne Teil des be­zahl­ten Jah­res­ur­laubs ist spätes­tens ein Jahr und der übri­ge Teil des be­zahl­ten Jah­res­ur­laubs spätes­tens acht­zehn Mo­na­te nach Ab­lauf des Jah­res, für das der Ur­laubs­an­spruch er­wor­ben wur­de, zu gewähren und zu neh­men."

Der Schönheits­feh­ler die­ser Ar­gu­men­ta­ti­on des LAG Hamm be­steht dar­in, dass das IAO-Ab­kom­men Nr.132 in Deutsch­land kei­ne recht­li­che Gel­tung hat. Und außer­dem re­gelt die­se (nicht rechts­ver­bind­li­che) Vor­schrift gar nicht den Ver­fall des ge­sam­ten Jah­res­ur­laubs, son­dern nur des­je­ni­gen Ur­laubts­teils, der über den zu­sam­menhängend zu gewähren­den (zweiwöchi­gen) Teil hin­aus­geht.

Macht nichts, so das LAG Hamm, denn die Richt­li­nie 2003/88/EG woll­te (so der sechs­te Erwägungs­grund) den Grundsätzen der IAO hin­sicht­lich der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung Rech­nung tra­gen. Da­mit wirkt das Übe­r­ein­kom­men "mit­tel­bar auch über die Richt­li­nie auf das Recht der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ein", so das LAG (Ur­teil, Rn.94).

Fa­zit: Was nicht passt, wird pas­send ge­macht. Ei­ne ju­ris­tisch gülti­ge Be­gren­zung des An­sam­melns von Ur­laubs­ansprüchen bei lan­ger Krank­heit gibt es im deut­schen Recht der­zeit nur auf der Grund­la­ge von (ei­ni­gen we­ni­gen) Ta­rif­verträgen. Dem BUrlG ist ei­ne sol­che Gren­ze nicht zu ent­neh­men. Auch Ar­beits­verträge können ei­ne bei 15 oder bei 18 Mo­na­ten lie­gen­de Be­gren­zung nicht ent­hal­ten, da dies ei­ne un­zulässi­ge, weil für den Ar­beit­neh­mer ungüns­ti­ge Ab­wei­chung vom BUrlG bzw. von § 7 Abs.3 BUrlG in sei­ner der­zeit (noch) gülti­gen Aus­le­gung durch das BAG wäre.

Rich­tig ist al­ler­dings, dass ein end­lo­ses An­sam­meln von Ur­laubs­ansprüchen bei Dau­er­krank­heit für den Ar­beit­ge­ber kaum zu­mut­bar und für klei­ne­re Be­trie­be oft auch nicht be­zahl­bar wäre. Hier sind al­ler­dings die Ta­rif­par­tei­en und der Ge­setz­ge­ber ge­fragt. Sie müss­ten hier ei­ne Gren­ze zie­hen.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 5. Juni 2020

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de
Bewertung: 4.0 von 5 Sternen (2 Bewertungen)

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 

Für Personaler, betriebliche Arbeitnehmervertretungen und andere Arbeitsrechtsprofis: "Update Arbeitsrecht" bringt Sie regelmäßig auf den neusten Stand der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. Informationen zu den Abo-Bedingungen und ein kostenloses Ansichtsexemplar finden Sie hier:

Alle vierzehn Tage alles Wichtige
verständlich / aktuell / praxisnah

HINWEIS: Sämtliche Texte dieser Internetpräsenz mit Ausnahme der Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen sind urheberrechtlich geschützt. Urheber im Sinne des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Martin Hensche, Lützowstraße 32, 10785 Berlin.

Wörtliche oder sinngemäße Zitate sind nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Urhebers bzw. bei ausdrücklichem Hinweis auf die fremde Urheberschaft (Quellenangabe iSv. § 63 UrhG) rechtlich zulässig. Verstöße hiergegen werden gerichtlich verfolgt.

© 1997 - 2024:
Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Lützowstraße 32, 10785 Berlin
Telefon: 030 - 26 39 62 0
Telefax: 030 - 26 39 62 499
E-mail: hensche@hensche.de