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LAG Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 17.08.2009, 10 Sa 506/09

   
Schlagworte: Kündigung: Personenbedingt, Alkohol
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen: 10 Sa 506/09
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 17.08.2009
   
Leitsätze:

1. Bei einer Kündigung wegen Alkoholismus sind die Grundsätze der personenbedingten Kündigung maßgeblich. (Rn.63)

2. Ein Rückfall führt nicht automatisch zur Annahme einer negativen Prognose. (Rn.66)

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 23.01.2009, 5 Ca 16653/08
   

Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ber­lin-Bran­den­burg

 

Verkündet

am 17. Au­gust 2009

Geschäfts­zei­chen (bit­te im­mer an­ge­ben)

10 Sa 506/09 und
10 Sa 1568/09

5 Ca 16653/08
Ar­beits­ge­richt Ber­lin

H., VA
als Ur­kunds­be­am­ter/in
der Geschäfts­stel­le

 

Im Na­men des Vol­kes

 

Ur­teil

In Sa­chen

pp 

hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin-Bran­den­burg, 10. Kam­mer,
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 17. Au­gust 2009
durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt
W.-M. als Vor­sit­zen­den
so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Herr E. und Frau T.
für Recht er­kannt:

1. Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Ber­lin vom
23. Ja­nu­ar 2009 - 5 Ca 16653/08 - wird zurück­ge­wie­sen.

2. Die kla­ge­er­wei­tern­de An­schluss­be­ru­fung vom 24.7.2009 wird als un­zulässig ver­wor­fen.

3. Die Be­klag­te trägt die Kos­ten der Be­ru­fung, der Kläger die Kos­ten der An­schluss­be­ru­fung.

4. Der Streit­wert für die Be­ru­fung wird auf 15.277,25 EUR, der Streit­wert für die
An­schluss­be­ru­fung auf 20.606,41 EUR fest­ge­setzt.

5. Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.

 

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T a t b e s t a n d

Die Par­tei­en strei­ten um ein ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung vom 2. Ok­to­ber 2008 und hilfs­wei­se über ei­ne or­dent­li­che Kündi­gung vom 23. Ok­to­ber 2008 nebst Wei­ter­beschäfti­gung so­wie um An­nah­me­ver­zugs­vergütung.

Der Kläger ist 50 Jah­re alt und seit dem 10. Sep­tem­ber 2001 bei der Be­klag­ten als In­dus­trie­elek­tro­ni­ker mit ei­ner Vergütung von zu­letzt 3.055,45 EUR brut­to/mtl. beschäftigt. Der Kläger ist al­ko­hol­krank. Zu den Auf­ga­ben des Klägers gehörten ins­be­son­de­re die fol­gen­den Tätig­kei­ten:

• selbständi­ge Ausführung elek­tri­scher Re­pa­ra­tu­ren
• Um­stell- und Um­bau­ar­bei­ten an Pro­duk­ti­ons­an­la­gen
• Auf­bau und Ver­drah­tung von Steue­run­gen
• Op­ti­mie­rung von An­la­gen­abläufen mit dem Ziel ei­ner höhe­ren Aus­brin­gung
• Durchführung von Ar­bei­ten nach War­tungs- und In­spek­ti­ons­lis­te
• Be­stel­lung von benötig­ten Ma­te­ria­li­en und Er­satz­tei­len un­ter Be­ach­tung der Kos­ten

Nach­dem der Kläger am 23. Ju­ni 2006 in stark al­ko­ho­li­sier­tem Zu­stand die Ar­beit an­ge­tre­ten hat­te, wur­de er mit Schrei­ben vom 27. Ju­ni 2006 (Bl. 26 d.A.) ver­warnt, da in sei­nem Ver­hal­ten ein ekla­tan­ter Ver­s­toß ge­gen die be­trieb­li­che Ord­nung und ge­gen be­ste­hen­de Si­cher­heits­vor­schrif­ten zu se­hen sei.

Am 9. Ju­li 2008 wur­de der Kläger bei Ar­beits­be­ginn in stark al­ko­ho­li­sier­tem Zu­stand an­ge­trof­fen. Nach­dem der Be­triebs­rat ei­ne frist­lo­se Kündi­gung ab­ge­lehnt hat­te, kündig­te die Be­klag­te un­ter dem 14. Ju­li 2008 (Bl. 28 d.A.) frist­gemäß zum 30. Sep­tem­ber 2008. Am 17. Ju­li 2008 ver­ein­bar­ten die Par­tei­en un­ter Hin­zu­zie­hung der Be­triebsärz­tin zunächst be­fris­tet für ein Jahr bis Ju­li 2009 un­ter an­de­rem, dass der Kläger sich ei­ner Selbst­hil­fe­grup­pe für Al­ko­holsüch­ti­ge an­sch­ließe, in re­gelmäßigen Abständen Blut­al­ko­hol-Scree­nings durchführen las­se und die Be­klag­te je­weils darüber in­for­mie­re (Bl. 30 d.A.). Par­al­lel in­for­mier­te die Be­klag­te den Kläger mit Schrei­ben vom 17. Ju­li 2008 (Bl. 31 d.A.), dass sie die

 

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Rück­nah­me der aus­ge­spro­che­nen Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses aus per­so­nen- und ver­hal­tens­be­ding­ten Gründen zum 30. Sep­tem­ber 2008 in Aus­sicht stel­le, so­weit der Kläger sich in ärzt­li­che Be­ra­tung und Be­treu­ung be­ge­be und bis zum 30. Sep­tem­ber 2008 in je­der Hin­sicht den ihm ge­schil­der­ten Er­war­tun­gen ge­recht wer­de.

Nach­dem der Kläger am 1. Ok­to­ber 2008 sei­ne Tätig­keit fort­ge­setzt hat­te, nahm der Kläger am 2. Ok­to­ber 2008 um 6:00 Uhr sei­ne Tätig­keit auf und re­pa­rier­te so­gleich ei­ne de­fek­te Ma­schi­ne oh­ne Be­an­stan­dung. Er wech­sel­te ver­schie­de­ne Bau­tei­le und re­pa­rier­te Ka­bel. Da­zu gab er u.a. Ma­te­ri­al­be­stel­lun­gen am PC auf. Da die An­ge­le­gen­heit ei­lig war, hat­te der Kläger sei­ne Frühstücks­pau­se um 8:30 Uhr aus­fal­len las­sen. Ge­gen 9:30 Uhr wur­de der Kläger von ei­nem Vor­ge­setz­ten we­gen der Ver­mu­tung sei­ner Al­ko­ho­li­sie­rung an­ge­spro­chen. Der Kläger räum­te in dem sich an­sch­ließen­den Gespräch mit dem Per­so­nal­lei­ter und der Be­triebsärz­tin ein, am Vor­abend Al­ko­hol in Form von Bier zu sich ge­nom­men zu ha­ben.

Seit der Ver­ein­ba­rung vom 17. Ju­li 2008 wur­den in La­bor­un­ter­su­chun­gen re­gelmäßig die Le­ber­wer­te des Klägers für
• GOT (ASAT, AST) (Glut­amat-Oxa­lace­tat-Tran­sa­mi­nase, auch als As­par­tat-Ami­no­trans­fe­ra­se (ASAT oder AST) be­zeich­net
• GPT (ALAT, ALT) Glut­amat-Py­ru­vat-Tran­sa­mi­nase, auch als Ala­nin-Ami­no­trans­fe­ra­se be­zeich­net (ALAT oder ALT)
• GGT (Gam­ma-Glut­amyl­tran­s­pe­pti­da­se)

er­mit­telt. Während sie am 17.7.2008 deut­lich erhöht wa­ren, war am 30.9.2008 nur noch der GPT-Wert leicht erhöht, da­nach wa­ren die Wer­te im­mer im Norm­be­reich.

  Norm 17.07.08 30.09.08
GOT < 0,58/35   1,12  0,57
GPT < 0,75/45 2,83 0,80
GGT  < 0,92/55 3,13 0,35

Noch am 2. Ok­to­ber 2008 be­tei­lig­te die Be­klag­te den bei ihr ge­bil­de­ten Be­triebs­rat (Bl. 32 d.A.), der noch am glei­chen Ta­ge der Kündi­gung zu­stimm­te. Da­zu führ­te die Be­klag­te in dem Anhörungs­schrei­ben u.a. aus:

 

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Wir be­ab­sich­ti­gen, das … Ar­beits­verhält­nis we­gen nun­mehr wie­der­hol­ter Trun­ken­heit im Dienst frist­los zu be­en­den. Er wur­de heu­te um 9:30 Uhr wie­der al­ko­ho­li­siert an­ge­trof­fen.

Herr J. hat­te we­gen des glei­chen Sach­ver­halts be­reits im Ju­li 2008 ei­ne Kündi­gung zum 30.09.2008 er­hal­ten. Da­bei wur­de ihm aber zu­ge­stan­den, dass die­se Kündi­gung zurück­ge­nom­men wird, wenn er sich in ärzt­li­che Be­hand­lung und Be­treu­ung ge­ben würde. Dies hat er auch strikt ein­ge­hal­ten.

Um so un­verständ­li­cher ist sein jet­zi­ges Ver­hal­ten am 2. Tag nach dem Wirk­sam­wer­den der Kündi­gungsrück­nah­me.

Ge­ra­de we­gen der jetzt ein­ge­tre­te­nen Nach­hal­tig­keit ist uns ei­ne Wei­ter­beschäfti­gung nicht mehr zu­zu­mu­ten.

Mit Schrei­ben vom 2. Ok­to­ber 2008, dem Kläger zu­ge­gan­gen am 6. Ok­to­ber 2008, kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis frist­los. Un­ter dem 22. Ok­to­ber 2008 hörte die Be­klag­te den Be­triebs­rat zu ei­ner be­ab­sich­tig­ten hilfs­wei­se frist­gemäßen Kündi­gung an. Da­zu führ­te sie in den Anhörungs­schrei­ben (Bl. 25 d.A.) aus:

Wir neh­men Be­zug auf un­se­ren An­trag zur frist­lo­sen Kündi­gung … vom 02.10.2008 …

Rein vor­sorg­lich und hilfs­wei­se be­an­tra­gen wir noch­mals, das Ar­beits­verhält­nis aus ver­hal­tens­be­ding­ten Gründen (Ver­s­toß ge­gen die Be­triebs­ord­nung durch Trun­ken­heit im Dienst) wie auch aus per­so­nen­be­ding­ten Gründen (Al­ko­ho­lis­mus) frist­ge­recht zum 31.12.2008 zu kündi­gen.

Die Be­gründung ent­neh­men Sie bit­te un­se­rem An­trag vom 02.10.2008.

Auch die­ser Kündi­gung stimm­te der Be­triebs­rat noch am glei­chen Ta­ge zu.

Der Kläger mein­te, dass we­der ein wich­ti­ger Grund für die außer­or­dent­li­che Kündi­gung vor­lie­ge noch die or­dent­li­che Kündi­gung so­zi­al ge­recht­fer­tigt sei. Auch der Be­triebs­rat sei nicht ord­nungs­gemäß be­tei­ligt wor­den. Der Kläger ha­be am Abend des 1. Ok­to­ber 2008 aus Freu­de darüber, dass er die „Bewährungs­zeit“ ge­schafft ha­be, 3-4 Fla­schen Bier aus Alt­beständen zu Hau­se ge­trun­ken. Es könne sein, dass er am 2. Ok­to­ber 2008 noch nach Al­ko­hol ge­ro­chen ha­be, er sei aber nicht mehr al­ko­ho­li­siert ge­we­sen. Der von der Be­klag­ten be­nann­te Zeu­ge ha­be nicht den Ein­druck ge­habt, dass der Kläger al­ko­ho­li­siert ge­we­sen sei. Der

 

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Kläger ha­be auch nicht sei­nen Kopf per­ma­nent weg­ge­dreht, um ein Aus­at­men sei­ner nach Al­ko­hol rie­chen­den Atem­luft in Rich­tung des Zeu­gen zu ver­mei­den. Der Kläger ha­be wei­ter die Selbst­hil­fe­grup­pe be­sucht, sei­ne re­gelmäßig fest­ge­stell­ten Le­ber­wer­te sei­en un­auffällig und bis auf die­ses ei­ne Mal ha­be der Kläger kei­nen Al­ko­hol mehr zu sich ge­nom­men.

Die Be­klag­te hat­te aus­geführt, dass der Kläger in al­ko­ho­li­sier­tem Zu­stand an sei­nem Ein­satz­platz (Zapf­niet­au­to­mat, Hal­le 1) von Ar­beits­kol­le­gen an­ge­trof­fen wor­den sei. Mit die­sem Ver­hal­ten ha­be er zum wie­der­hol­ten Ma­le ge­gen das be­trieb­li­che und das be­rufs­ge­nos­sen­schaft­li­che Al­ko­hol­ver­bot ver­s­toßen. Die Kol­le­gen hätten das dem Pro­zess­lei­ter Herrn Walz mit­ge­teilt, der mit dem Be­triebs­rats­mit­glied Z. be­reits we­ni­ge Me­ter ent­fernt ei­nen ste­chen­den Al­ko­hol­ge­ruch beim Kläger wahr­ge­nom­men hätte. Der Kläger ha­be den Gesprächs­part­nern nicht in die Au­gen schau­en können und ins­ge­samt ei­nen fah­ri­gen Ein­druck ge­macht. In sei­ner ge­sam­ten Wahr­neh­mung ha­be er ei­nen ein­ge­trübten Ein­druck ver­mit­telt. Der Kläger ha­be die Al­ko­hol­ein­nah­me am Vor­abend durch Bier ein­geräumt.

Da der Kläger al­ko­ho­li­siert sei­ne Tätig­keit auf­ge­nom­men ha­be, ha­be er - un­abhängig von sei­ner Al­ko­hol­krank­heit - durch die Selbst­gefähr­dung und die Gefähr­dung der Ar­beits­kol­le­gen und Drit­ter ei­ne vorsätz­li­che kündi­gungs­re­le­van­te Pflicht­ver­let­zung be­gan­gen. Die Tätig­kei­ten des Klägers sei­en we­gen der Ar­beit an elek­tri­schen (Hoch-)Span­nungs­quel­len als sehr ge­fahr­ge­neigt zu qua­li­fi­zie­ren. Das ein­ge­schränk­te Kon­zen­tra­ti­ons­vermögen so­wie die ver­min­der­te Wahr­neh­mungs- und Re­ak­ti­onsfähig­keit würden zu ei­nem er­heb­lich ge­stei­ger­ten Un­fall­ri­si­ko führen. Da­bei sei die Wahr­schein­lich­keit ei­nes Ar­beits­un­falls beim Be­die­nen von Ma­schi­nen und An­la­gen äußerst hoch. Die Be­klag­te set­ze sich bei Unfällen un­ter un­er­kann­ter Al­ko­ho­li­sie­rung des Klägers we­gen des mögli­chen Ver­lus­tes des Haf­tungs­pri­vi­legs ei­nem erhöhten Haf­tungs­ri­si­ko aus. Die Be­klag­te ha­be auch bei ei­nem - auf­grund der Al­ko­ho­lerkran­kung des Klägers - nicht vor­werf­ba­ren Ver­hal­ten ein schützens­wer­tes In­ter­es­se dar­an, das Ri­si­ko zukünf­ti­gen al­ko­hol­be­ding­ten Fehl­ver­hal­tens zu ver­mei­den. In der Ver­ein­ba­rung vom 17. Ju­li 2008 ha­be sich der Kläger zum ab­so­lu­ten Al­ko­hol­ver­zicht be­reit erklärt. Der Rück­fall sei ei­ne

 

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wil­lent­li­che Ent­schei­dung des Klägers ge­we­sen, ge­gen sei­ne ei­ge­nen Zu­sa­gen ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber, der Be­triebsärz­tin und sei­ner The­ra­peu­ten zu ver­s­toßen und sei des­halb auch vor­werf­bar. Es kom­me nicht auf den Grad der Al­ko­ho­li­sie­rung an, son­dern al­lein dar­auf, dass der Kläger - auch im pri­va­ten Be­reich ab­sti­nent blei­ben müsse. We­gen der be­ste­hen­den Beschäfti­gungs­ver­bo­te, des ho­hen Haf­tungs­ri­si­kos und des großen Gefähr­dungs­po­ten­ti­als für Drit­te kom­me es nicht dar­auf an, ob der Kläger sei­ne Ar­beits­auf­ga­ben ord­nungs­gemäß ausführe. Ei­ne Viel­zahl der Ar­beits­kol­le­gen leh­ne ei­ne Wei­ter­beschäfti­gung des Klägers eben­falls ab.

Das Ar­beits­ge­richt hat der Kla­ge mit Ur­teil vom 23. Ja­nu­ar 2009 statt­ge­ge­ben und zur Be­gründung im We­sent­li­chen aus­geführt, dass ei­ne Kündi­gung we­gen Al­ko­hol­sucht nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beit­ge­richts nach den Grundsätzen der krank­heits­be­ding­ten Kündi­gung zu be­ur­tei­len sei. Da­nach sei ei­ne ne­ga­ti­ve Pro­gno­se hin­sicht­lich des vor­aus­sicht­li­chen Ge­sund­heits­zu­stan­des, ei­ne er­heb­li­che Be­ein­träch­ti­gung be­trieb­li­cher In­ter­es­sen und ei­ne In­ter­es­sen­abwägung zu Guns­ten der Be­klag­ten er­for­der­lich, um die Kündi­gung wirk­sam er­schei­nen zu las­sen. Es lie­ge aber schon kei­ne ne­ga­ti­ve Pro­gno­se vor. Der Kläger ha­be länge­re Zeit sein Al­ko­hol­pro­blem im Griff ge­habt. Auch die Ent­wick­lung der re­gelmäßig fest­ge­stell­ten Blut­wer­te des Klägers spre­che ge­gen ei­ne ne­ga­ti­ve Pro­gno­se. Und der Kläger ha­be re­gelmäßig ei­ne Selbst­hil­fe­grup­pe be­sucht. Die ein­ma­li­ge Ein­nah­me von Al­ko­hol am 1. Ok­to­ber 2008 und die even­tu­ell am nächs­ten Tag noch be­ste­hen­de Al­ko­ho­li­sie­rung, die aber da­hin­ste­hen könne, ergäben kei­ne an­de­re Pro­gno­se, da der Kläger sich noch am An­fang sei­ner The­ra­pie be­fun­den ha­be.

Das Ar­beits­ge­richt führ­te wei­ter aus, dass es in der Ver­gan­gen­heit kei­ne be­trieb­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen ge­ge­ben ha­be. Die­ses be­zie­he sich auf et­wai­ge Ab­laufstörun­gen und et­wai­ge Lohn­fort­zah­lungs­kos­ten. Zwar könn­ten die von der Be­klag­ten an­geführ­ten Gefähr­dun­gen des Klägers selbst oder Drit­ter auf­grund des­sen Tätig­keit mit elek­tri­schen An­la­gen, ins­be­son­de­re Hoch­span­nungs­an­la­gen, in Be­tracht kom­men, doch ha­be die Be­klag­te der­ar­ti­ge Gefähr­dun­gen nicht sub­stan­ti­iert vor­ge­tra­gen. Ins­be­son­de­re sei da­bei auch zu berück­sich­ti­gen, dass der Kläger we­der in der Ver­gan­gen­heit noch im Ju­li oder Ok­to­ber 2008 durch nicht

 

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ord­nungs­gemäße Ar­bei­ten auf­ge­fal­len sei, son­dern nur durch Al­ko­hol­ge­ruch. Auch die ab­sch­ließen­de In­ter­es­sen­abwägung sei zu Guns­ten des Klägers zu be­wer­ten. Denn ne­ben sei­nem Le­bens­al­ter und der rund sie­benjähri­gen Be­triebs­zu­gehörig­keit sei zu berück­sich­ti­gen, dass der Kläger sich an die Ver­ein­ba­rung vom 17. Ju­li 2008 ge­hal­ten und re­gelmäßig die Selbst­hil­fe­grup­pe be­sucht ha­be. Die­se Erwägun­gen würden so­wohl für die frist­lo­se als auch für die hilfs­wei­se frist­gemäße Kündi­gung gel­ten. Der Wei­ter­beschäfti­gungs­an­spruch re­sul­tie­re aus der Recht­spre­chung des Großen Se­nats des Bun­des­ar­beits­ge­richts.

Ge­gen die­ses den Be­klag­ten­ver­tre­tern am 4. März 2009 zu­ge­stell­te Ur­teil leg­ten die­se für die Be­klag­te am 12. März 2009 Be­ru­fung ein und be­gründe­te die­se nach Verlänge­rung der Be­gründungs­frist mit am 27. Mai 2009 ein­ge­gan­ge­nem Schrift­satz.

Zur Be­gründung führt die Be­klag­te aus, dass die Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts falsch sei, dass ei­ne Kündi­gung we­gen Al­ko­hol­sucht im­mer nach den Grundsätzen der krank­heits­be­ding­ten Kündi­gung zu be­ur­tei­len sei. Der ver­hal­tens­be­ding­te Vor­wurf lie­ge in der Tat­sa­che, dass der Kläger am 2. Ok­to­ber 2008 ei­ne hoch­gra­dig ge­fahr­ge­neig­te Tätig­keit auf­ge­nom­men ha­be. Die Tätig­keit des Klägers als In­dus­trie­elek­tro­ni­ker sei da­bei be­son­ders we­gen der Ausführung von Re­pa­ra­tu­ren an An­la­gen mit Span­nun­gen bis zu 1000 Volt so­wohl un­ter dem Ge­sichts­punkt der Ei­gen- und der Fremd­gefähr­dung bzw. der Gefähr­dung ho­her Sach­wer­te als außer­or­dent­lich ge­fahr­ge­neigt zu qua­li­fi­zie­ren. Es kom­me auch nicht auf ein Ver­schul­den des Klägers an. Das sei al­len­falls im Rah­men der In­ter­es­sen­abwägung zu berück­sich­ti­gen. Bei der In­ter­es­sen­abwägung hätte der en­ge zeit­li­che Zu­sam­men­hang zwi­schen der Al­ko­ho­li­sie­rung am 9. Ju­li 2008, der Kündi­gung vom 14. Ju­li 2008 und der Ver­ein­ba­rung vom 17. Ju­li 2008 berück­sich­tigt wer­den müssen.

Die Kündi­gung sei aber auch als per­so­nen­be­ding­te ge­recht­fer­tigt. Denn die Pro­gno­se sei ne­ga­tiv. Auch bei ei­nem ein­ma­li­gen er­neu­ten Trin­ken ei­nes Al­ko­ho­li­kers lie­ge ein Rück­fall vor. Ob das am An­fang der The­ra­pie oder später der Fall sei, sei un­er­heb­lich. Glei­ches gel­te für die Fra­ge, ob es sich um klei­ne oder große Men­gen Al­ko­hol han­de­le. Der Kläger ha­be die Be­klag­te spätes­tens seit Ju­ni 2006 über sei­nen Al­ko­hol­miss­brauch

 

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getäuscht, da er die an­gekündig­te The­ra­pie nicht an­ge­tre­ten hätte. Dass der Kläger im Ju­li 2008 die The­ra­pie an­ge­tre­ten ha­be, könne nicht als po­si­ti­ve Pro­gno­se ge­wer­tet wer­den, da er zu­vor die Be­klag­te über die The­ra­pie­be­reit­schaft getäuscht ha­be und in der nun be­gon­ne­nen The­ra­pie rückfällig ge­wor­den sei.

Die Ar­beit des Klägers ber­ge ein erhöhtes Gefähr­dungs­po­ten­ti­al. Nach § 7 Abs. 2 BGV A 1 dürfe die Be­klag­te den Kläger nicht beschäfti­gen. Kon­kret ge­be es fol­gen­de Gefähr­dun­gen:

• Ge­fahr durch Strom­schläge bei der Feh­ler­su­che un­ter Span­nun­gen im Be­reich von bis zu 1000 Volt (Ei­gen­gefähr­dung)
• Falsch­durchführung von Re­pa­ra­tur-, Um­stell- und Um­bau­ar­bei­ten ins­be­son­de­re durch fal­sche Ver­ka­be­lun­gen, Iso­lie­run­gen, Er­dun­gen etc mit der Ge­fahr, dass der Kläger bzw. Drit­te in Fol­ge der Falsch­durchführung mit elek­tri­schen Span­nun­gen (bis zu 1000 Volt) in Kon­takt kom­men bzw. Strom­schläge er­lei­den Ei­gen- und Fremd­gefähr­dung, Ge­fahr ho­her Sach- und Fol­geschäden, Gefähr­dung von Kun­den­be­zie­hun­gen)
• Gefähr­dung Drit­ter durch Strom­schläge bei ver­tausch­ten Ver­ka­be­lun­gen (Fremd­gefähr­dung, Sachschäden)
• Nicht­fach­ge­rech­te Durchführung von Re­pa­ra­tu­ren an Si­cher­heits­ein­rich­tun­gen von au­to­ma­ti­schen Fer­ti­gungs­ein­rich­tun­gen (Ei­gen- und Fremd­gefähr­dung durch Quetsch­ge­fahr be­weg­ter Tei­le).

Bei der In­ter­es­sen­abwägung sei zu Guns­ten der Be­klag­ten schließlich die er­folg­te Zu­stim­mung des Be­triebs­ra­tes zur Kündi­gung zu be­ach­ten.

Letzt­lich sei das Ar­beits­verhält­nis be­reits durch die Kündi­gung vom 14. Ju­li 2008 be­en­det wor­den, da die­se nie zurück­ge­nom­men wor­den sei und der Fort­set­zung der Tätig­keit des Klägers durch die er­neu­te Kündi­gung kon­klu­dent wi­der­spro­chen wor­den sei.

 

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Die Be­klag­te und Be­ru­fungskläge­rin be­an­tragt,

das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Ber­lin vom 23. Ja­nu­ar 2009 - 5 Ca 16653/08 - ab­zuändern und die Kla­ge ab­zu­wei­sen so­wie die Anträge des Klägers aus dem Schrift­satz vom 24. Ju­li 2009 zurück­zu­wei­sen.

Der Kläger und Be­ru­fungs­be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen und die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger

• 3.055,45 EUR brut­to mi­nus 328,43 EUR net­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. No­vem­ber 2008
• 3.055,45 EUR brut­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. De­zem­ber 2008
• 3.055,45 EUR brut­to mi­nus 71,74 EUR net­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. Ja­nu­ar 2009
• 3.055,45 EUR brut­to mi­nus 1.111,97 EUR net­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. Fe­bru­ar 2009
• 3.055,45 EUR brut­to mi­nus 1.004,36 EUR net­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. März 2009
• 3.055,45 EUR brut­to mi­nus 1.111,97 EUR net­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. April 2009
• 3.055,45 EUR brut­to mi­nus 1.076,10 EUR net­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. Mai 2009
• 3.055,45 EUR brut­to mi­nus 1.111,97 EUR net­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. Ju­ni 2009
• 3.055,45 EUR brut­to mi­nus 1.076,10 EUR net­to nebst 5%-Punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz ab dem 1. Ju­li 2009
zu zah­len.

Der Kläger hält die Ausführun­gen zur Gefähr­dungs­la­ge bei den Ar­beits­auf­ga­ben des Klägers für ir­re­le­vant, weil der Kläger bei der Ar­beits­auf­nah­me am 2. Ok­to­ber 2008 nicht al­ko­ho­li­siert ge­we­sen sei. Im Übri­gen han­de­le es sich um Nie­der­span­nungs­an­la­gen. 1000 Volt würden sich im Grenz­be­reich der Nie­der­span­nung be­fin­den. Der Kläger ha­be bis­lang nicht man­gel­haft ge­ar­bei­tet. Der Kläger sei auch in den Jah­ren 2006 bis 2008 nicht al­ko­ho­li­siert am Ar­beits­platz tätig ge­we­sen. Der Kläger

 

- 11 -

ha­be sich 2006 zu ei­ner Selbst­hil­fe­grup­pe be­ge­ben, die ihm je­doch nichts ge­bracht ha­be. Des­halb ha­be er sich da­nach selbst the­ra­piert. An­gekündig­te Hil­fen des Be­trie­bes ha­be es in die­ser Zeit nicht ge­ge­ben. Nach ein­ma­li­gem Rück­fall ha­be der Kläger sich vollständig an die Ver­ein­ba­rung der Par­tei­en vom 17. Ju­li 2008 ge­hal­ten. Ein ab­so­lu­tes Beschäfti­gungs­ver­bot für den Kläger sei auf­grund der La­bor­wer­te nicht an­zu­neh­men. Dass vie­le Ar­beits­kol­le­gen nicht mehr mit dem Kläger zu­sam­men­ar­bei­ten woll­ten, sei frei er­fun­den. Die Kündi­gung vom 14. Ju­li 2008 sei durch Be­din­gungs­ein­tritt zurück­ge­nom­men, je­den­falls ha­be sie als zurück­ge­nom­men zu gel­ten.

Mit am 27. Ju­li 2009 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­ge­nem Schrift­satz vom 24. Ju­li 2009 hat der Kläger die An­nah­me­ver­zugs­vergütung von Ok­to­ber 2008 bis Ju­ni 2009 kla­ge­er­wei­ternd gel­tend ge­macht.

We­gen des wei­te­ren Vor­brin­gens der Par­tei­en in der Be­ru­fungs­in­stanz wird auf den In­halt der Be­ru­fungs­be­gründung der Be­klag­ten vom 26. Mai 2009 so­wie auf die Be­ru­fungs­be­ant­wor­tung des Klägers vom 18. Ju­ni 2009 und den Schrift­satz des Klägers vom 24. Ju­li 2009 so­wie das Sit­zungs­pro­to­koll vom 17. Au­gust 2009 Be­zug ge­nom­men.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

I.

Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statt­haf­te Be­ru­fung der Be­klag­ten ist form- und frist­ge­recht im Sin­ne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zi­vil­pro­zess­ord­nung (ZPO) ein­ge­legt und be­gründet wor­den.

Die kla­ge­er­wei­tern­de An­schluss­be­ru­fung des Klägers vom 24. Ju­li 2009 ist dem­ge­genüber un­zulässig, weil sie erst am 27. Ju­li 2009 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ging und ein Aus­nah­me­fall des § 524 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht vor­lag. Denn auch § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO ist gemäß § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG im ar­beits­ge­richt­li­chen Be­ru­fungs­ver­fah­ren ent­spre­chend an­wend­bar. Maßgeb­lich ist, auch un­abhängig von der mit der Zu­stel­lung der Be­ru­fungs­be­gründung ge­setz­ten Frist die für die

 

- 12 -

Be­ru­fungs­be­ant­wor­tung durch § 66 Abs. 1 Satz 3 ArbGG be­stimm­te ge­setz­li­che Mo­nats­frist (BAG, Ur­teil vom 30. Mai 2006 – 1 AZR 111/05). Die Aus­schluss­frist nach § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO gilt – so­weit der in Satz 3 be­stimm­te Aus­nah­me­fall nicht vor­liegt – für al­le An­schluss­be­ru­fun­gen, auch wenn sie nicht die Be­sei­ti­gung ei­ner Be­schwer der Be­ru­fungs­be­klag­ten durch das erst­in­stanz­li­che Ur­teil, son­dern ei­ne Er­wei­te­rung oder Ände­rung der Kla­ge zum Ziel ha­ben (BGH, Ur­teil vom 7. De­zem­ber 2007 - V ZR 210/06). Da die Be­ru­fungs­be­gründung dem Kläger­ver­tre­ter am 29. Mai 2009 zu­ge­stellt wor­den ist, lief die Frist zur An­schluss­be­ru­fung am 29. Ju­ni 2009 ab.

II.

Hin­sicht­lich der Be­ru­fung ist in der Sa­che kei­ne an­de­re Be­ur­tei­lung als in ers­ter In­stanz ge­recht­fer­tigt. Die Be­ru­fung ist un­be­gründet und da­her zurück­zu­wei­sen. So­wohl im Er­geb­nis als auch in der Be­gründung hat das Ar­beits­ge­richt zu Recht der Kla­ge statt­ge­ge­ben.

1.
Wie das Ar­beits­ge­richt zu­tref­fend aus­geführt hat, ist ei­ne Kündi­gung we­gen Al­ko­hol­abhängig­keit grundsätz­lich nach den für krank­heits­be­ding­te Kündi­gun­gen gel­ten­den Grundsätzen zu be­ur­tei­len. Die­ses ent­spricht der ständi­gen Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (vgl. BAG, Ur­teil vom 16. Sep­tem­ber 1999 - 2 AZR 123/99, BAG, Ur­teil vom 9. Ju­li 1998 - 2 AZR 201/98, BAG, Ur­teil vom 13. De­zem­ber 1990 - 2 AZR 336/90, je­weils mit wei­te­ren Nach­wei­sen), der sich auch die Be­ru­fungs­kam­mer an­sch­ließt. Denn Al­ko­hol­abhängig­keit ist ei­ne Krank­heit im me­di­zi­ni­schen Sin­ne. Sie liegt vor, wenn der ge­wohn­heitsmäßige, übermäßige Al­ko­hol­ge­nuss trotz bes­se­rer Ein­sicht nicht auf­ge­ge­ben oder re­du­ziert wer­den kann. We­sent­li­ches Merk­mal die­ser Er­kran­kung ist die phy­si­sche oder psy­chi­sche Abhängig­keit vom Al­ko­hol. Sie äußert sich vor al­lem im Ver­lust der Selbst­kon­trol­le. Der Al­ko­ho­li­ker kann, wenn er zu trin­ken be­ginnt, den Al­ko­hol­kon­sum nicht mehr kon­trol­lie­ren, mit dem Trin­ken nicht mehr aufhören. Da­zu kommt die Unfähig­keit zur Ab­sti­nenz; der Al­ko­ho­li­ker kann auf Al­ko­hol nicht mehr ver­zich­ten (BAG, Ur­teil vom 9. April 1987 - 2 AZR 210/86). Wenn die Al­ko­hol­abhängig­keit ei­ne Krank­heit ist, folgt hier­aus zwin­gend, dass auf ei­ne Kündi­gung, die im Zu­sam­men­hang mit die­ser

 

- 13 -

Al­ko­hol­sucht des Ar­beit­neh­mers steht, die Grundsätze an­zu­wen­den sind, die das Bun­des­ar­beits­ge­richt für die krank­heits­be­ding­te Kündi­gung ent­wi­ckelt hat.

Aus Gründen der Verhält­nismäßig­keit und für die Stel­lung der bei ei­ner krank­heits­be­ding­ten Kündi­gung zwin­gend not­wen­di­gen Ne­ga­tiv­pro­gno­se, dass der Ar­beit­neh­mer über ei­ne länge­re Dau­er mit deut­lich ein­ge­schränk­ter Leis­tungsfähig­keit ar­bei­te oder ganz aus­fal­le, hat der Ar­beit­ge­ber, der ei­nem al­ko­hol­kran­ken Ar­beit­neh­mer aus per­so­nen­be­ding­ten Gründen kündi­gen will, in der Re­gel zu­vor die Chan­ce zu ei­ner Ent­zie­hungs­kur zu ge­ben (BAG, Ur­teil vom 17. Ju­ni 1999 - 2 AZR 639/98). Die ne­ga­ti­ve Ge­sund­heits­pro­gno­se kann nämlich in der Re­gel erst dann ge­stellt wer­den, wenn der Ar­beit­neh­mer ent­we­der zur The­ra­pie nicht be­reit oder trotz vor­aus­ge­gan­ge­ner The­ra­pie rückfällig ge­wor­den ist (BAG, Ur­teil vom 16. Sep­tem­ber 1999 - 2 AZR 123/99). Da es für die Wirk­sam­keit der Kündi­gung auf den Zeit­punkt ih­res Zu­gangs an­kommt, ist ei­ne erst zu ei­nem späte­ren Zeit­punkt vom Ar­beit­neh­mer erklärte The­ra­pie­be­reit­schaft in der Re­gel un­be­acht­lich. Ei­ne von ihm nach Aus­spruch der Kündi­gung durch­geführ­te The­ra­pie und ihr Er­geb­nis können da­her nor­ma­ler­wei­se nicht zur Kor­rek­tur der Pro­gno­se her­an­ge­zo­gen wer­den (ausführ­lich da­zu BAG, Ur­teil vom 9. April 1987 - 2 AZR 210/86).

2.
Von ei­ner man­geln­den The­ra­pie­be­reit­schaft des Klägers zum Zeit­punkt des Zu­gangs der Kündi­gung am 2. Ok­to­ber 1998 und da­mit von ei­ner ne­ga­ti­ven Pro­gno­se ver­mag die Kam­mer nicht aus­zu­ge­hen. Denn der Kläger hat sich bis zu die­sem Zeit­punkt an al­le Fest­le­gun­gen in der Ver­ein­ba­rung vom 17. Ju­li 2008 ge­hal­ten. Noch am 30. Sep­tem­ber 2008 hat er sei­ne Le­ber­wer­te un­ter­su­chen las­sen. Die Gespräche in der Selbst­hil­fe­grup­pe hat er nicht ab­ge­bro­chen oder auch nur un­ter­bro­chen.

Auch aus dem so ge­nann­ten Rück­fall beim Kläger lässt sich kei­ne zwin­gen­de ne­ga­ti­ve Pro­gno­se für die wei­te­re, nach­tei­li­ge Ent­wick­lung sei­ner chro­ni­schen Trun­ken­heit ab­lei­ten. Es gibt kei­nen Er­fah­rungs­satz, wo­nach ein Rück­fall nach ei­ner zunächst er­folg­rei­chen Entwöhnungs­kur und länge­rer Ab­sti­nenz ein endgülti­ger Fehl­schlag jeg­li­cher Al­ko­holthe­ra­pie für die Zu­kunft be­deu­tet. Maßge­bend ist stets die Be­ur­tei­lung im Ein­zel­fall

 

- 14 -

(vgl. LAG Hamm, Ur­teil vom 4. Sep­tem­ber 2001 - 11 Sa 1918/00). Sta­tis­ti­ken be­le­gen, dass in­ner­halb von vier Jah­ren nach je­der Al­ko­ho­lis­mus­the­ra­pie über 50% al­ler Pa­ti­en­ten rückfällig wer­den (vgl. Wilcken/Ro­chow, Rück­fall­präven­ti­on bei Al­ko­ho­lis­mus, S. 1).

Zu­zu­ge­ben ist der Be­klag­ten, dass sie dem Kläger zunächst mit der Ver­ein­ba­rung vom 17. Ju­li 2008 - die von der Recht­spre­chung ver­lang­te Chan­ce ge­ge­ben hat, trotz Al­ko­hol­krank­heit die Tätig­keit fort­zu­set­zen. Zu­zu­ge­ben ist der Be­klag­ten wei­ter, dass es ein er­heb­li­cher Ver­trau­ens­miss­brauch ist, dass der Kläger un­mit­tel­bar nach Ab­lauf der „Bewährungs­zeit“ er­neut Al­ko­hol zu sich ge­nom­men hat. Da­bei ist es un­er­heb­lich, ob der Kläger am 2. Ok­to­ber 2008 am Ar­beits­platz noch al­ko­ho­li­siert war oder nicht. Al­ler­dings über­sieht die Be­klag­te, dass ein Zeit­raum von drei Mo­na­ten bei ei­ner Such­ter­kran­kung wie dem Al­ko­ho­lis­mus in al­ler Re­gel bei wei­tem nicht aus­rei­chend ist, um hin­rei­chend Ab­stand von der Sucht zu ge­win­nen. Wie die Be­klag­te zu­tref­fend aus­geführt hat, ist die Al­ko­ho­lerkran­kung nicht mehr heil­bar. Sie ist nur bei ab­so­lu­ter Ab­sti­nenz des Klägers zu bewälti­gen.

In­so­weit hat das Ar­beits­ge­richt zu­tref­fend die be­son­de­ren Gründe des Ein­zel­fal­les gewürdigt. Es hat­te zu­tref­fend das un­auffälli­ge Ver­hal­ten des Klägers in der Zeit vom 27. Ju­ni 2006 bis 9. Ju­li 2008, die mit dem Kläger ge­trof­fe­ne Ver­ein­ba­rung vom 17. Ju­li 2008 und die tatsächli­che Um­set­zung die­ser Ver­ein­ba­rung durch den Kläger und die po­si­ti­ve Ent­wick­lung der Le­ber­wer­te des Klägers bis zum Kündi­gungs­ter­min als Umstände ei­ner eher po­si­ti­ven Pro­gno­se an­ge­se­hen. Dass der Kläger am An­fang sei­ner The­ra­pie noch ein­mal rückfällig ge­wor­den ist, ist zwar be­dau­er­lich, stellt aber - noch - kei­nen wich­ti­gen Grund für ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung dar.

3.
Auch die Tätig­keit des Klägers ändert dar­an nichts. Nach der Un­fall­verhütungs­vor­schrift in § 7 Abs. 2 BGV A 1 darf die Be­klag­te den Kläger zwar nicht mit sol­chen Ar­bei­ten beschäfti­gen, bei de­nen der Kläger er­kenn­bar nicht in der La­ge ist, die­se oh­ne Ge­fahr für sich oder an­de­re aus­zuführen. Und dem Kläger ist es nach § 15 Abs. 2 BGV I, die der frühe­ren Vor­schrift in § 38 Abs. 1 VBG I ent­spricht, ver­bo­ten, sich in ei­nen

 

- 15 -

Zu­stand zu ver­set­zen, in dem er sich oder an­de­re gefähr­den kann. Aber ein ab­so­lu­tes Al­ko­hol­ver­bot kann die­ser Un­fall­verhütungs­vor­schrift nicht ent­nom­men wer­den (vgl. da­zu auch BAG, Ur­teil vom 26. Ja­nu­ar 1995 - 2 AZR 649/94). Auch wenn Feh­ler in der Ar­beit des Klägers zu ei­ner er­heb­li­chen Ei­gen- und ins­be­son­de­re Fremd­gefähr­dung führen könn­ten, gibt es kei­ne Vor­schrift, die es ver­bie­tet, ei­nen Al­ko­hol­kran­ken noch mit den Auf­ga­ben ei­nes In­dus­trie­elek­tro­ni­kers zu beschäfti­gen. Dass der Kläger ir­gend­wel­che Auffällig­kei­ten bei der Ar­beit ge­zeigt hätte, hat die Be­klag­te we­der vor­ge­tra­gen noch ist es trotz der min­des­tens seit dem Jah­re 2006 be­reits be­ste­hen­den Al­ko­hol­krank­heit sonst er­sicht­lich. Des­halb ist der ein­ma­li­ge Rück­fall des Klägers nach der Ver­ein­ba­rung vom 17. Ju­li 2008 nicht ge­eig­net, we­gen et­wai­ger Gefähr­dun­gen ein Beschäfti­gungs­ver­bot für den Kläger an­zu­neh­men.

4.
Die Kündi­gung könn­te nach den Ausführun­gen der Be­klag­ten auch als ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung an­ge­se­hen wer­den, denn ein al­ko­hol­be­ding­tes Fehl­ver­hal­ten kann auch un­ter dem As­pekt der Gefähr­dung der be­trieb­li­chen Si­cher­heit kündi­gungs­re­le­vant sein (vgl. HK-ArbR/Roos § 1 KSchG, RN 114). Al­ler­dings wur­de da­zu der bei der Be­klag­ten ge­bil­de­te Be­triebs­rat nicht an­gehört. Die­sem wur­de le­dig­lich die „Trun­ken­heit im Dienst“ als ver­hal­tens­be­ding­ter Grund vor­ge­tra­gen.

Nach ein­hel­li­ger Auf­fas­sung in Recht­spre­chung und Li­te­ra­tur (seit BAG, Ur­teil vom 28. Fe­bru­ar 1974 - 2 AZR 455/73 ist ei­ne Kündi­gung nach § 102 Abs. 1 Satz 3 Be­trVG nicht nur dann un­wirk­sam, wenn der Ar­beit­ge­ber gekündigt hat, oh­ne den Be­triebs­rat zu­vor über­haupt be­tei­ligt zu ha­ben, son­dern auch dann, wenn der Ar­beit­ge­ber sei­ner Un­ter­rich­tungs­pflicht nach § 102 Abs. 1 Be­trVG nicht rich­tig, ins­be­son­de­re nicht ausführ­lich ge­nug nach­kommt. Aus dem Sinn und Zweck der Anhörung folgt für den Ar­beit­ge­ber die Ver­pflich­tung, die Gründe für sei­ne Kündi­gungs­ab­sicht der­art mit­zu­tei­len, dass der Be­triebs­rat oh­ne zusätz­li­che ei­ge­ne Nach­for­schun­gen in der La­ge ist, selbst die Stich­hal­tig­keit der Kündi­gungs­gründe zu prüfen und sich ein Bild zu ma­chen. Der Ar­beit­ge­ber genügt da­her der ihm ob­lie­gen­den Mit­tei­lungs­pflicht nicht, wenn er den Kündi­gungs­sach­ver­halt nur pau­schal, schlag­wort- oder stich­wort­ar­tig um­schreibt oder le­dig­lich ein Wert­ur­teil ab­gibt, oh­ne die für sei­ne

 

- 16 -

Be­wer­tung maßgeb­li­chen Tat­sa­chen mit­zu­tei­len. Bei ei­ner Kündi­gung im Zu­sam­men­hang mit Al­ko­ho­lis­mus gehört da­zu auch die Mit­tei­lung, ob es sich um ei­ne per­so­nen­be­ding­te und/oder um ei­ne ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung han­deln soll. Die­ses war der Be­klag­ten auch grundsätz­lich be­kannt, wie das Anhörungs­schrei­ben vom 22. Ok­to­ber 2008 be­legt. Al­ler­dings gehören zu den mit­zu­tei­len­den Kündi­gungs­gründen dann auch die Tat­sa­chen, die den je­wei­li­gen Kündi­gungs­as­pekt be­din­gen sol­len. Und die Gefähr­dung der be­trieb­li­chen Si­cher­heit hat die Be­klag­te erst im ge­richt­li­chen Ver­fah­ren an­ge­spro­chen. In­so­fern konn­te die­ser Sach­ver­halt aber bei der Be­ur­tei­lung der Kündi­gung kei­ne Berück­sich­ti­gung fin­den.

5.
Aus den zu­vor dar­ge­leg­ten Gründen er­gibt sich auch die Un­wirk­sam­keit der hilfs­wei­se aus­ge­spro­che­nen or­dent­li­chen Kündi­gung.

6.
Der An­sicht der Be­klag­ten, dass es auf die Wirk­sam­keit der Kündi­gun­gen vom Ok­to­ber 2008 gar nicht mehr an­kom­me, weil das Ar­beits­verhält­nis be­reits durch die Kündi­gung vom 14. Ju­li 2008 be­en­det wor­den sei, ver­moch­te die Kam­mer nicht zu fol­gen. Auch wenn es for­mal so sein könn­te, dass die Kündi­gung als ein­sei­ti­ge emp­fangs­bedürf­ti­ge Wil­lens­erklärung nicht zurück­ge­nom­men wer­den kann, ha­ben die Par­tei­en zu­min­dest kon­klu­dent die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses ver­ein­bart. Im Übri­gen wäre die Be­ru­fung der Be­klag­te auf die Wirk­sam­keit der Kündi­gung vom 14. Ju­li 2008 rechts­miss­bräuch­lich, weil bei­de Par­tei­en von de­ren Un­wirk­sam­keit und ei­ner Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses aus­ge­gan­gen sind. Die­ses be­le­gen so­wohl die zunächst un­be­an­stan­de­te Beschäfti­gung des Klägers am 1. und 2. Ok­to­ber 2008 und in­di­zi­ell auch die Be­triebs­rats­anhörung vom 2. Ok­to­ber 2008. Sch­ließlich wur­de spätes­tens durch den Aus­spruch der (wei­te­ren) Kündi­gung vom 2. Ok­to­ber 2008 auch für den Kläger deut­lich, dass die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis zu die­sem Zeit­punkt noch nicht als be­en­det an­sah.

7.
Der Ver­ur­tei­lung zur Wei­ter­beschäfti­gung ist die Be­klag­te in der Be­ru­fung nicht ge­son­dert ent­ge­gen­ge­tre­ten. Dem­gemäß war die ar­beits­ge­richt­li­che Ent­schei­dung auch in­so­weit auf­recht zu er­hal­ten.

 

- 17 -

III.

Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 64 Abs.6 ArbGG in Ver­bin­dung mit §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Als je­weils un­ter­le­ge­ne Par­tei­en ha­ben die Be­klag­te die Kos­ten der Be­ru­fung und der Kläger die Kos­ten der An­schluss­be­ru­fung zu tra­gen.

Die Zu­las­sung der Re­vi­si­on gemäß § 72 Abs.2 ArbGG kam nicht in Be­tracht, da die ge­setz­li­chen Vor­aus­set­zun­gen nicht vor­ge­le­gen ha­ben.

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g

Ge­gen die­se Ent­schei­dung ist kein Rechts­mit­tel ge­ge­ben.

Die Par­tei­en wer­den auf die Möglich­keit der Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de gemäß § 72 a ArbGG hin­ge­wie­sen.

 

W.-M.

E.

Chr. T.

 

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