HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

EuGH, Ur­teil vom 14.03.2017, C-188/15 - Boug­naoui und AD­DH

   
Schlagworte: Diskriminierung: Religion, Kopftuch
   
Gericht: Europäischer Gerichtshof
Aktenzeichen: C-188/15
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 14.03.2017
   
Leitsätze: Art.4 Abs.1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass der Wille eines Arbeitgebers, den Wünschen eines Kunden zu entsprechen, die Leistungen dieses Arbeitgebers nicht mehr von einer Arbeitnehmerin ausführen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.
Vorinstanzen: Cour de cassation (Kassationsgerichtshof), Frankreich, Entscheidung vom 09.04.2015
   

UR­TEIL DES GERICH­TSHOFS (Große Kam­mer)

14. März 2017(*)

„Vor­la­ge zur Vor­ab­ent­schei­dung - So­zi­al­po­li­tik - Richt­li­nie 2000/78/EG - Gleich­be­hand­lung - Dis­kri­mi­nie­rung we­gen der Re­li­gi­on oder der Welt­an­schau­ung - We­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung - Be­griff - Wunsch ei­nes Kun­den, die Leis­tun­gen nicht von ei­ner Ar­beit­neh­me­rin ausführen zu las­sen, die ein is­la­mi­sches Kopf­tuch trägt“

In der Rechts­sa­che C-188/15

be­tref­fend ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen nach Art. 267 AEUV, ein­ge­reicht von der Cour de cas­sa­ti­on (Kas­sa­ti­ons­ge­richts­hof, Frank­reich) mit Ent­schei­dung vom 9. April 2015, beim Ge­richts­hof ein­ge­gan­gen am 24. April 2015, in dem Ver­fah­ren

As­ma Boug­naoui,

As­so­cia­ti­on de défen­se des droits de l’hom­me (AD­DH)

ge­gen

Mi­cro­po­le SA, vor­mals Mi­cro­po­le Uni­vers SA,

erlässt

DER GERICH­TSHOF (Große Kam­mer)

un­ter Mit­wir­kung des Präsi­den­ten K. Lena­erts, des Vi­ze­präsi­den­ten A. Tiz­za­no, der Kam­mer­präsi­den­tin R. Sil­va de La­pu­er­ta, der Kam­mer­präsi­den­ten M. Ilešič und L. Bay Lar­sen, der Kam­mer­präsi­den­tin M. Ber­ger, der Kam­mer­präsi­den­ten M. Vil­a­ras und E. Re­gan, der Rich­ter A. Ro­sas, A. Borg Bart­het, J. Ma­le­n­ovský, E. Le­vits und F. Bilt­gen (Be­richt­er­stat­ter), der Rich­te­rin K. Jürimäe und des Rich­ters C. Ly­cour­gos,

Ge­ne­ral­anwältin: E. Sharps­ton,

Kanz­ler: V. Tourrès, Ver­wal­tungs­rat,

auf­grund des schrift­li­chen Ver­fah­rens und auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 15. März 2016,

un­ter Berück­sich­ti­gung der Erklärun­gen

- von Frau Boug­naoui und der As­so­cia­ti­on de défen­se des droits de l’hom­me (AD­DH), ver­tre­ten durch C. Waquet, avo­ca­te,

- der Mi­cro­po­le SA, ver­tre­ten durch D. Céli­ce, avo­cat,

- der französi­schen Re­gie­rung, ver­tre­ten durch G. de Ber­gues, D. Co­las und R. Coe­s­me als Be­vollmäch­tig­te,

- der schwe­di­schen Re­gie­rung, ver­tre­ten durch A. Falk, C. Mey­er-Seitz, U. Pers­son, N. Ot­te Wid­gren, E. Karls­son und L. Swe­den­borg als Be­vollmäch­tig­te,

- der Re­gie­rung des Ver­ei­nig­ten König­reichs, ver­tre­ten durch S. Sim­mons als Be­vollmäch­tig­te im Bei­stand von A. Ba­tes, Bar­ris­ter,

- der Eu­ropäischen Kom­mis­si­on, ver­tre­ten durch D. Mar­tin und M. Van Hoof als Be­vollmäch­tig­te,

nach Anhörung der Schluss­anträge der Ge­ne­ral­anwältin in der Sit­zung vom 13. Ju­li 2016

fol­gen­des

Ur­teil

1 Das Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen be­trifft die Aus­le­gung von Art. 4 Abs. 1 der Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27. No­vem­ber 2000 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­hand­lung in Beschäfti­gung und Be­ruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
2

Es er­geht im Rah­men ei­nes Rechts­streits zwi­schen Frau As­ma Boug­naoui und der As­so­cia­ti­on de défen­se des droits de l’hom­me (Ver­ei­ni­gung zum Schutz der Men­schen­rech­te, AD­DH) auf der ei­nen Sei­te und der Mi­cro­po­le SA, vor­mals Mi­cro­po­le Uni­vers SA (im Fol­gen­den: Mi­cro­po­le) auf der an­de­ren Sei­te we­gen der Ent­las­sung von Frau Boug­naoui durch die­ses Un­ter­neh­men, die mit ih­rer Wei­ge­rung be­gründet wur­de, ihr is­la­mi­sches Kopf­tuch ab­zu­le­gen, wenn sie bei Kun­den von Mi­cro­po­le Auf­träge durchführ­te.

Recht­li­cher Rah­men

Richt­li­nie 2000/78

3

Die Erwägungs­gründe 1, 4 und 23 der Richt­li­nie 2000/78 lau­ten:

„(1) Nach Ar­ti­kel 6 Ab­satz 2 des Ver­trags über die Eu­ropäische Uni­on be­ruht die Eu­ropäische Uni­on auf den Grundsätzen der Frei­heit, der De­mo­kra­tie, der Ach­tung der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten so­wie der Rechts­staat­lich­keit; die­se Grundsätze sind al­len Mit­glied­staa­ten ge­mein­sam. Die Uni­on ach­tet die Grund­rech­te, wie sie in der Eu­ropäischen Kon­ven­ti­on zum Schut­ze der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten gewähr­leis­tet sind und wie sie sich aus den ge­mein­sa­men Ver­fas­sungsüber­lie­fe­run­gen der Mit­glied­staa­ten als all­ge­mei­ne Grundsätze des Ge­mein­schafts­rechts er­ge­ben.

(4) Die Gleich­heit al­ler Men­schen vor dem Ge­setz und der Schutz vor Dis­kri­mi­nie­rung ist ein all­ge­mei­nes Men­schen­recht; die­ses Recht wur­de in der All­ge­mei­nen Erklärung der Men­schen­rech­te, im VN-Übe­r­ein­kom­men zur Be­sei­ti­gung al­ler For­men der Dis­kri­mi­nie­rung von Frau­en, im In­ter­na­tio­na­len Pakt der VN über bürger­li­che und po­li­ti­sche Rech­te, im In­ter­na­tio­na­len Pakt der VN über wirt­schaft­li­che, so­zia­le und kul­tu­rel­le Rech­te so­wie in der Eu­ropäischen Kon­ven­ti­on zum Schut­ze der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten an­er­kannt, die von al­len Mit­glied­staa­ten un­ter­zeich­net wur­den. Das Übe­r­ein­kom­men 111 der In­ter­na­tio­na­len Ar­beits­or­ga­ni­sa­ti­on un­ter­sagt Dis­kri­mi­nie­run­gen in Beschäfti­gung und Be­ruf.

(23) Un­ter sehr be­grenz­ten Be­din­gun­gen kann ei­ne un­ter­schied­li­che Be­hand­lung ge­recht­fer­tigt sein, wenn ein Merk­mal, das mit der Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung, ei­ner Be­hin­de­rung, dem Al­ter oder der se­xu­el­len Aus­rich­tung zu­sam­menhängt, ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stellt, so­fern es sich um ei­nen rechtmäßigen Zweck und ei­ne an­ge­mes­se­ne An­for­de­rung han­delt. Die­se Be­din­gun­gen soll­ten in die In­for­ma­tio­nen auf­ge­nom­men wer­den, die die Mit­glied­staa­ten der Kom­mis­si­on über­mit­teln.

…“

4

Art.1 der Richt­li­nie 2000/78 be­stimmt:

„Zweck die­ser Richt­li­nie ist die Schaf­fung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens zur Bekämp­fung der Dis­kri­mi­nie­rung we­gen der Re­li­gi­on oder der Welt­an­schau­ung, ei­ner Be­hin­de­rung, des Al­ters oder der se­xu­el­len Aus­rich­tung in Beschäfti­gung und Be­ruf im Hin­blick auf die Ver­wirk­li­chung des Grund­sat­zes der Gleich­be­hand­lung in den Mit­glied­staa­ten.“

5

Art.2 Abs.1 und 2 der Richt­li­nie sieht vor:

„(1) Im Sin­ne die­ser Richt­li­nie be­deu­tet ‚Gleich­be­hand­lungs­grund­satz‘, dass es kei­ne un­mit­tel­ba­re oder mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­nes der in Ar­ti­kel 1 ge­nann­ten Gründe ge­ben darf.

(2) Im Sin­ne des Ab­sat­zes 1

a) liegt ei­ne un­mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung vor, wenn ei­ne Per­son we­gen ei­nes der in Ar­ti­kel 1 ge­nann­ten Gründe in ei­ner ver­gleich­ba­ren Si­tua­ti­on ei­ne we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung erfährt, als ei­ne an­de­re Per­son erfährt, er­fah­ren hat oder er­fah­ren würde;

b) liegt ei­ne mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung vor, wenn dem An­schein nach neu­tra­le Vor­schrif­ten, Kri­te­ri­en oder Ver­fah­ren Per­so­nen mit ei­ner be­stimm­ten Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung, ei­ner be­stimm­ten Be­hin­de­rung, ei­nes be­stimm­ten Al­ters oder mit ei­ner be­stimm­ten se­xu­el­len Aus­rich­tung ge­genüber an­de­ren Per­so­nen in be­son­de­rer Wei­se be­nach­tei­li­gen können, es sei denn:

i) die­se Vor­schrif­ten, Kri­te­ri­en oder Ver­fah­ren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sach­lich ge­recht­fer­tigt, und die Mit­tel sind zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich …

…“

6

In Art.3 Abs.1 der Richt­li­nie heißt es:

„Im Rah­men der auf die Ge­mein­schaft über­tra­ge­nen Zuständig­kei­ten gilt die­se Richt­li­nie für al­le Per­so­nen in öffent­li­chen und pri­va­ten Be­rei­chen, ein­sch­ließlich öffent­li­cher Stel­len, in Be­zug auf

c) die Beschäfti­gungs- und Ar­beits­be­din­gun­gen, ein­sch­ließlich der Ent­las­sungs­be­din­gun­gen und des Ar­beits­ent­gelts;

…“

7

Art.4 Abs.1 der Richt­li­nie 2000/78 sieht vor:

„Un­ge­ach­tet des Ar­ti­kels 2 Absätze 1 und 2 können die Mit­glied­staa­ten vor­se­hen, dass ei­ne Un­gleich­be­hand­lung we­gen ei­nes Merk­mals, das im Zu­sam­men­hang mit ei­nem der in Ar­ti­kel 1 ge­nann­ten Dis­kri­mi­nie­rungs­gründe steht, kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung dar­stellt, wenn das be­tref­fen­de Merk­mal auf­grund der Art ei­ner be­stimm­ten be­ruf­li­chen Tätig­keit oder der Be­din­gun­gen ih­rer Ausübung ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stellt, so­fern es sich um ei­nen rechtmäßigen Zweck und ei­ne an­ge­mes­se­ne An­for­de­rung han­delt.“

Französi­sches Recht

8 Die Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2000/78 wur­den u. a. durch die Art. L. 1132-1 und L. 1133-1 des Code du tra­vail (Ar­beits­ge­setz­buch) in der Fas­sung der Loi n° 2008-496, du 27 mai 2008, portant di­ver­ses dis­po­si­ti­ons d’ad­ap­ta­ti­on au droit com­mu­n­au­taire dans le do­mai­ne de la lut­te cont­re les dis­cri­mi­na­ti­ons (Ge­setz Nr. 2008-496 vom 27. Mai 2008 über ver­schie­de­ne Re­ge­lun­gen zur An­pas­sung der An­ti­dis­kri­mi­nie­rungs­vor­schrif­ten an das Ge­mein­schafts­recht, JORF vom 28. Mai 2008, S. 8801) in das französi­sche Recht um­ge­setzt.
9

Art. L. 1121-1 des Ar­beits­ge­setz­buchs be­stimmt:

„Nie­mand darf persönli­chen Rech­ten oder in­di­vi­du­el­len oder kol­lek­ti­ven Frei­hei­ten Be­schränkun­gen auf­er­le­gen, die nicht durch die Art der zu erfüllen­den Auf­ga­be ge­recht­fer­tigt und im Hin­blick auf das an­ge­streb­te Ziel verhält­nismäßig sind.“

10

Art. L. 1132-1 des Ar­beits­ge­setz­buchs sah in sei­ner im ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Zeit­raum gel­ten­den Fas­sung vor:

„Nie­mand darf aus Gründen sei­ner Her­kunft, sei­nes Ge­schlechts, sei­nes Ver­hal­tens, sei­ner se­xu­el­len Ori­en­tie­rung, sei­nes Al­ters, … sei­ner po­li­ti­schen Über­zeu­gun­gen, sei­ner Betäti­gung in Ge­werk­schaf­ten oder Be­triebsräten, sei­ner re­li­giösen Über­zeu­gun­gen, sei­nes äußer­li­chen Er­schei­nungs­bilds, sei­nes Nach­na­mens oder aus Gründen sei­nes Ge­sund­heits­zu­stands oder sei­ner Be­hin­de­rung von ei­nem Be­wer­bungs­ver­fah­ren oder vom Zu­gang zu Be­rufs­er­fah­rung oder ei­ner Aus­bil­dungs­zeit in ei­nem Un­ter­neh­men aus­ge­schlos­sen wer­den oder als Ar­beit­neh­mer ge­maßre­gelt, ent­las­sen oder ei­ner dis­kri­mi­nie­ren­den Be­hand­lung aus­ge­setzt wer­den, sei es un­mit­tel­bar oder mit­tel­bar im Sin­ne von Art. 1 des Ge­set­zes Nr. 2008-496 vom 27. Mai 2008 über ver­schie­de­ne Re­ge­lun­gen zur An­pas­sung der An­ti­dis­kri­mi­nie­rungs­vor­schrif­ten an das Ge­mein­schafts­recht; dies gilt ins­be­son­de­re im Hin­blick auf Vergütung im Sin­ne von Art. L. 3221-3, An­reiz- oder Mit­ar­bei­ter­be­tei­li­gungs­sys­te­me, Aus- und Fort­bil­dung, Neu­ein­stu­fung, Ver­wen­dung, Qua­li­fi­zie­rung, Ein­stu­fung, be­ruf­li­chen Auf­stieg, Ver­set­zung oder ei­ne Ver­trags­verlänge­rung.“

11

Art. L. 1133-1 des Ar­beits­ge­setz­buchs lau­tet:

„Art. L. 1132-1 steht Un­gleich­be­hand­lun­gen nicht ent­ge­gen, die sich aus ei­ner we­sent­li­chen und ent­schei­den­den be­ruf­li­chen An­for­de­rung er­ge­ben, so­fern es sich um ei­nen rechtmäßigen Zweck und ei­ne an­ge­mes­se­ne An­for­de­rung han­delt.“

12 Art. L. 1321-3 des Ar­beits­ge­setz­buchs lau­te­te in sei­ner im ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Zeit­raum gel­ten­den Fas­sung:

„Ar­beits­platz­vor­schrif­ten dürfen nicht ent­hal­ten:

1. Vor­schrif­ten, die dem primären oder se­kundären Recht oder den Re­ge­lun­gen der im Un­ter­neh­men oder Be­trieb für Ar­beits­mo­da­litäten gel­ten­den Kol­lek­tiv­verträge und Ge­pflo­gen­hei­ten wi­der­spre­chen;

2. Vor­schrif­ten, die Be­schränkun­gen persönli­cher Rech­te oder in­di­vi­du­el­ler oder kol­lek­ti­ver Frei­hei­ten vor­se­hen, die nicht durch die Art der aus­zuführen­den Auf­ga­be ge­recht­fer­tigt oder im Hin­blick auf das an­ge­streb­te Ziel verhält­nismäßig sind;

3. Vor­schrif­ten, die Ar­beit­neh­mer mit glei­chen be­ruf­li­chen Fähig­kei­ten in ih­rer Beschäfti­gung oder bei ih­rer Ar­beit aus Gründen ih­rer Her­kunft, ih­res Ge­schlechts, ih­res Ver­hal­tens, ih­rer se­xu­el­len Ori­en­tie­rung, ih­res Al­ters, … ih­rer po­li­ti­schen Über­zeu­gun­gen, ih­rer Betäti­gung in Ge­werk­schaf­ten oder Be­triebsräten, ih­rer re­li­giösen Über­zeu­gun­gen, ih­res äußer­li­chen Er­schei­nungs­bilds, ih­res Nach­na­mens oder aus Gründen ih­res Ge­sund­heits­zu­stands oder ih­rer Be­hin­de­rung dis­kri­mi­nie­ren.“

Aus­gangs­rechts­streit und Vor­la­ge­fra­ge

13 Den Ak­ten, die dem Ge­richts­hof vor­lie­gen, ist zu ent­neh­men, dass Frau Boug­naoui im Ok­to­ber 2007 vor ih­rer An­stel­lung durch das pri­va­te Un­ter­neh­men Mi­cro­po­le auf ei­ner Stu­die­ren­den­mes­se ei­nen Ver­tre­ter von Mi­cro­po­le traf, der sie dar­auf hin­wies, dass das Tra­gen des is­la­mi­schen Kopf­tuchs Pro­ble­me be­rei­ten könn­te, wenn sie mit den Kun­den die­ses Un­ter­neh­mens in Kon­takt tre­te. Als sich Frau Boug­naoui am 4. Fe­bru­ar 2008 bei Mi­cro­po­le vor­stell­te, um dort ihr Ab­schluss­prak­ti­kum zu ab­sol­vie­ren, trug sie ein ein­fa­ches Banda­na. Im An­schluss trug sie am Ar­beits­platz ein is­la­mi­sches Kopf­tuch. Nach Ab­sol­vie­rung des Prak­ti­kums stell­te Mi­cro­po­le sie ab 15. Ju­li 2008 mit ei­nem un­be­fris­te­ten Ar­beits­ver­trag als Soft­ware­de­si­gne­rin ein.  
14

Am 15. Ju­ni 2009 wur­de sie zu ei­nem Vor­gespräch über ih­re et­wai­ge Ent­las­sung ge­be­ten und an­sch­ließend mit Schrei­ben vom 22. Ju­ni 2009 ent­las­sen. In die­sem Schrei­ben heißt es:

"… Im Rah­men Ih­rer Auf­ga­ben ka­men Sie bei der Durchführung von Auf­trägen für un­se­re Kun­den zum Ein­satz.

Wir hat­ten Sie be­auf­tragt, am 15. Mai 2009 für den Kun­den … an des­sen Stand­ort … tätig zu wer­den. Im An­schluss an die­sen Ein­satz teil­te uns der Kun­de mit, dass ei­ne Rei­he sei­ner Mit­ar­bei­ter an dem Schlei­er An­s­toß ge­nom­men ha­be, den Sie tatsächlich täglich tra­gen. Er bat zu­dem dar­um, dass es ‚nächs­tes Mal kei­nen Schlei­er‘ ge­ben möge.

Bei Ih­rer Ein­stel­lung in un­se­rem Un­ter­neh­men und Ih­rem Gespräch mit Ih­rem Be­triebs­ma­na­ger … so­wie der Ver­ant­wort­li­chen für Ein­stel­lun­gen … wur­de das The­ma des Tra­gens ei­nes Schlei­ers sehr deut­lich mit Ih­nen be­spro­chen. Wir hat­ten Ih­nen klar­ge­macht, dass wir den Grund­satz der Mei­nungs­frei­heit eben­so wie die re­li­giösen Über­zeu­gun­gen ei­nes je­den völlig re­spek­tie­ren, dass Sie aber, da Sie so­wohl in­tern als auch ex­tern in Kon­takt mit Kun­den des Un­ter­neh­mens ste­hen würden, den Schlei­er nicht in al­len Si­tua­tio­nen würden tra­gen können. Im In­ter­es­se un­se­res Un­ter­neh­mens und sei­ner Ent­wick­lung se­hen wir uns ge­zwun­gen, ge­genüber un­se­ren Kun­den hin­sicht­lich der Äußerung persönli­cher Ein­stel­lun­gen un­se­rer An­ge­stell­ten Zurück­hal­tung zu ver­lan­gen.

Bei un­se­rem Gespräch vom 17. Ju­ni 2009 hat­ten wir die­sen Grund­satz not­wen­di­ger Neu­tra­lität Ih­nen ge­genüber be­kräftigt und Sie um sei­ne Ein­hal­tung ge­genüber un­se­rer Kund­schaft ge­be­ten. Wir hat­ten Sie er­neut ge­fragt, ob Sie die­se be­ruf­li­chen An­for­de­run­gen ak­zep­tie­ren könn­ten, in­dem Sie sich be­reit erklären würden, den Schlei­er nicht zu tra­gen, was Sie ver­nein­ten.

Wir sind der Mei­nung, dass die­se Tat­sa­chen aus den oben ge­nann­ten Gründen die Auflösung Ih­res Ar­beits­ver­trags recht­fer­ti­gen. Da Ih­re Hal­tung es unmöglich macht, dass Sie Ih­re Auf­ga­ben für das Un­ter­neh­men ausüben, weil wir auf­grund Ih­res Stand­punkts die wei­te­re Er­brin­gung von Leis­tun­gen durch Sie in Räum­lich­kei­ten un­se­rer Kun­den nicht länger in Be­tracht zie­hen können, wer­den Sie während Ih­rer Kündi­gungs­frist nicht ar­bei­ten können. Da die­se Nich­ter­brin­gung der Ar­beits­leis­tung während der Kündi­gungs­frist Ih­nen zu­zu­rech­nen ist, wer­den Sie während Ih­rer Kündi­gungs­frist kei­ne Vergütung er­hal­ten.

Wir be­dau­ern die­se Si­tua­ti­on, da Ih­re be­ruf­li­chen Fähig­kei­ten und Ihr Po­ten­zi­al auf ei­ne dau­er­haf­te Zu­sam­men­ar­beit hat­ten hof­fen las­sen."

15 Frau Boug­naoui hielt die­se Ent­las­sung für dis­kri­mi­nie­rend und er­hob da­her am 8. Sep­tem­ber 2009 Kla­ge vor dem Con­seil de prud’hom­mes de Pa­ris (Ar­beits­ge­richt Pa­ris, Frank­reich). Die­ses Ge­richt ver­ur­teil­te Mi­cro­po­le am 4. Mai 2011 zur Zah­lung ei­ner An­nah­me­ver­zugs­vergütung, weil im Ent­las­sungs­schrei­ben nicht auf die Schwe­re der Frau Boug­naoui vor­ge­wor­fe­nen Ver­feh­lung hin­ge­wie­sen wor­den sei, und wies die Kla­ge im Übri­gen mit der Be­gründung ab, dass die Be­schränkung der Frei­heit von Frau Boug­naoui, das is­la­mi­sche Kopf­tuch zu tra­gen, durch ih­ren Kon­takt mit den Kun­den des Un­ter­neh­mens ge­recht­fer­tigt sei und mit dem von Mi­cro­po­le ver­folg­ten Ziel, das Bild des Un­ter­neh­mens zu be­wah­ren und die Über­zeu­gun­gen ih­rer Kun­den nicht zu ver­let­zen, nicht außer Verhält­nis ste­he. 
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Frau Boug­naoui leg­te mit Un­terstützung der AD­DH bei der Cour d’ap­pel de Pa­ris (Be­ru­fungs­ge­richt Pa­ris, Frank­reich) Be­ru­fung ein. Mit Ent­schei­dung vom 18. April 2013 bestätig­te die­se die Ent­schei­dung des Con­seil des prud’hom­mes de Pa­ris (Ar­beits­ge­richt Pa­ris). Sie ent­schied u. a., dass die Ent­las­sung von Frau Boug­naoui kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung we­gen der re­li­giösen Über­zeu­gun­gen der Ar­beit­neh­me­rin sei, da die­se sie in­ner­halb des Un­ter­neh­mens wei­ter­hin zum Aus­druck brin­gen dürfe. Die Ent­las­sung sei auch durch ei­ne rechtmäßige Be­schränkung im In­ter­es­se des Un­ter­neh­mens ge­recht­fer­tigt, wo­hin­ge­gen die Ausübung der Frei­heit, die re­li­giösen Über­zeu­gun­gen zu be­kun­den, durch die Ar­beit­neh­me­rin über die Sphäre des Un­ter­neh­mens hin­aus­ge­he und sich de­ren Kun­den auf­dränge, oh­ne ih­re Emp­find­lich­kei­ten zu be­ach­ten. Da­durch wer­de in die Rech­te Drit­ter ein­ge­grif­fen.

17 Frau Boug­naoui und die AD­DH leg­ten ge­gen die Ent­schei­dung vom 18.April 2013 bei der Cour de cas­sa­ti­on (Kas­sa­ti­ons­ge­richts­hof, Frank­reich) Kas­sa­ti­ons­be­schwer­de ein. Vor die­sem Ge­richt ma­chen sie gel­tend, die Cour d’ap­pel de Pa­ris (Be­ru­fungs­ge­richt Pa­ris) ha­be u. a. ge­gen die Art. L. 1121-1, L. 1321-3 und L. 1132-1 des Ar­beits­ge­setz­buchs ver­s­toßen. Ein­schränkun­gen der Re­li­gi­ons­frei­heit müss­ten nämlich durch die Art der zu er­le­di­gen­den Auf­ga­be ge­recht­fer­tigt sein und ei­ner we­sent­li­chen und ent­schei­den­den be­ruf­li­chen An­for­de­rung ent­spre­chen, so­fern es sich um ei­nen rechtmäßigen Zweck und ei­ne an­ge­mes­se­ne An­for­de­rung han­de­le. Das Tra­gen des is­la­mi­schen Kopf­tuchs durch die An­ge­stell­te ei­nes pri­va­ten Un­ter­neh­mens, die Kun­den­kon­takt ha­be, ver­let­ze nicht die Rech­te und Über­zeu­gun­gen Drit­ter. Das Un­be­ha­gen oder die Emp­find­lich­keit, das oder die bei Kun­den ei­nes ge­werb­li­chen Un­ter­neh­mens an­geb­lich be­reits beim bloßen An­blick ei­nes Zei­chens re­li­giöser Zu­gehörig­keit aus­gelöst wer­de, sei we­der ein taug­li­ches noch ein le­gi­ti­mes, dis­kri­mi­nie­rungs­frei­es Kri­te­ri­um, das es recht­fer­ti­gen würde, wirt­schaft­li­chen oder geschäft­li­chen In­ter­es­sen die­ses Un­ter­neh­mens den Vor­rang vor den Grund­frei­hei­ten ei­nes An­ge­stell­ten ein­zuräum­en. 
18 Die mit dem Rechts­mit­tel be­fass­te Kam­mer für So­zi­al­sa­chen der Cour de cas­sa­ti­on (Kas­sa­ti­ons­ge­richts­hof) führt aus, der Ge­richts­hof ha­be sich in sei­nem Ur­teil vom 10. Ju­li 2008, Fe­ryn (C-54/07, EU:C:2008:397), auf die Fest­stel­lung be­schränkt, dass die öffent­li­che Äußerung ei­nes Ar­beit­ge­bers, er wer­de kei­ne Ar­beit­neh­mer ei­ner be­stimm­ten eth­ni­schen Her­kunft oder Ras­se ein­stel­len, ei­ne un­mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung bei der Ein­stel­lung im Sin­ne der Richt­li­nie 2000/43/EG des Ra­tes vom 29. Ju­ni 2000 zur An­wen­dung des Gleich­be­hand­lungs­grund­sat­zes oh­ne Un­ter­schied der Ras­se oder der eth­ni­schen Her­kunft (ABl. 2000, L 180, S. 22) be­gründe. Er ha­be aber nicht ent­schie­den, ob Art. Abs.1 der Richt­li­nie 2000/78 da­hin aus­zu­le­gen sei, dass der Wunsch ei­nes Kun­den des Ar­beit­ge­bers, die Leis­tun­gen die­ses Un­ter­neh­mens aus ei­nem der in die­ser Richt­li­nie an­geführ­ten Dis­kri­mi­nie­rungs­gründe nicht mehr von ei­nem Ar­beit­neh­mer ausführen zu las­sen, ei­ne auf­grund der Art ei­ner be­stimm­ten be­ruf­li­chen Tätig­keit oder der Be­din­gun­gen ih­rer Ausübung we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stel­le.
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Un­ter die­sen Umständen hat die So­zi­al­kam­mer der Cour de cas­sa­ti­on (Kas­sa­ti­ons­ge­richts­hof) be­schlos­sen, das Ver­fah­ren aus­zu­set­zen, und dem Ge­richts­hof fol­gen­de Fra­ge zur Vor­ab­ent­schei­dung vor­zu­le­gen:

Ist Art. 4 Abs. 1 der Richt­li­nie 2000/78 da­hin aus­zu­le­gen, dass der Wunsch ei­nes Kun­den ei­ner In­for­ma­tik­be­ra­tungs­ge­sell­schaft, die in­for­ma­ti­ons­tech­ni­schen Leis­tun­gen die­ses Un­ter­neh­mens nicht mehr von ei­ner an­ge­stell­ten Pro­jekt­in­ge­nieu­rin, die ein is­la­mi­sches Kopf­tuch trägt, ausführen zu las­sen, ei­ne auf­grund der Art ei­ner be­stimm­ten be­ruf­li­chen Tätig­keit oder der Be­din­gun­gen ih­rer Ausübung we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stellt?

Zum An­trag auf Wie­de­reröff­nung des münd­li­chen Ver­fah­rens

20 Nach Stel­lung der Schluss­anträge der Ge­ne­ral­anwältin hat Mi­cro­po­le am 18. No­vem­ber 2016 ei­nen An­trag auf Wie­de­reröff­nung des münd­li­chen Ver­fah­rens gemäß Art. 83 der Ver­fah­rens­ord­nung des Ge­richts­hofs ge­stellt.
21 Zur Stützung ih­res An­trags hat Mi­cro­po­le vor­ge­tra­gen, dass der Ge­richts­hof sie nach der Stel­lung der Schluss­anträge anhören müsse und sie dem Ge­richts­hof ergänzen­de In­for­ma­tio­nen zu­kom­men las­sen wol­le.
22 In­so­weit ist dar­auf hin­zu­wei­sen, dass der Ge­richts­hof nach Art. 83 sei­ner Ver­fah­rens­ord­nung je­der­zeit nach Anhörung des Ge­ne­ral­an­walts die Wie­de­reröff­nung des münd­li­chen Ver­fah­rens be­sch­ließen kann, ins­be­son­de­re wenn er sich für un­zu­rei­chend un­ter­rich­tet hält oder wenn ein zwi­schen den Par­tei­en oder den in Art.23 der Sat­zung des Ge­richts­hofs der Eu­ropäischen Uni­on be­zeich­ne­ten Be­tei­lig­ten nicht erörter­tes Vor­brin­gen ent­schei­dungs­er­heb­lich ist.
23 Im vor­lie­gen­den Fall ist der Ge­richts­hof nach Anhörung der Ge­ne­ral­anwältin der An­sicht, dass er über al­le An­ga­ben verfügt, die er­for­der­lich sind, um über das Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen zu ent­schei­den, und dass die­ses Er­su­chen nicht im Hin­blick auf ein Vor­brin­gen zu prüfen ist, das vor ihm nicht erörtert wor­den ist.
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Der An­trag von Mi­cro­po­le auf Wie­de­reröff­nung des münd­li­chen Ver­fah­rens ist da­her zurück­zu­wei­sen.

Zur Vor­la­ge­fra­ge

25 Mit sei­ner Fra­ge möch­te das vor­le­gen­de Ge­richt wis­sen, ob Art.4 Abs.1 der Richt­li­nie 2000/78 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass der Wil­le ei­nes Ar­beit­ge­bers, den Wünschen ei­nes Kun­den zu ent­spre­chen, die Leis­tun­gen die­ses Ar­beit­ge­bers nicht mehr von ei­ner Ar­beit­neh­me­rin ausführen zu las­sen, die ein is­la­mi­sches Kopf­tuch trägt, ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung im Sin­ne die­ser Be­stim­mung dar­stellt.
26 Ers­tens be­steht nach Art.1 der Richt­li­nie 2000/78 ihr Zweck in der Schaf­fung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens zur Bekämp­fung der Dis­kri­mi­nie­rung we­gen der Re­li­gi­on oder der Welt­an­schau­ung, ei­ner Be­hin­de­rung, des Al­ters oder der se­xu­el­len Aus­rich­tung in Beschäfti­gung und Be­ruf im Hin­blick auf die Ver­wirk­li­chung des Grund­sat­zes der Gleich­be­hand­lung in den Mit­glied­staa­ten.
27 Der in Art.1 der Richt­li­nie 2000/78 ver­wen­de­te Be­griff der Re­li­gi­on wird in die­ser Richt­li­nie nicht de­fi­niert.
28 Im ers­ten Erwägungs­grund der Richt­li­nie 2000/78 hat der Uni­ons­ge­setz­ge­ber je­doch auf die Grund­rech­te Be­zug ge­nom­men, wie sie in der am 4. No­vem­ber 1950 in Rom un­ter­zeich­ne­ten Eu­ropäischen Kon­ven­ti­on zum Schutz der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten (im Fol­gen­den: EM­RK) gewähr­leis­tet sind. Die EM­RK sieht in ih­rem Art. 9 vor, dass je­de Per­son das Recht auf Ge­dan­ken-, Ge­wis­sens- und Re­li­gi­ons­frei­heit hat, wo­bei die­ses Recht u. a. die Frei­heit um­fasst, sei­ne Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung ein­zeln oder ge­mein­sam mit an­de­ren öffent­lich oder pri­vat durch Got­tes­dienst, Un­ter­richt oder Prak­ti­zie­ren von Bräuchen und Ri­ten zu be­ken­nen.
29 Der Uni­ons­ge­setz­ge­ber hat im ers­ten Erwägungs­grund der Richt­li­nie 2000/78 außer­dem auf die ge­mein­sa­men Ver­fas­sungsüber­lie­fe­run­gen der Mit­glied­staa­ten als all­ge­mei­ne Grundsätze des Uni­ons­rechts Be­zug ge­nom­men. Zu den Rech­ten, die sich aus die­sen ge­mein­sa­men Ver­fas­sungsüber­lie­fe­run­gen er­ge­ben und die in der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on (im Fol­gen­den: Char­ta) be­kräftigt wur­den, gehört das in Art. 10 Abs. 1 der Char­ta ver­an­ker­te Recht auf Ge­wis­sens- und Re­li­gi­ons­frei­heit. Es um­fasst nach die­ser Be­stim­mung die Frei­heit, die Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung zu wech­seln, und die Frei­heit, sei­ne Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung ein­zeln oder ge­mein­sam mit an­de­ren öffent­lich oder pri­vat durch Got­tes­dienst, Un­ter­richt, Bräuche und Ri­ten zu be­ken­nen. Wie sich aus den Erläute­run­gen zur Char­ta der Grund­rech­te (ABl.2007, C 303, S.17) er­gibt, ent­spricht das in Art.10 Abs.1 der Char­ta ga­ran­tier­te Recht dem durch Art.9 EM­RK ga­ran­tier­ten Recht, und nach Art.52 Abs.3 der Char­ta hat es die glei­che Be­deu­tung und die glei­che Trag­wei­te wie die­ses.
30 Da die EM­RK und in der Fol­ge die Char­ta dem Be­griff der Re­li­gi­on ei­ne wei­te Be­deu­tung bei­le­gen und dar­un­ter auch die Frei­heit der Per­so­nen, ih­re Re­li­gi­on zu be­ken­nen, fas­sen, ist da­von aus­zu­ge­hen, dass der Uni­ons­ge­setz­ge­ber beim Er­lass der Richt­li­nie 2000/78 den glei­chen An­satz ver­fol­gen woll­te, so dass der Be­griff der Re­li­gi­on in Art. 1 der Richt­li­nie da­hin aus­zu­le­gen ist, dass er so­wohl das fo­rum in­ter­num, d. h. den Um­stand, Über­zeu­gun­gen zu ha­ben, als auch das fo­rum ex­ter­num, d. h. die Be­kun­dung des re­li­giösen Glau­bens in der Öffent­lich­keit, um­fasst.
31 Zwei­tens ist fest­zu­stel­len, dass der Vor­la­ge­ent­schei­dung nicht zu ent­neh­men ist, ob sich die Fra­ge des vor­le­gen­den Ge­richts aus der Fest­stel­lung ei­ner un­mit­tel­bar auf der Re­li­gi­on oder der Welt­an­schau­ung be­ru­hen­den Un­gleich­be­hand­lung er­gibt oder aus der Fest­stel­lung ei­ner mit­tel­bar auf die­sen Kri­te­ri­en be­ru­hen­den Un­gleich­be­hand­lung.
32 War in­so­weit die Ent­las­sung von Frau Boug­naoui - was zu prüfen Sa­che des vor­le­gen­den Ge­richts ist - auf ei­nen Ver­s­toß ge­gen ei­ne in­ner­halb des Un­ter­neh­mens gel­ten­de in­ter­ne Re­gel gestützt, die das Tra­gen je­des sicht­ba­ren Zei­chens po­li­ti­scher, phi­lo­so­phi­scher oder re­li­giöser Über­zeu­gun­gen ver­bie­tet, und soll­te sich her­aus­stel­len, dass die­se dem An­schein nach neu­tra­le Re­gel tatsächlich da­zu führt, dass Per­so­nen in be­son­de­rer Wei­se be­nach­tei­ligt wer­den, die wie Frau Boug­naoui ei­ner be­stimm­ten Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung an­gehören, wird von ei­ner mit­tel­bar auf der Re­li­gi­on oder der Welt­an­schau­ung be­ru­hen­den Un­gleich­be­hand­lung im Sin­ne von Art.2 Abs.2 Buchst.b der Richt­li­nie 2000/78 aus­zu­ge­hen sein (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom heu­ti­gen Tag, G4S Se­cu­re So­lu­ti­ons, C-157/15, Rn. 30 und 34).
33 Nach Art.2 Abs.2 Buchst.b Ziff. i der Richt­li­nie 2000/78 würde ei­ne sol­che Un­gleich­be­hand­lung je­doch nicht zu ei­ner mit­tel­ba­ren Dis­kri­mi­nie­rung führen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Um­set­zung ei­ner Po­li­tik der Neu­tra­lität durch Mi­cro­po­le im Verhält­nis zu ih­ren Kun­den sach­lich ge­recht­fer­tigt wäre und die Mit­tel zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich wären (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom heu­ti­gen Tag, G4S Se­cu­re So­lu­ti­ons, C-157/15, Rn. 35 bis 43).
34 Für den Fall, dass die Ent­las­sung von Frau Boug­naoui nicht auf ei­nen Ver­s­toß ge­gen ei­ne in­ner­halb des Un­ter­neh­mens gel­ten­de in­ter­ne Re­gel, wie sie in Rn. 32 des vor­lie­gen­den Ur­teils an­geführt wur­de, gestützt wäre, ist hin­ge­gen zu prüfen - wie auch die Fra­ge des vor­le­gen­den Ge­richts na­he­legt -, ob der Wil­le ei­nes Ar­beit­ge­bers, dem Wunsch ei­nes Kun­den zu ent­spre­chen, die Leis­tun­gen nicht mehr von ei­ner Ar­beit­neh­me­rin ausführen zu las­sen, die wie Frau Boug­naoui von die­sem Ar­beit­ge­ber zu die­sem Kun­den ge­schickt wur­de und ein is­la­mi­sches Kopf­tuch trägt, ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung im Sin­ne von Art.4 Abs.1 der Richt­li­nie 2000/78 dar­stellt.
35 Nach die­ser Be­stim­mung können die Mit­glied­staa­ten vor­se­hen, dass ei­ne Un­gleich­be­hand­lung we­gen ei­nes Merk­mals, das im Zu­sam­men­hang mit ei­nem der in Art. 1 die­ser Richt­li­nie ge­nann­ten Dis­kri­mi­nie­rungs­gründe steht, kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung dar­stellt, wenn das be­tref­fen­de Merk­mal auf­grund der Art ei­ner be­stimm­ten be­ruf­li­chen Tätig­keit oder der Be­din­gun­gen ih­rer Ausübung ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stellt, so­fern es sich um ei­nen rechtmäßigen Zweck und ei­ne an­ge­mes­se­ne An­for­de­rung han­delt.
36 So­mit ist es Sa­che der Mit­glied­staa­ten, ge­ge­be­nen­falls vor­zu­se­hen, dass ei­ne Un­gleich­be­hand­lung we­gen ei­nes Merk­mals, das im Zu­sam­men­hang mit ei­nem der in Art. 1 der Richt­li­nie ge­nann­ten Dis­kri­mi­nie­rungs­gründe steht, kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung dar­stellt. Das scheint nach Art. L. 1133-1 des Ar­beits­ge­setz­buchs vor­lie­gend der Fall zu sein. Dies zu prüfen ist je­doch Sa­che des vor­le­gen­den Ge­richts.
37 Dies vor­aus­ge­schickt, ist dar­auf hin­zu­wei­sen, dass der Ge­richts­hof wie­der­holt ent­schie­den hat, dass nach Art. 4 Abs. 1 der Richt­li­nie 2000/78 nicht der Grund, auf den die Un­gleich­be­hand­lung gestützt ist, son­dern ein mit die­sem Grund im Zu­sam­men­hang ste­hen­des Merk­mal ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stel­len muss (vgl. Ur­tei­le vom 12. Ja­nu­ar 2010, Wolf, C-229/08, EU:C:2010:3, Rn.35, vom 13. Sep­tem­ber 2011, Prig­ge u. a., C-447/09, EU:C:2011:573, Rn.66, vom 13. No­vem­ber 2014, Vi­tal Pérez, C-416/13, EU:C:2014:2371, Rn.36, so­wie vom 15. No­vem­ber 2016, , C-258/15, EU:C:2016:873, Rn.33).
38 Darüber hin­aus kann nach dem 23. Erwägungs­grund der Richt­li­nie 2000/78 ein Merk­mal, das u. a. mit der Re­li­gi­on im Zu­sam­men­hang steht, nur un­ter sehr be­grenz­ten Be­din­gun­gen ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stel­len.
39 Auch kann nach dem Wort­laut von Art.4 Abs.1 der Richt­li­nie 2000/78 selbst das be­tref­fen­de Merk­mal ei­ne sol­che An­for­de­rung nur „auf­grund der Art ei­ner be­stimm­ten be­ruf­li­chen Tätig­keit oder der Be­din­gun­gen ih­rer Ausübung“ dar­stel­len.
40 Aus die­sen ver­schie­de­nen Hin­wei­sen folgt, dass der Be­griff „we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung“ im Sin­ne die­ser Be­stim­mung auf ei­ne An­for­de­rung ver­weist, die von der Art der be­tref­fen­den be­ruf­li­chen Tätig­keit oder den Be­din­gun­gen ih­rer Ausübung ob­jek­tiv vor­ge­ge­ben ist. Er kann sich hin­ge­gen nicht auf sub­jek­ti­ve Erwägun­gen wie den Wil­len des Ar­beit­ge­bers, be­son­de­ren Kun­denwünschen zu ent­spre­chen, er­stre­cken.
41

Da­her ist auf die Fra­ge des vor­le­gen­den Ge­richts zu ant­wor­ten, dass Art. Abs.1 der Richt­li­nie 2000/78 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass der Wil­le ei­nes Ar­beit­ge­bers, den Wünschen ei­nes Kun­den zu ent­spre­chen, die Leis­tun­gen die­ses Ar­beit­ge­bers nicht mehr von ei­ner Ar­beit­neh­me­rin ausführen zu las­sen, die ein is­la­mi­sches Kopf­tuch trägt, nicht als ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung im Sin­ne die­ser Be­stim­mung an­ge­se­hen wer­den kann.

Kos­ten

42

Für die Par­tei­en des Aus­gangs­ver­fah­rens ist das Ver­fah­ren ein Zwi­schen­streit in dem beim vor­le­gen­den Ge­richt anhängi­gen Rechts­streit; die Kos­ten­ent­schei­dung ist da­her Sa­che die­ses Ge­richts. Die Aus­la­gen an­de­rer Be­tei­lig­ter für die Ab­ga­be von Erklärun­gen vor dem Ge­richts­hof sind nicht er­stat­tungsfähig.

Aus die­sen Gründen hat der Ge­richts­hof (Große Kam­mer) für Recht er­kannt:

Art.4 Abs.1 der Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27. No­vem­ber 2000 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­hand­lung in Beschäfti­gung und Be­ruf ist da­hin aus­zu­le­gen, dass der Wil­le ei­nes Ar­beit­ge­bers, den Wünschen ei­nes Kun­den zu ent­spre­chen, die Leis­tun­gen die­ses Ar­beit­ge­bers nicht mehr von ei­ner Ar­beit­neh­me­rin ausführen zu las­sen, die ein is­la­mi­sches Kopf­tuch trägt, nicht als ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung im Sin­ne die­ser Be­stim­mung an­ge­se­hen wer­den kann.

Un­ter­schrif­ten

* Ver­fah­rens­spra­che: Französisch.

Quel­le: Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on (EuGH), http://cu­ria.eu­ro­pa.eu  

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