HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Köln, Ur­teil vom 02.02.2012, 6 Sa 304/11

   
Schlagworte: Strafanzeige, Kündigung: Strafanzeige, Whistleblowing
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Aktenzeichen: 6 Sa 304/11
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 02.02.2012
   
Leitsätze: Für die Beurteilung der Frage, ob eine gegen den Arbeitgeber gerichtete Strafanzeige durch den Arbeitnehmer (sog. whistleblowing) einen wichtigen Kündigungsgrund i. S. des § 626 Abs. 1 BGB bildet, hat eine an den Grundrechten der Beteiligten orientierte umfassende Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung von Interessen der Allgemeinheit stattzufinden.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Aachen, Urteil vom 7.12.2010, 4 Ca 2873/10
   

6 Sa 304/11

4 Ca 2873/10
Ar­beits­ge­richt Aa­chen

Verkündet am 02. Fe­bru­ar 2012

Ur­kunds­be­am­tin
der Geschäfts­stel­le

 

LAN­DES­AR­BEITS­GERICHT KÖLN

IM NA­MEN DES VOL­KES

UR­TEIL

 

In dem Rechts­streit

hat die 6. Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts Köln auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 02.02.2012 durch den Vi­ze­präsi­den­ten des Lan­des­ar­beits­ge­richts Dr. K als Vor­sit­zen­den so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter L und D

für R e c h t er­kannt:

Auf die Be­ru­fung des Klägers wird das am 07.12.2010 verkünde­te Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Aa­chen – 4 Ca 2873/10 – teil­wei­se ab­geändert und wie folgt neu ge­fasst:

1. Es wird fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en durch die Kündi­gun­gen vom 28.07.2010, 30.07.2010 und 03.08.2010 nicht vor dem 31.03.2011 be­en­det wor­den ist.

2. Im Übri­gen wird die Kla­ge ab­ge­wie­sen.

3. Die Kos­ten des Rechts­streits wer­den dem Kläger zu 5/6 und der Be­klag­ten zu 1/6 auf­er­legt.

4. Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.


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T a t b e s t a n d

Die Par­tei­en strei­ten über meh­re­re außer­or­dent­li­che Kündi­gun­gen, wel­che die Be­klag­te un­ter dem 28.07.2010, dem 30.07.2010 und dem 03.08.2010 je­weils frist­los und mit so­zia­ler Aus­lauf­frist aus­ge­spro­chen hat.

Der Kläger ist bei der Be­klag­ten, die u. a. ein Un­ter­neh­men für den öffent­li­chen Nah­ver­kehr be­treibt, seit dem 19.08.1988 als Fahr­aus­weisprüfer / Bus­fah­rer bei ei­nem Brut­to­mo­nats­ge­halt von zu­letzt rund 3.450,00 EUR beschäftigt. Das Ar­beits­verhält­nis des Klägers ist auf­grund an­wend­ba­rer ta­rif­ver­trag­li­cher Vor­schrif­ten nicht or­dent­lich künd­bar.

Der Kläger wur­de bei der letz­ten Be­triebs­rats­wahl zum Er­satz­mit­glied gewählt. Er nahm in die­ser Funk­ti­on zu­letzt an ei­ner Be­triebs­rats­sit­zung vom 07.07.2010 teil. Der vor den Kündi­gun­gen an­gehörte Be­triebs­rat stimm­te den be­ab­sich­tig­ten Kündi­gun­gen gemäß §§ 102, 103 Be­trVG zu.

Am 20.02.2010 rich­te­te der Kläger fol­gen­des Schrei­ben an die Staats­an­walt­schaft Aa­chen (Bl. 397 f. d. A.):

„Als­dorf, den 20.02.2010

Sehr ge­ehr­te Da­men und Her­ren

Es fällt mir schwer, die­sen Brief zu schrei­ben. Ich hat­te es mei­ner Frau, die­se hat hier nicht un­be­rech­tig­te Sor­gen um un­se­re fi­nan­zi­el­le Exis­tenz ver­spro­chen es nicht zu tun. Es ist auf dem Ar­beits­markt de­fi­ni­tiv kei­ne gleich­wer­ti­ge Stel­le mehr zu fin­den. Dass ich mich trotz­dem mit Ih­nen in Ver­bin­dung set­ze hat den Grund, dass ich sonst ein­fach plat­ze. Ich kann das nicht auf sich be­ru­hen las­sen. Ich ha­be Ih­nen den Zei­tungs­aus­schnitt mit­ge­schickt, weil er auf­zeigt, was in der Au­to­mo­bil­tech­nik heu­te möglich ist. Vor­aus­set­zung ei­ner Zu­sam­men­ar­beit mit Ih­nen wäre zu­min­dest in ei­nem even­tu­el­len Er­mitt­lungs­ver­fah­ren, dass mei­ne Im­mu­nität ge­wahrt bleibt. Durch das in­ner­be­trieb­li­che An­pran­gern bin ich schon jetzt, trotz mei­ner Stel­lung im Be­triebs­rat, Re­pres­sa­li­en aus­ge­setzt. Kon­struk­ti­ve Gespräche darüber sind unmöglich und Be­schlüsse des Be­triebs­rats wur­den in die­ser An­ge­le­gen­heit ein­fach igno­riert.


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Der Sach­ver­halt: Die ASE­AG hat über Jah­re hin­weg Li­ni­en­bus­se der Fir­ma Vol­vo ver­kehrs- und be­triebs­un­taug­lich mit Wis­sen und da­mit vorsätz­lich zum Trans­port von Fahrgästen in den Ver­kehr ge­schickt. Die­ser Vor­wurf be­trifft ge­nau­so die Fir­ma Vol­vo. Es zeig­ten sich in­ner­halb kürzes­ter Zeit und Lauf­leis­tung der Fahr­zeu­ge er­heb­li­che Mängel in der Elek­tro­nik...

Sehr vie­le Leu­te bei der ASE­AG, nicht nur Fah­rer und mei­ne Per­son, se­hen das Gan­ze so:

- Körper­ver­let­zung in meh­re­ren Fällen
- schwe­re Körper­ver­let­zung
- schwe­rer Ein­griff in den Straßen­ver­kehr
- Ver­kehrs­gefähr­dung
- Trans­port­gefähr­dung
- Ver­let­zung der Auf­sichts­pflich­ten
- Ver­let­zung der Fürsor­ge­pflich­ten ge­genüber Fahrgästen und Fahr­per­so­nal
- Ver­ur­sa­chung ho­hen Sach­scha­dens

- Das Gan­ze wur­de ge­mein­schaft­lich, vorsätz­lich und aus nie­de­ren Be­weg­gründen von den zuständi­gen, ver­ant­wort­li­chen Ab­tei­lungs­lei­ter durch­geführt und durch­ge­setzt.
- Da auch die Fir­ma VOL­VO über die Umstände in­for­miert und zum Teil be­tei­ligt war, bzw. die Fol­gen hätte er­mes­sen können, ist ihr ge­nau­so der Streit an­zu­tra­gen.
- Der Vor­stand der ASE­AG ist hier persönlich haf­tend, da er das An­ge­bot der persönli­chen In­for­ma­ti­on über die­se und an­de­re Vorgänge strikt ab­ge­lehnt hat. Er ist da­mit nicht mehr nur als Or­gan haf­tend...

Ich ge­he da­von aus, dass Sie Zeu­gen und mei­ne Per­son in den Er­mitt­lun­gen nicht of­fen le­gen. Soll­ten Na­men in die­sem Zu­sam­men­hang ge­genüber der Fir­ma ge­nannt wer­de, wer­den sie kei­ne Aus­sa­ge mehr er­hal­ten. In die­sem Fall wären al­le Bemühun­gen vor­aus­sicht­lich um­sonst.

Mit freund­li­chen Grüßen

D H“

Auf­grund die­ses Schrei­bens wur­de von der SA ein Er­mitt­lungs­ver­fah­ren ein­ge­lei­tet. Am 20.05.2010 wur­den Geschäftsräume der Be­klag­ten durch­sucht. Mit Verfügung vom 04.05.2011 wur­de das Ver­fah­ren man­gels hin­rei­chen­den Tat­ver­dachts gemäß § 170 Abs. 2 St­PO ein­ge­stellt. Im An­schluss wur­de ein sog. Um­kehr­ver­fah­ren ge­gen den Kläger we­gen fal­scher Verdäch­ti­gung und


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Nöti­gung ein­ge­lei­tet. Die S A hat An­kla­ge er­ho­ben. Das Ver­fah­ren war zum Zeit­punkt der münd­li­chen Be­ru­fungs­ver­hand­lung noch nicht ab­ge­schlos­sen.

Am 05.04.2010 kam es mit ei­nem Bus der Be­klag­ten zu ei­nem tödli­chen Un­fall. Ein al­ko­ho­li­sier­ter Ju­gend­li­cher betätig­te den Not­hahn ei­ner Bustür, öff­ne­te sie und sprang so­dann aus dem fah­ren­den Bus. Das un­ter dem Ak­ten­zei­chen 401 UJS 291/10 von der S A geführ­te Er­mitt­lungs­ver­fah­ren wur­de mit Verfügung vom 13.04.2010 gemäß § 170 Abs. 2 St­PO ein­ge­stellt, da es sich um ei­nen Un­fall­tod aus ei­ge­nem Ver­schul­den han­de­le.

Am 19.05.2010 rich­te­te der Kläger an den Po­li­zei­haupt­kom­mis­sar B fol­gen­des Schrei­ben an des­sen dienst­li­che E-Mail-Adres­se (Ko­pie Bl. 393 ff. d. A.):

„Hal­lo Herr B

Heu­te kam der Kol­le­ge S in den Pau­sen­raum am Bus­hof. Er sprach über sei­ne Zeu­gen­aus­sa­ge bei Ih­nen. Dann sag­te er: Er wäre von dem Be­triebs­rats­vor­sit­zen­den K S an­ge­ru­fen wor­den. Die­ser ha­be ihm na­he ge­legt, in der Sa­che Vol­vos kei­ne Aus­sa­ge zu ma­chen. Als der Kol­le­ge ihm mit­teil­te, dass die Aus­sa­ge be­reits bei der Staats­an­walt­schaft vor­lie­ge, wur­de ihm an­ge­bo­ten, doch ei­nen Rechts­an­walt der S, al­so auf Kon­zern­ebe­ne, an­zu­ru­fen. Bei even­tu­el­len ju­ris­ti­schen oder fi­nan­zi­el­len Pro­ble­men z. B. wohl die Rück­nah­me der Aus­sa­ge, würde ihm die S mit die­sen Ju­ris­ten mit Rat, Tat und Geld zur Sei­te ste­hen. Die­se Aus­sa­ge mach­te der Kol­le­ge im Bei­sein von gut zwan­zig an­de­ren Fah­rern.

Nicht nur dass die A Führungs­eta­ge of­fen­sicht­lich mitt­ler­wei­le weiß, dass hier Er­mitt­lun­gen lau­fen, es ist auch be­mer­kens­wert auf wel­cher Ebe­ne (Kon­zern) und mit wel­chen Mit­teln hier re­agiert wird. Dass das Gan­ze so hoch auf­gehängt wird, zeigt ei­gent­lich, dass hier noch mehr Leu­te mit in der Sa­che hängen als ei­gent­lich ver­mu­tet.

Dass der Be­triebs­rats­vor­sit­zen­de sich un­auf­ge­for­dert hier so­gar mit mas­si­ver Zeu­gen­be­ein­flus­sung für die Ar­beit­ge­ber­sei­te en­ga­giert, ver­wun­dert nur den Außen­ste­hen­den. Ur­sa­che dafür ist ein Wes­pen­nest und ei­ne Klärung bedürf­te ei­nes länge­ren Gesprächs mit dem Staats­an­walt sel­ber. Hier geht es lai­en­haft aus­ge­drückt, um die fort­ge­setz­te Nöti­gung ei­nes Ver­fas­sungs­or­gans.

Der Hand­wer­ker mit dem Iro­ke­sen­schnitt heißt M B, wohn­haft mei­nes Wis­sens in K. Die Hand­wer­ker sind von Herrn R persönlich


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zum Schwei­gen ver­pflich­tet wor­den. Ih­nen wur­de mit der Kündi­gung ge­droht und zusätz­lich da­mit, dass die A dafür sor­gen würde, dass sie im gan­zen Bun­des­ge­biet bei kei­nem Bus­un­ter­neh­men wie­der Ar­beit fin­den würden. Darüber hin­aus muss es aber auch nach dem Mot­to: „Zu­cker­brot und Peit­sche“ hier für die­se auch von Herrn Rein­geräum­te „Vor­tei­le“ ge­ben. Der Zeu­ge M ist von der Sei­te des Be­triebs­rats­vor­sit­zen­den in Sa­chen Aus­sa­ge of­fen­sicht­lich so un­ter Druck ge­setzt wor­den, dass er im gan­zen Be­trieb erzählt, ich wäre durch mei­nen „Feld­zug“ ge­gen die Chef­eta­ge die Ur­sa­che, dass die Zeu­gen ih­re Exis­tenz ver­lie­ren würden.

Der Un­fall in S mit dem tödli­chen Aus­gang für den Jun­gen ist ih­nen be­kannt. Ich ha­be mir den Ar­ti­kel im Aa­che­ner An­zei­ger durch­ge­le­sen. Auch hier sind von der Sei­te der Werk­statt an der Si­che­rung der Tür III we­sent­li­che Ände­run­gen vor­ge­nom­men wor­den. Die­se Fahr­zeu­ge be­sit­zen ei­ne elek­tri­sche Brem­se auf der mitt­le­ren Ach­se. Die Brems­verzöge­rung liegt da­mit in et­wa bei ei­ner mitt­le­ren Brem­sung. Bis­her war es so, dass bei un­be­fug­ter Betäti­gung der Si­cher­heits­ein­rich­tung während der Fahrt, das Fahr­zeug au­to­ma­tisch brems­te. Mitt­ler­wei­le, wenn über­haupt, nur noch un­ter 7 km/h, was uns wirk­lich die Leu­te von den Füßen holt. Plötz­lich muss­te die Fah­rer­schaft fest­stel­len, dass be­son­ders bei Schul­einsätzen, es im­mer wie­der vor­kam, dass Ge­lenkzüge mit of­fe­ner Tür und dar­in ste­hen­den Kin­dern mit ho­her Ge­schwin­dig­keit durch die Stadt oder über Land roll­ten. Nach sol­chem Vor­komm­nis bei ei­ner Kol­le­gin auf der Li­nie 51, ha­be ich die Geschäfts­lei­tung schrift­lich zu ei­ner Stel­lung­nah­me da­zu auf­ge­for­dert. Ehe ei­ne Re­ak­ti­on er­folg­te kam es für mich als Fahr­gast zu ei­nem zwei­ten ähn­li­chen Zwi­schen­fall mit ei­nem re­la­tiv neu­en Fahr­zeug. Da­bei fuhr der Fah­rer mit geöff­ne­ter hin­te­rer Tür von der Hal­te­stel­le A in Abis zum Denk­mal­platz. Da­bei hielt er meh­re­re Ma­le an und setz­te sich wie­der in Be­we­gung. Es ertönte we­der das ein­ge­bau­te Warn­si­gnal noch re­agier­te der Fah­rer auf die An­zei­gen im Dis­play. Auf die­se Mel­dung wur­de mir dann von Herrn Berklärt: Die A Werk­statt hat die Si­cher­heits­ein­rich­tun­gen an den Türen so verändert, da­mit bei der „Voll­brem­sung“ bei un­be­fug­ten betäti­gen des Not­hahns nie­mand im Bus zu Fall käme. Dafür wäre dann nämlich die A ver­ant­wort­lich. Wenn der Fah­rer aber die An­zei­gen über­se­hen würde, läge das dann in sei­ner Ver­ant­wor­tung. Auf mei­ne Fra­ge: Wenn ich so­fort die of­fe­nen Türen be­mer­ken würde, und wenn dann bei der ein­ge­leg­ten Brem­sung sei­ne bei­den ei­ge­nen Kin­der hin­ten aus der Tür flögen und ei­nes tödlich ver­letzt und das an­de­re sein Le­ben ein Krüppel blie­be, was er mir dann sa­gen würde, blieb Herr B mir die Ant­wort schul­dig. Im Fall der zwei­ten Mel­dung ließ mir die Werk­statt mit­tei­len, dass an dem Fahr­zeug kein Feh­ler vor­lag und mei­ne Aus­sa­ge nicht nach zu voll­zie­hen sei. Mir ist un­ver­blümt mit­ge­teilt wor­den, dass die A hier die Ver­ant­wor­tung, oh­ne Rück­sicht auf die Si­cher­heit der Fahrgäste, ver­sucht, auf die Fah­rer­schaft ab­zuwälzen. Die kon­kre­te Fra­ge von mir, ist so kon­kret auch be­ant­wor­tet wor­den.
 


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Herr B, ich weiß jetzt nicht was die St­V­ZO dies­bezüglich sagt, aber eins ist si­cher, hätte die Adie Türschal­tung aus nicht nach­voll­zieh­ba­ren Gründen nicht geändert, würde der Jun­ge heu­te noch le­ben. Der Bus hätte beim Öff­nen des Not­hahns stark ge­bremst, der Jun­ge wäre da­durch nicht mehr in der La­ge ge­we­sen, die Tür noch zu öff­nen. Selbst wenn er es noch ge­schafft hätte, wäre der Bus nur noch mit er­heb­lich ver­rin­ger­ter Ge­schwin­dig­keit ge­fah­ren bzw. wäre schon zum Still­stand ge­kom­men. Es ist der Be­triebsführung vom Fahr­per­so­nal ge­nau die­ses Sze­na­rio dar­ge­stellt wor­den, die ver­ant­wort­li­chen Leu­te ha­ben nur mit den Ach­seln ge­zuckt.

Mit freund­li­chen Grüßen

D H“

In dem dar­auf­hin durch die S A wie­der auf­ge­nom­me­nen Er­mitt­lungs­ver­fah­ren wur­de der Sach­verständi­ge Dr.-Ing. W M mit der Be­gut­ach­tung der Si­cher­heits­ein­rich­tun­gen des be­tref­fen­den Om­ni­bus­mo­dells be­auf­tragt, wel­ches in den Un­fall vom 05.04.2010 ver­wi­ckelt war. Ab­sch­ließend heißt es in dem Gut­ach­ten:

„Es be­steht kei­ne tech­ni­sche Kopp­lung zwi­schen dem Not­hahn und der Brems­an­la­ge des Fahr­zeu­ges. Dies ist ent­spre­chend den Be­triebs­an­lei­tun­gen zu dem frag­li­chen Fahr­zeug auch un­ter Berück­sich­ti­gung der Steue­rungs­elek­tro­nik des Fahr­zeu­ges tech­nisch nicht vor­ge­se­hen.“

Mit sei­ner am 03.08.2010 er­ho­be­nen Kla­ge hat der Kläger zu­letzt be­an­tragt,

1. fest­zu­stel­len, dass das zwi­schen den Par­tei­en be­ste­hen­de Beschäfti­gungs­verhält­nis durch die Kündi­gun­gen vom 28.07.2010, 30.07.2010 und 03.08.2010 we­der frist­los noch un­ter Berück­sich­ti­gung ei­ner so­zia­len Aus­lauf­frist zum 31.03.2011 be­en­det wor­den ist, bzw. be­en­det wer­den wird, son­dern darüber hin­aus zu un­veränder­ten Be­din­gun­gen fort­be­steht;


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2. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, ihn un­verzüglich als Bus­fah­rer / Fahr­aus­weisprüfer un­ter Be­zug­nah­me auf den Ar­beits­ver­trag vom 19.08.1988 wei­ter zu beschäfti­gen.

Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge durch Ur­teil vom 07.12.2010 ab­ge­wie­sen und zur Be­gründung im We­sent­li­chen aus­geführt, dass das zwi­schen den Par­tei­en be­ste­hen­de Ar­beits­verhält­nis durch die frist­lo­se Kündi­gung vom 28.07.2010 wirk­sam auf­gelöst wor­den sei. Ent­spre­chend der von Bun­des­ar­beits­ge­richt und Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ent­wi­ckel­ten Grundsätze zur Wirk­sam­keit ei­ner Kündi­gung ei­nes Ar­beit­neh­mers aus An­lass ei­ner durch die­sen er­folg­ten Straf­an­zei­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber stel­le das Ver­hal­ten des Klägers ei­nen wich­ti­gen Kündi­gungs­grund im Sin­ne des § 626 BGB dar, der zur frist­lo­sen Kündi­gung be­rech­ti­ge. Vor­lie­gend ha­be die E-Mail des Klägers vom 19.05.2010 zu wei­te­ren Er­mitt­lun­gen geführt. Das Sach­verständi­gen­gut­ach­ten ha­be im Ver­lauf der Er­mitt­lun­gen ein­deu­tig er­ge­ben, dass das be­tref­fen­de Bus­mo­dell nie­mals mit ei­ner au­to­ma­ti­schen Brem­sung bei jeg­li­cher Betäti­gung des Not­hahns aus­gerüstet ge­we­sen sei. Dies könne be­reits der Be­triebs­an­lei­tung ent­nom­men wer­den. Es wäre für den Kläger als Bus­fah­rer ein leich­tes ge­we­sen, sich ergänzen­de Kennt­nis­se über die Si­cher­heits­ein­rich­tun­gen des Kraft­fahr­zeugs zu ver­schaf­fen. Statt­des­sen ha­be er un­be­rech­tig­te Ma­ni­pu­la­ti­ons­vorwürfe ge­genüber der Po­li­zei er­ho­ben und die Be­haup­tung auf­ge­stellt, oh­ne die Ma­ni­pu­la­ti­on hätte sich der tödli­che Un­fall nicht er­eig­net. Die­ses Ver­hal­ten sei we­der vom Recht auf freie Mei­nungsäußerung ge­deckt, noch han­de­le es sich hier­bei um die Wahr­neh­mung be­rech­tig­ter In­ter­es­sen.

Mit sei­ner Be­ru­fung macht der Kläger un­ter Ver­tie­fung sei­nes erst­in­stanz­li­chen Vor­brin­gens wei­ter­hin die Un­wirk­sam­keit der aus­ge­spro­che­nen Kündi­gun­gen gel­tend. Er be­haup­tet, der Zeu­ge Bha­be in sei­ner Funk­ti­on im Be­trieb der Be­klag­ten die Verände­rung der Brem­sen in ei­nem persönli­chen Gespräch ein­geräumt. Er ist der Auf­fas­sung, dass un­ter Zu­grun­de­le­gung der höchst­rich­ter­lich ent­wi­ckel­ten Grundsätze und der ak­tu­el­len Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs für Men­schen­rech­te


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zur Wirk­sam­keit ei­ner Kündi­gung aus An­lass ei­ner Straf­an­zei­ge durch den Ar­beit­neh­mer die Be­klag­te nicht be­rech­tigt ge­we­sen sei, das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en aus die­sem Grun­de zu be­en­den. Sei­ne Straf­an­zei­ge be­ru­he ge­ra­de nicht wis­sent­lich auf un­wah­rem Vor­trag und sei kei­nes­wegs leicht­fer­tig er­folgt. Zu­dem sei zu berück­sich­ti­gen, dass sei­ne Äußerun­gen aus­sch­ließlich im Rah­men ei­nes staats­an­walt­li­chen Er­mitt­lungs­ver­fah­rens getätigt und nicht an die Öffent­lich­keit ge­tra­gen wor­den sei­en. Fer­ner ha­be er erst ge­han­delt, nach­dem er sämt­li­che in­ner­be­trieb­li­chen Möglich­kei­ten zur Aufklärung des Sach­ver­halts ver­geb­lich aus­geschöpft ha­be. Be­reits in der Ver­gan­gen­heit ha­be er mehr­fach si­cher­heits­re­le­van­te Pro­ble­me nach­wei­sen können, so dass er da­von aus­ge­gan­gen sei, auch im vor­lie­gen­den Fall auf ein Si­cher­heits­pro­blem hin­ge­wie­sen zu ha­ben. Ei­ne Be­triebs­an­lei­tung sei ihm nicht zur Kennt­nis ge­bracht wor­den.

Der Kläger be­an­tragt,

1. un­ter Auf­he­bung des Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Aa­chen vom 07.12.2010 – 4 Ca 2873/10 – fest­zu­stel­len, dass das zwi­schen den Par­tei­en be­ste­hen­de Beschäfti­gungs­verhält­nis durch die Kündi­gun­gen vom 28.07.2010, 30.07.2010 und 03.08.2010 we­der frist­los noch un­ter Berück­sich­ti­gung ei­nes so­zia­len Aus­lauf­frist zum 31.03.2011 be­en­det wor­den ist, bzw. be­en­det wer­den wird, son­dern darüber hin­aus zu un­veränder­ten Be­din­gun­gen fort­be­steht;

2. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, ihn un­verzüglich als Bus­fah­rer / Fahr­aus­weisprüfer un­ter Be­zug­nah­me auf den Ar­beits­ver­trag vom 19.08.1988 wei­ter zu beschäfti­gen.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.


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Sie be­haup­tet, der Kläger ha­be vor der Straf­an­zei­ge kei­nen Ver­such ei­ner in­ner­be­trieb­li­chen Klärung un­ter­nom­men. Fer­ner ha­be kein Gespräch zwi­schen dem Zeu­gen B und dem Kläger statt­ge­fun­den, in wel­chem der Zeu­ge B ge­genüber dem Kläger ei­ne Verände­rung der Brem­sen ein­geräumt ha­be. Sie ist der Auf­fas­sung, das Ver­fas­sen des Schrei­bens vom 20.02.2010 und der E-Mail vom 19.05.2010 be­rech­tig­te sie zum Aus­spruch ei­ner außer­or­dent­li­chen Kündi­gung, weil der Kläger auf die­sem We­ge zu­min­dest leicht­fer­tig – wenn nicht so­gar wis­sent­lich – un­wah­re Tat­sa­chen be­haup­tet ha­be. Hier­bei han­de­le es sich um ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on des Klägers. Im Übri­gen feh­le es be­reits an der Über­trag­bar­keit der ak­tu­el­len Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs für Men­schen­rech­te auf den vor­lie­gen­den Fall; woll­te man dies be­ja­hen, sei­en die dem Kläger ge­genüber aus­ge­spro­che­nen Kündi­gun­gen je­den­falls mit den Grundsätzen die­ser Recht­spre­chung voll­umfäng­lich ver­ein­bar.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des Sach- und Streit­stan­des ha­ben die Par­tei­en auf die von ih­nen ge­wech­sel­ten Schriftsätze nebst An­la­gen Be­zug ge­nom­men. Das Ge­richt hat gemäß Be­weis­be­schluss vom 03.11.2011 Be­weis er­ho­ben durch un­eid­li­che Ver­neh­mung des Zeu­gen B. Hin­sicht­lich des Er­geb­nis­ses der Be­weis­auf­nah­me wird die Sit­zungs­nie­der­schrift Be­zug ge­nom­men (Bl. 529 ff. d. A.).

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

I. Die Be­ru­fung des Klägers ist zulässig, weil sie statt­haft (§ 64 Abs. 1 u. 2 ArbGG) und frist- so­wie form­ge­recht ein­ge­legt und be­gründet wor­den ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG; §§ 519, 520 ZPO).

II. Das Rechts­mit­tel hat auch in der Sa­che teil­wei­se Er­folg.


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Auf den An­trag zu 1) war fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en durch die Kündi­gun­gen vom 28.07.2010, 30.07.2010 und 03.08.2010 nicht vor dem 31.03.2010 be­en­det wor­den ist, weil die Be­klag­te nicht be­rech­tigt war, das Ver­hal­ten des Klägers zum An­lass für ei­ne außer­or­dent­li­che frist­lo­se Kündi­gung zu neh­men. Das Ver­hal­ten des Klägers be­rech­tig­te sie al­ler­dings zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung mit Aus­lauf­frist. Im Ein­zel­nen gilt fol­gen­des:

1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann ein Ar­beits­verhält­nis von je­dem Ver­trags­teil aus wich­ti­gen Grund oh­ne Ein­hal­tung ei­ner Kündi­gungs­frist be­en­det wer­den, wenn Gründe vor­lie­gen, die es dem Kündi­gen­den un­ter Berück­sich­ti­gung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le als nicht zu­mut­bar er­schei­nen las­sen, das Ar­beits­verhält­nis zu­min­dest bis Ab­lauf der or­dent­li­chen Kündi­gungs­frist auf­recht zu er­hal­ten. Vor­lie­gend stellt das Ver­hal­ten des Klägers ge­genüber den staat­li­chen Er­mitt­lungs­behörden auch un­ter Berück­sich­ti­gung der ak­tu­el­len Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs für Men­schen­rech­te ei­nen wich­ti­gen Grund im Sin­ne die­ser Vor­schrift dar, das zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung be­rech­tigt.

a) Nach ständi­ger Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts kann ei­ne vom Ar­beit­neh­mer ge­gen den Ar­beit­ge­ber er­stat­te­te An­zei­ge ei­nen wich­ti­gen Grund im Sin­ne des § 626 Abs. 1 BGB dar­stel­len, wel­cher zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses be­rech­tigt (vgl. BAG vom 05.02.1959 – 2 AZR 60/56, ju­ris; BAG vom 04.07.1991 – 2 AZR 80/91, ju­ris; BAG vom 03.07.2001 – 2 AZR 2353/02, ju­ris). Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts gilt es in die­sem Zu­sam­men­hang zu be­ach­ten, dass der Ar­beit­neh­mer mit Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge ein grund­recht­li­ches Frei­heits­recht (Art. 2 Abs. 1 GG in Ver­bin­dung mit dem Rechts­staats­prin­zip) ausübt, das ihm die Rechts­ord­nung aus­drück­lich gewährt; es ent­spricht all­ge­mei­nem In­ter­es­se des Rechts­staa­tes an der Er­hal­tung des Rechts­frie­dens und an der Aufklärung von Straf­ta­ten, dass auch der Ar­beit­neh­mer zur Aufklärung von Straf­ta­ten bei­tra­gen darf und dies in be­son­de­ren Fällen so­gar muss, selbst wenn die­se vom Ar­beit­ge­ber be­gan­gen wur­den; halt­lo­se Vorwürfe aus ver­werf­li­chen Mo­ti­ven können dem­ge­genüber ei­nen wich­ti­gen Grund im Sin­ne des § 626 BGB dar­stel­len (vgl. BVerfG vom 20.07.2001 – 1 BVR 249/00,


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ju­ris). Es kommt maßgeb­lich dar­auf an, ob die Straf­an­zei­ge des Ar­beit­neh­mers nicht auf wis­sent­lich un­wah­rem Vor­trag be­ruht oder leicht­fer­tig er­folgt, weil im Rah­men des In­ter­es­sen­aus­gleichs zwi­schen den Grund­rech­ten der Ver­trags­par­tei­en die Be­rufs­frei­heit des Ar­beit­ge­bers sein In­ter­es­se schützt, nur mit sol­chen Ar­beit­neh­mern zu­sam­men­zu­ar­bei­ten, die die Zie­le des Un­ter­neh­mens fördern und es vor Schäden be­wah­ren (vgl. BAG vom 03.07.2003 – 2 AZR 235/02, ju­ris). Die Straf­an­zei­ge darf zu­dem nicht als un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on des Ar­beit­neh­mers zu qua­li­fi­zie­ren sein (vg. BAG vom 07.12.2006 – 2 AZR 400/05, ju­ris).

b) In sei­ner Ent­schei­dung vom 21.07.2011 hat der Eu­ropäische Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR vom 21.07.2010 – 28274/08, ju­ris) klar­ge­stellt, dass Straf­an­zei­gen von Ar­beit­neh­mern ge­gen ih­ren Ar­beit­ge­ber mit dem Ziel, Missstände in ih­ren Un­ter­neh­men of­fen zu le­gen, dem Gel­tungs­be­reich des Art. 10 EM­RK un­ter­lie­gen und mit­tels der Straf­an­zei­ge vom Recht auf freie Mei­nungsäußerung im Sin­ne des Art. 10 Abs. 1 S. 1 EM­RK Ge­brauch ge­macht wird. Im zu­grun­de lie­gen­den Fall der Straf­an­zei­ge ei­ner Al­ten­pfle­ge­rin we­gen Missständen hin­sicht­lich der Do­ku­men­ta­ti­on der Pfle­ge­leis­tun­gen hätten die deut­schen Ge­rich­te kei­nen an­ge­mes­se­nen Aus­gleich zwi­schen der Not­wen­dig­keit, den Ruf des Ar­beit­ge­bers zu schützen ei­ner­seits, und der­je­ni­gen, das Recht auf Frei­heit der Mei­nungsäußerung zu schützen an­de­rer­seits, her­bei­geführt. Im Rah­men die­ser Abwägung sind nach An­sicht des EGMR fol­gen­de As­pek­te von Be­deu­tung: In ers­ter Li­nie ge­bie­te die Loya­litäts­pflicht des Ar­beit­neh­mers, zunächst ei­ne in­ter­ne Klärung zu ver­su­chen, um dann als ul­ti­ma ra­tio die Öffent­lich­keit zu in­for­mie­ren (EGMR vom 21.07.2010 – 28274/08, ju­ris – Rn. 65 der Ent­schei­dungs­gründe). Darüber hin­aus ha­be je­de Per­son, die In­for­ma­tio­nen of­fen le­gen wol­le, sorgfältig zu prüfen, ob die In­for­ma­ti­on zu­tref­fend und zu­verlässig sei (EGMR vom 21.07.2010 – 28274/08, ju­ris – Rn. 67 der Ent­schei­dungs­gründe). Auf der an­de­ren Sei­te sei auch der Scha­den von Be­deu­tung, der dem Ar­beit­ge­ber durch die in Re­de ste­hen­de Veröffent­li­chung ent­stan­den sei (EGMR vom 21.07.2010 – 28274/08, ju­ris – Rn. 68 der Ent­schei­dungs­gründe). We­sent­lich sei außer­dem, ob die Per­son die Of­fen­le­gung in gu­tem Glau­ben und in der Über­zeu­gung vor­ge­nom­men hat, dass die In­for­ma­ti­on wahr sei, dass sie im

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öffent­li­chen In­ter­es­se lie­ge, und dass kei­ne an­de­ren, dis­kre­te­ren Mit­tel exis­tier­ten, um ge­gen den an­ge­pran­ger­ten Miss­stand vor­zu­ge­hen (EGMR vom 21.07.2010 – 28274/08, ju­ris – Rn. 69 der Ent­schei­dungs­gründe).

c) Die­se Recht­spre­chung des EGMR ist im Rah­men des an­wend­ba­ren Rechts, zu dem we­gen sei­ner Wert set­zen­den Be­deu­tung auch die EM­RK gehört, auch im Streit­fall zu berück­sich­ti­gen. Der durch die EM­RK ge­for­der­te und durch die Ent­schei­dun­gen des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs für Men­schen­rech­te kon­kre­ti­sier­te Schutz­maßstab darf nicht un­ter­schrit­ten wer­den (vgl. hier­zu Forst, NJW 2011, 3477, 3480 m. w. N.). Ei­ne Recht­fer­ti­gung der Straf­an­zei­ge kann sich ins­be­son­de­re aus dem öffent­li­chen In­ter­es­se ei­ner Aufklärung der Vorwürfe er­ge­ben. Wenn der EGMR in be­son­de­rem Maße All­ge­mein­in­ter­es­sen in die Abwägung der ge­genläufi­gen In­ter­es­sen von Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­neh­mer ein­be­zieht, dann steht dies den von Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt und Bun­des­ar­beits­ge­richt ent­wi­ckel­ten Kri­te­ri­en nicht ent­ge­gen, son­dern kann als ergänzen­de Fort­ent­wick­lung an­ge­se­hen wer­den. Mit den vom Eu­ropäischen Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te be­ton­ten As­pek­ten wer­den die be­reits von den deut­schen Ge­rich­ten her­aus­ge­ar­bei­te­ten Grundsätze wei­ter präzi­siert (vgl. hier­zu Forst, NJW 2011, 3477, 3480 ff.; Be­cker, DB 2011, 2202, 2203). Letzt­lich ent­schei­dend ist ei­ne durch die Grund­rech­te der Be­tei­lig­ten ge­prägte um­fas­sen­de In­ter­es­sen­abwägung un­ter be­son­de­rer Berück­sich­ti­gung von In­ter­es­sen der All­ge­mein­heit.

d) Nach Maßga­be die­ser Grundsätze stellt das Ver­hal­ten des Klägers ei­nen wich­ti­gen Grund im Sin­ne des § 626 Abs. 1 BGB dar. Der Kläger hat je­den­falls im Rah­men sei­ner E-Mail vom 19.05.2010 wis­sent­lich un­wah­re Tat­sa­chen vor­ge­tra­gen, in­dem er un­ter Ver­weis auf ein Gespräch mit dem Zeu­gen B ei­ne Ma­ni­pu­la­ti­on der Tech­nik durch die Werk­statt der Be­klag­ten be­haup­te­te, oh­ne die es nicht zum tödli­chen Un­fall ge­kom­men wäre. Das steht nach Ver­neh­mung des Zeu­gen B zur Über­zeu­gung des Be­ru­fungs­ge­richts fest. Der Zeu­ge hat glaub­haft be­kun­det, dass er ei­ne sol­che Be­mer­kung ge­genüber dem Kläger nie­mals ge­macht hat. Viel­mehr sei es nach sei­ner Er­in­ne­rung sein An­lie­gen ge­we­sen, dem Kläger deut­lich zu ma­chen, dass auf­grund der ak­tu­el­len Tech­nik in sol­chen Fällen kei­ne au­to­ma­ti­sche Brem­sung er­fol­ge. Heut­zu­ta­ge würden


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Bus­se gemäß den ge­setz­li­chen Vor­schrif­ten von den Her­stel­lern oh­ne ei­ne sol­che Brems­au­to­ma­tik aus­ge­lie­fert, so dass es kei­nen Sinn ma­che, dass die Werk­statt dar­an et­was verände­re. Die ge­gen­tei­li­ge Äußerung sei ihm schlicht­weg in den Mund ge­legt wor­den. Für die Glaubwürdig­keit des Zeu­gen B spricht, auch wenn er wei­ter­hin im Be­trieb der Be­klag­ten tätig ist, dass er Er­in­ne­rungslücken ein­ge­stan­den hat und sich vor dem Hin­ter­grund der von ihm zu be­treu­en­den 450 Mit­ar­bei­ter nicht an al­le Ein­zel­hei­ten der Gespräche mit dem Kläger ent­sin­nen konn­te, zu­mal es in Übe­rein­stim­mung mit dem kläge­ri­schen Vor­trag meh­re­re sol­cher Mit­ar­bei­ter­gespräche ge­ge­ben hat. Der Zeu­ge hat sich ge­ra­de nicht dar­auf be­schränkt, das vom Kläger be­haup­te­te Gespräch pau­schal ab­zu­strei­ten und auf die­sem Stand­punkt zu ver­har­ren. Er hat statt­des­sen über­zeu­gend dar­ge­legt, dass und war­um er die vom Kläger be­haup­te­te Äußerung, die Si­cher­heits­ein­rich­tun­gen der Bus­se sei­en verändert wor­den, nicht ge­macht hat.

Auf­grund des mit dem Zeu­gen B geführ­ten Gesprächs hätte es dem Kläger be­wusst sein müssen, dass die von ihm er­ho­be­nen Vorwürfe ei­ner sach­li­chen Grund­la­ge ent­behr­ten. Dass er in­so­weit ei­nem in die­sem Zu­sam­men­hang re­le­van­ten Irr­tum un­ter­le­gen wäre, ist nach dem Er­geb­nis der Be­weis­auf­nah­me nicht er­kenn­bar. Die stets er­for­der­li­che sorgfälti­ge Prüfung, ob die In­for­ma­tio­nen zu­tref­fend und zu­verlässig sind, hat of­fen­bar nicht statt­ge­fun­den. Viel­mehr han­del­te es sich um ob­jek­tiv un­zu­tref­fen­de Ma­ni­pu­la­ti­ons­vorwürfe un­ter An­ga­be ei­ner fal­schen Quel­le. Auch wenn man im Lich­te der Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs für Men­schen­rech­te berück­sich­tigt, dass die vom Kläger er­stat­te­te An­zei­ge we­gen des ho­hen Guts der Ver­kehrs­si­cher­heit an sich im öffent­li­chen In­ter­es­se ge­le­gen hat und von der Mo­ti­va­ti­on ge­tra­gen war, wei­te­re ver­gleich­ba­re Unfälle zu ver­hin­dern, so bleibt fest­zu­stel­len, dass der Kläger mit sei­ner un­wah­ren Be­haup­tung, der Zeu­ge B ha­be ei­ne Ma­ni­pu­la­ti­on an den Si­cher­heits­ein­rich­tun­gen der Bus­se ein­geräumt, die Gren­zen des Zulässi­gen über­schrit­ten hat. Mit die­ser un­wah­ren Be­haup­tung hat der Kläger in schwer­wie­gen­der Wei­se ge­gen sei­ne aus den §§ 241 Abs. 2, 242 BGB fol­gen­de Loya­litäts­pflicht ver­s­toßen.
 


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3. Auch wenn da­nach ei­ne wich­ti­ger Grund für ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung an sich zu be­ja­hen ist, be­darf es zusätz­lich ei­ner um­fas­sen­den Abwägung zwi­schen den Be­stands­schutz­in­ter­es­sen des Ar­beit­neh­mers ei­ner­seits und den – so­for­ti­gen – Be­en­di­gungs­in­ter­es­sen des Ar­beit­ge­bers an­de­rer­seits (vgl. BAG vom 11.12.2003 – 2 AZR 36/03, AP Nr. 179 zu § 626 BGB m.w.N.). Da­bei muss auch ge­prüft wer­den, ob es dem Ar­beit­ge­ber we­gen der Dau­er der be­an­stan­dungs­frei­en Be­triebs­zu­gehörig­keit des Ar­beit­neh­mers nicht zu­min­dest zu­mut­bar war, das Ar­beits­verhält­nis bis zum Ab­lauf ei­ner – hier al­ler­dings ta­rif­ver­trag­lich aus­ge­schlos­se­nen – or­dent­li­chen Kündi­gung fort­zu­set­zen bzw. dem Ar­beit­neh­mer ei­ne der Kündi­gungs­frist ent­spre­chen­de fik­ti­ve Aus­lauf­frist ein­zuräum­en (vgl. BAG 12.03.2009 – 2 AZR 251/07, ju­ris). Dies ist zur Ver­mei­dung von Wer­tungs­wi­dersprüchen ge­bo­ten. Denn es wi­der­spricht dem Sinn und Zweck des ta­rif­li­chen Al­terskündi­gungs­schut­zes, dem Ar­beit­neh­mer ei­ne der fik­ti­ven Kündi­gungs­frist ent­spre­chen­de Aus­lauf­frist zu ver­wei­gern, wenn bei ei­nem ver­gleich­ba­ren Ar­beit­neh­mer oh­ne ge­stei­ger­ten Kündi­gungs­schutz bei glei­chem Sach­ver­halt nur frist­ge­recht gekündigt wer­den könn­te (vgl. BAG 11.03.1999 – 2 AZR 427/98, ju­ris m.w.N.). Der Möglich­keit ei­ner Aus­lauf­frist steht hier auch nicht der be­son­de­re Kündi­gungs­schutz des § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG ent­ge­gen (vgl. da­zu BAG 17.01.2008 – 2 AZR 821/06), weil sich der Kläger als Er­satz­mit­glied le­dig­lich auf den nach­wir­ken­den Schutz des § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG be­ru­fen kann. Da­von geht er­kenn­bar auch die Be­klag­te aus, weil sie die Kündi­gun­gen hilfs­wei­se auch mit der ent­spre­chen­den Aus­lauf­frist aus­ge­spro­chen hat.

Bei der In­ter­es­sen­abwägung ist zunächst die lan­ge Be­triebs­zu­gehörig­keit des Klägers von rund 22 Jah­ren zum Zeit­punkt der Kündi­gung zu sei­nen Guns­ten zu be­ach­ten. Es kommt hin­zu, dass sich der durch die An­zei­ge dro­hen­de bzw. an­ge­rich­te­te Scha­den für die Be­klag­te noch in Gren­zen hielt, weil der Kläger nicht den Weg in die brei­te Öffent­lich­keit such­te, son­dern die von ihm geäußer­ten Vorwürfe mit der Bit­te um ver­trau­li­che Be­hand­lung an die Straf­ver­fol­gungs­behörden her­an­trug. Hätte der Kläger die Öffent­lich­keit et­wa über die Pres­se in­for­miert, hätte dies ei­nen sehr viel größeren Scha­den für die Be­klag­te auslösen können. Zu Guns­ten des Klägers gilt es darüber hin­aus zu be­den­ken, dass er zwar die Vorwürfe vor ih­rer
 


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Wei­ter­ga­be in­ten­si­ver auf ih­re Halt­bar­keit hätte prüfen müssen, ei­ne Schädi­gungs­ab­sicht als ver­werf­li­che Mo­ti­va­ti­on für sein Han­deln je­doch nicht er­kenn­bar ist. Für die Be­klag­te strei­tet da­ge­gen der Um­stand, dass es aus ih­rer Sicht un­zu­mut­bar er­scheint, ei­nen Ar­beit­neh­mer wei­ter­hin zu beschäfti­gen, der ob­jek­tiv nicht ge­recht­fer­tig­te und schwer­wie­gen­de Vorwürfe an die staat­li­chen Behörden her­anträgt und sich hier­bei wahr­heits­wid­rig auf den ihr nach­tei­li­gen In­halt ei­ner an­geb­li­chen Aus­sa­ge ei­nes lei­ten­den Mit­ar­bei­ters be­ruft. Die­ser Sach­ver­halt, der durch ei­ne nach­hal­ti­ge Ver­let­zung der Rück­sicht­nah­me­pflicht ge­kenn­zeich­net ist, schließt ei­ne Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses auch oh­ne vor­he­ri­ge Ab­mah­nung aus, lässt aber die Ein­hal­tung ei­ner so­zia­len Aus­lauf­frist als noch zu­mut­bar er­schei­nen.

4. Die wei­te­ren von der Be­klag­ten an­geführ­ten Kündi­gungs­gründe, ins­be­son­de­re die Straf­an­zei­ge des Klägers vom 20.02.2010, die zu ei­nem Straf­ver­fah­ren ge­gen ihn selbst geführt hat, recht­fer­ti­gen kein an­de­res Er­geb­nis, weil sie bei ar­beits­recht­li­cher Be­trach­tung das Ge­wicht des dem Kläger vor­zu­wer­fen­den Fehl­ver­hal­tens nicht ent­schei­dend erhöhen.

5. Da das Ar­beits­verhält­nis mit dem En­de der Aus­lauf­frist be­en­det wur­de, steht dem Kläger ein Wei­ter­beschäfti­gungs­an­spruch nicht zu.

III. Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO.

IV. Die Re­vi­si­on war nicht gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG zu­zu­las­sen. Ins­be­son­de­re hat­te die Rechts­sa­che kei­ne grundsätz­li­che Be­deu­tung, weil die Ent­schei­dung auf den be­son­de­ren Umständen des Ein­zel­falls be­ruht.

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g

Ge­gen die­ses Ur­teil ist kein Rechts­mit­tel ge­ge­ben. We­gen der Möglich­keit der Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de wird auf § 72a ArbGG ver­wie­sen.
 

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