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ARBEITSRECHT AKTUELL // 10/254

So­zi­al­aus­wahl bei ein­zel­ver­trag­lich ver­ein­bar­ter Un­künd­bar­keit.

Ha­ben Ar­beit­neh­mer bei der So­zi­al­aus­wahl schlech­te­re Chan­cen, weil sie an­ders als ih­re Kol­le­gen das An­ge­bot "Kün­di­gungs­schutz ge­gen Lohn" ab­leh­nen?: Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 01.06.2010, 12 Sa 403/10 und 12 Sa 531/10
Zwei Gruppen von je drei Arbeitnehmern mit Helm, Bekleidung der beiden Gruppen unterschiedlich Wird oft zum Zank­ap­fel: Die "rich­ti­ge" So­zi­al­aus­wahl
29.12.2010. Wenn ein Ar­beit­neh­mer in dem­sel­ben Be­trieb oh­ne Un­ter­bre­chung län­ger als sechs Mo­na­te tä­tig war und dort in der Re­gel mehr als zehn Ar­beit­neh­mer be­schäf­tigt wer­den, dann ist er durch das Kün­di­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) vor Kün­di­gun­gen grund­sätz­lich ge­schützt (§§ 1, 23 KSchG).

Ei­ne or­dent­li­che Kün­di­gung ist in die­sem Fall nur dann wirk­sam, wenn sie auf ei­nen in dem Ge­setz ge­nann­ten Grund ge­stützt wer­den kann. Ne­ben Grün­den in der Per­son und Grün­den im Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers kann ein sol­cher Grund in drin­gen­den be­trieb­li­chen Er­for­der­nis­sen lie­gen, die ei­ner Wei­ter­be­schäf­ti­gung des Ar­beit­neh­mers in die­sem Be­trieb ent­ge­gen­ste­hen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG).

In die­sem Fall wird von ei­ner so ge­nann­ten be­triebs­be­ding­ten Kün­di­gung ge­spro­chen. Sie ist nur wirk­sam, wenn fol­gen­de vier Vor­aus­set­zun­gen vor­lie­gen:

  • Es muss ein be­trieb­li­ches Er­for­der­nis ge­ben, das - durch ei­ne nach­voll­zieh­ba­re Pro­gno­se be­legt - da­zu führt, dass der Be­darf an Ar­beits­leis­tung dau­er­haft ge­rin­ger wird.
  • Es darf kei­ne Mög­lich­keit der Wei­ter­be­schäf­ti­gung des Ar­beit­neh­mers auf ei­nem an­de­ren, ver­gleich­ba­ren Ar­beits­platz ge­ben.
  • Ei­ne Ab­wä­gung des ar­beit­ge­ber­sei­ti­gen In­ter­es­ses an der Be­en­di­gung des Ar­beits­ver­hält­nis­ses und des ar­beit­neh­mer­sei­ti­gen In­ter­es­ses an der Fort­set­zung des Ar­beits­ver­hält­nis­ses muss ein Über­wie­gen der Ar­beit­ge­ber­in­ter­es­sen er­ge­ben.
  • Der Ar­beit­ge­ber muss bei der Aus­wahl des ge­kün­dig­ten Ar­beit­neh­mers so­zia­le Ge­sicht­punkt aus­rei­chend be­rück­sich­tigt ha­ben, d.h. ei­ne im Er­geb­nis ord­nungs­ge­mä­ße So­zi­al­aus­wahl durch­ge­führt ha­ben.

In Kün­di­gungs­schutz­pro­zes­sen spielt in­so­weit die So­zi­al­aus­wahl (ver­glei­che § 1 Abs. 3 bis Abs.5 KSchG) ei­ne be­son­de­re Rol­le. Die Kern­aus­sa­ge der ge­setz­li­chen Re­ge­lung ist, dass nur die­je­ni­gen Ar­beit­neh­mer ge­kün­digt wer­den dür­fen, die so­zi­al am we­nigs­ten schutz­be­dürf­tig sind. Bei der Aus­wahl wer­den nach den ge­setz­li­chen Vor­ga­ben die Dau­er der Be­triebs­zu­ge­hö­rig­keit, das Le­bens­al­ter, die Un­ter­halts­pflich­ten und ei­ne et­wai­ge Schwer­be­hin­de­rung des Ar­beit­neh­mers be­rück­sich­tigt.

Schwie­rig­kei­ten be­rei­tet hier häu­fig die Fra­ge, wel­che Ar­beit­neh­mer in die So­zi­al­aus­wahl ein­be­zo­gen wer­den müs­sen. "Un­künd­ba­re", d.h. nicht mehr or­dent­lich künd­ba­re Ar­beit­neh­mer müs­sen da­bei nach Auf­fas­sung der Recht­spre­chung grund­sätz­lich nicht be­rück­sich­tigt wer­den. Al­ler­dings darf die Un­künd­bar­keits­ver­ein­ba­rung nicht rechts­miss­bräuch­lich sein und nicht al­lein die Um­ge­hung der So­zi­al­aus­wahl be­zwe­cken.

Zwei ver­schie­de­ne Kam­mern des Lan­des­ar­beits­ge­richts (LAG) Ber­lin-Bran­den­burg hat­ten im Lau­fe des Jah­res 2010 im Rah­men von Kün­di­gungs­schutz­kla­gen die Fra­ge zu klä­ren, ob Ar­beit­neh­mer von ei­ner So­zi­al­aus­wahl aus­ge­nom­men wer­den dür­fen, die ein­zel­ver­trag­lich ei­ne dau­er­haf­te Ent­gelt­re­du­zie­rung ak­zep­tiert hat­ten und da­für ei­nen be­fris­te­ten Kün­di­gungs­aus­schluss er­hiel­ten.

Auch der Klä­ger hat­te - eben­so wie al­le an­de­ren Ar­beit­neh­mer des Be­trie­bes - ein An­ge­bot für ei­ne ent­spre­chen­de Ver­trags­än­de­rung er­hal­ten, es aber ab­ge­lehnt. Ei­ni­ge Zeit spä­ter kün­dig­te ihm der Ar­beit­ge­ber aus be­triebs­be­ding­ten Grün­den, weil er mein­te, sein Auf­trags­be­stand wür­de trotz der Ein­füh­rung von Kurz­ar­beit dau­er­haft nied­rig blei­ben. Da er zu­dem bei der So­zi­al­aus­wahl al­le Ar­beit­neh­mer nicht ein­be­zog, die der Ver­trags­än­de­rung zu­ge­stimmt hat­ten, war aus sei­ner Sicht auch die So­zi­al­aus­wahl ord­nungs­ge­mäß, ob­wohl der Klä­ger we­gen lan­ger Be­triebs­zu­ge­hö­rig­keit, fort­ge­schrit­te­nem Al­ter und ei­ner Un­ter­halts­ver­pflich­tung für zwei Kin­der so­zi­al "an sich" be­son­ders schutz­wür­dig war.

Die zwölf­te Kam­mer des LAG Ber­lin-Bran­den­burg hielt die be­triebs­be­ding­te Kün­di­gung aus zwei Grün­den für un­wirk­sam (Ur­teil vom 01.06.2010, 12 Sa 403/10 und 12 Sa 531/10). Zum ei­nen ha­be der Ar­beit­ge­ber kei­ne nach­voll­zieh­ba­re Pro­gno­se für den re­du­zier­ten Ar­beits­kräf­te­be­darf an­ge­stellt, weil er ge­wis­se Auf­trags­stei­ge­run­gen un­be­rück­sich­tigt ge­las­sen hat­te und zu­dem die Pro­gno­se nicht zum Ab­lauf der Kün­di­gungs­frist, son­dern zum Zeit­punkt der Kün­di­gungs­er­klä­rung be­rech­net hat­te. Zum an­de­ren hielt das Ge­richt bzw. die Kam­mer die So­zi­al­aus­wahl für grob feh­ler­haft.

Der Ar­beit­ge­ber sei nicht be­fugt, den Er­halt des ge­setz­li­chen Kün­di­gungs­schut­zes von dem Ver­zicht auf die Frei­heit ab­hän­gig zu ma­chen, ei­ne an­ge­bo­te­ne Ver­trags­än­de­rung ab­zu­leh­nen. Die­se Kop­pe­lung ver­sto­ße ge­gen die "ele­men­ta­re zwin­gen­de Kün­di­gungs­re­ge­lung", bei be­triebs­be­ding­ten Kün­di­gun­gen So­zi­al­aus­wahl­kri­te­ri­en zu be­ach­ten. Es wi­der­spre­che, so das Ge­richt wei­ter, der Wer­tung ge­setz­li­cher Kün­di­gungs­schutz­vor­schrif­ten, wenn der deut­lich stär­ker so­zi­al schutz­be­dürf­ti­ge Ar­beit­neh­mer nur wei­chen muss, weil ein an­de­rer Ar­beit­neh­mer be­reit war, Lohn­ein­bu­ßen in Kauf zu neh­men.

Das sah al­ler­dings die drit­te Kam­mer des LAG Ber­lin-Bran­den­burg in ei­nem knapp ei­nen Mo­nat vor­her ent­schie­de­nen Par­al­lel­fall an­ders (Ur­teil vom 20.04.2010, 3 Sa 2323/09) und wies die Kün­di­gungs­schutz­kla­ge voll­stän­dig ab. In dem hier be­schrie­be­nen Fall sei der Vor­rang des Kün­di­gungs­aus­schlus­ses bei der So­zi­al­aus­wahl ge­recht­fer­tigt, da al­le be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer die freie Wahl hat­ten, ob sie den zu­sätz­li­chen Kün­di­gungs­schutz ha­ben woll­ten oder nicht.

Da die Fra­ge grund­sätz­li­che Be­deu­tung hat, ob und un­ter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen ein ein­zel­ver­trag­lich ver­ein­bar­ter Kün­di­gungs­aus­schluss auch ei­ne Be­rück­sich­ti­gung in der So­zi­al­aus­wahl aus­schließt, lie­ßen bei­de Kam­mern die Re­vi­si­on ge­gen ih­re Ent­schei­dung zu.

Der Fall der zwölf­ten Kam­mer ist nun beim Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) un­ter dem Ak­ten­zei­chen 2 AZR 474/10 an­hän­gig, der Fall der drit­ten Kam­mer wird un­ter dem Ak­ten­zei­chen 2 AZR 492/10 ge­führt. Wie es an­ge­sichts die­ser eher un­ge­wöhn­li­chen Um­stän­de ent­schei­den wird, dürf­te of­fen sein.

Nä­he­re In­for­ma­tio­nen fin­den sie hier:

Letzte Überarbeitung: 30. August 2019

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