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ARBEITSRECHT AKTUELL // 10/137

Kei­ne Kün­di­gung we­gen „Ver­pfei­fens“ des Ar­beit­ge­bers

Bei nach­voll­zieh­ba­ren Si­cher­heits­be­den­ken darf der Ar­beit­ge­ber "ver­pfif­fen" wer­den: Lan­des­ar­beits­ge­richt Mün­chen, Ur­teil vom 01.04.2010, 4 Sa 391/09
Stoppschild auf Boden Whist­leb­lo­wing - kei­ne Ba­ga­tel­le
16.07.2010. Ar­beit­neh­mer, die mei­nen, bei ih­rem Ar­beit­ge­ber Straf­ta­ten oder schwer­wie­gen­de Rechts­ver­stö­ße zu be­ob­ach­ten, sind in ei­ner un­an­ge­neh­men Si­tua­ti­on:

Er­stat­ten sie An­zei­ge bei den zu­stän­di­gen Be­hör­den, lau­fen sie Ge­fahr, ei­ne au­ßer­or­dent­li­che Kün­di­gung zu er­hal­ten. Die­se un­an­ge­neh­me La­ge wird noch da­durch ver­schärft, dass der Ar­beit­neh­mer ja meis­tens gar nicht weiß, ob be­stimm­te „ver­däch­ti­ge“ Er­eig­nis­se beim Ar­beit­ge­ber nun (kri­mi­nel­le) Rechts­ver­stö­ße sind oder nicht.

Die Ar­beits­ge­rich­te ver­lan­gen vom Ar­beit­neh­mer in sol­chen Fäl­len, aus Loya­li­tät ge­gen­über dem Ar­beit­ge­ber zu­nächst al­le ver­füg­ba­ren in­ner­be­trieb­li­chen Lö­sungs­mög­lich­kei­ten aus­zu­schöp­fen. Das be­deu­tet letzt­lich, vom Ar­beit­neh­mer zu ver­lan­gen, er sol­le im Be­trieb "un­an­ge­nehm auf­fal­len".

Dass die Po­li­zei hier - an­ders als ein Rechts­an­walt - der fal­sche An­sprech­part­ner sein kann, zeigt ei­ne Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­rich­tes (LAG) Mün­chen: LAG Mün­chen, Ur­teil vom 01.04.2010, 4 Sa 391/09.

Darf ein Ar­beit­neh­mer sei­nen Ar­beit­ge­ber un­ge­straft an­zei­gen?

Manch­mal ha­ben Ar­beit­neh­mer An­halts­punk­te für die An­nah­me, ihr Ar­beit­ge­ber oder lei­ten­de An­ge­stell­te würden Straf­ta­ten oder an­de­re gra­vie­ren­de Rechts­verstöße be­ge­hen. Dann steht die Fra­ge im Raum, wie man sich ver­hal­ten soll, ins­be­son­de­re, ob ei­ne Straf­an­zei­ge und/oder ein Hin­weis ge­genüber ei­ner zuständi­gen Auf­sichts­behörde rat­sam ist.

Ent­schei­det sich der Ar­beit­neh­mer zu ei­nem sol­chen Schritt, gefähr­det er im­mer - zu­min­dest fak­tisch - den Be­stand sei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses. Denn die ty­pi­sche Re­ak­ti­on des Ar­beit­ge­bers be­steht in ei­nem sol­chen Fall in ei­ner ver­hal­tens­be­ding­ten or­dent­li­chen oder so­gar in ei­ner außer­or­dent­li­chen Kündi­gung des „Maul­wurfs“. Be­gründet wird die Kündi­gung dann meist da­mit, dass die ge­gen den Ar­beit­ge­ber er­ho­be­nen und zum Ge­gen­stand ei­ner An­zei­ge ge­mach­ten Vorwürfe „völlig aus der Luft ge­grif­fen“ sei­en, so dass der Ar­beit­neh­mer den Ar­beit­ge­ber grund­los (und mögli­cher­wei­se aus Ra­che­gelüsten auf­grund völlig an­de­rer Vorfälle) an­ge­schwärzt ha­be.

Nun ist nicht je­de vom Ar­beit­ge­ber aus­ge­spro­che­ne ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung wirk­sam, doch ist die Rechts­la­ge für den Ar­beit­neh­mer in ei­ner sol­chen Si­tua­ti­on auf­grund der ar­beits­ge­richt­li­chen Recht­spre­chung un­si­cher. Der Ar­beit­neh­mer ist nämlich gemäß § 242 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (BGB) da­zu ver­pflich­tet, auf die In­ter­es­sen sei­nes Ar­beit­ge­bers Rück­sicht zu neh­men. Da­her kann ei­ne Straf­an­zei­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber je nach den Umständen des Ein­zel­falls ei­ne be­rech­tig­te Kündi­gung zur Fol­ge ha­ben.

Kon­kret ver­langt das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) von ei­nem Ar­beit­neh­mer, der den Ar­beit­ge­ber ei­ner Straf­tat oder ei­nes an­de­ren er­heb­li­chen Rechts­ver­s­toßes verdäch­tigt, dass er vor ei­ner An­zei­ge zunächst al­le „in­ner­be­trieb­li­chen Ab­hil­femöglich­kei­ten“ ausschöpft.

Ei­ne Aus­nah­me gilt nur bei schwe­ren Straf­ta­ten, die mögli­cher­wei­se vom Ar­beit­ge­ber persönlich verübt wur­den, oder wenn aus an­de­ren Gründen je nach den Umständen des Ein­zel­falls nicht zu er­war­ten ist, dass „in­ner­be­trieb­li­che Ab­hil­femöglich­kei­ten“ grei­fen. Um­ge­hen­de Straf­an­zei­gen wer­den auch für zulässig an­ge­se­hen, wenn sich der Ar­beit­neh­mer selbst im Fal­le wei­te­rer Untätig­keit straf­bar ma­chen würde. In je­dem Fall hat der an­zei­ge­wil­li­ge Ar­beit­neh­mer dar­auf zu ach­ten, dass er nicht „leicht­fer­tig“ un­wah­re Be­haup­tun­gen mit der Fol­ge behörd­li­cher Er­mitt­lung ge­gen den Ar­beit­ge­ber auf­stel­len darf.

Ob­wohl die­se Grundsätze, von de­nen sich die ar­beits­ge­richt­li­che Recht­spre­chung lei­ten lässt, im All­ge­mei­nen nach­voll­zieh­bar sind, führt ih­re An­wen­dung im Ein­zel­fall im­mer wie­der zu recht­li­chen Un­si­cher­hei­ten. Oft stellt sich nämlich im Nach­hin­ein, d.h. als Er­geb­nis der behörd­li­chen Er­mitt­lun­gen, her­aus, dass sich der vom Ar­beit­neh­mer ge­heg­te Ver­dacht nicht be­wei­sen lässt.

Für den Ar­beit­ge­ber ist dann klar, dass der Ar­beit­neh­mer ihn „leicht­fer­tig“ oder gar wi­der bes­se­res Wis­sen an­ge­schwärzt hat. Im­mer­hin spre­chen die ob­jek­ti­ven Tat­sa­chen zunächst ge­gen den Ar­beit­neh­mer, so dass er ein er­heb­li­ches Ri­si­ko trägt, dass ein mit der Ar­beit­ge­berkündi­gung be­fass­tes Ge­richt auch zu dem Er­geb­nis kommt, ei­ne An­zei­ge sei nach La­ge der Din­ge un­zulässig ge­we­sen und der Ar­beit­ge­ber da­her auf­grund der An­zei­ge zur Kündi­gung be­rech­tigt.

Die­se für den Ar­beit­neh­mer mit ei­ner An­zei­ge ver­bun­de­nen Ri­si­ken macht ein vor kur­zem vom Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) München ent­schie­de­ner Fall deut­lich (Ur­teil vom 01.04.2010, 4 Sa 391/09).

Der Fall: Lo­ko­mo­tivführer klagt be­freun­de­tem Po­li­zis­ten sein Leid

Der kla­gen­de Ar­beit­neh­mer war als Lo­ko­mo­tivführer bei ei­nem pri­va­ten Bahn­un­ter­neh­men in Ober­bay­ern tätig. Der Ar­beit­ge­ber hat­te dem Lo­ko­mo­tivführer be­reits meh­re­re Ab­mah­nun­gen we­gen zu schnel­len Fah­rens er­teilt, so das Ar­beits­verhält­nis nicht störungs­frei war.

Im Som­mer 2005 teil­te der Lokführer ei­nem ihm als Nach­barn be­kann­ten Po­li­zei­be­am­ten mit, dass bei den von sei­nem Ar­beit­ge­ber ein­ge­setz­ten Zügen die Brem­sen nicht rich­tig funk­tio­nier­ten. Bei die­ser Mit­tei­lung bat der Lokführer um Ver­trau­lich­keit.

In die­sem Zu­sam­men­hang äußer­te er auch, dass es bei sei­nem Ar­beit­ge­ber auf­fal­lend oft zu Bränden kom­me. Ein Zug mit Brems­pro­ble­men, die dem Ar­beit­ge­ber be­kannt ge­we­sen sei­en, sei trotz­dem noch ein­ge­setzt und prompt in ei­nen Un­fall mit tödli­chen Fol­gen ver­wi­ckelt wor­den. Hätten die Brem­sen funk­tio­niert, so der Lokführer, hätte der Un­fall ver­hin­dert wer­den können.

Der Po­li­zist lei­te­te die vom Lokführer er­ho­be­nen An­schul­di­gun­gen wei­ter. Dar­auf­hin er­mit­tel­te das Ei­sen­bahn­bun­des­amt ge­gen den Ar­beit­ge­ber - und die­ser wie­der­um kündig­te dem Lo­ko­mo­tivführer außer­or­dent­lich frist­los.

Die Kündi­gung griff der Lo­ko­mo­tivführer vor das Ar­beits­ge­richt München mit ei­ner Kündi­gungs­schutz­kla­ge an - und ver­lor. Denn das Ar­beits­ge­richt be­wer­te­te die ge­gen den Ar­beit­ge­ber er­ho­be­nen An­schul­di­gun­gen als ab­we­gig (Ur­teil vom 25.02.2009, 2b Ca 7565/08 H).

Lan­des­ar­beits­ge­richt München: Lokführer woll­te sich nur aus­spre­chen, nicht den Ar­beit­ge­ber an­zei­gen

In der Be­ru­fungs­in­stanz vor dem LAG München hat­te der Lokführer da­ge­gen Er­folg. Das LAG sah die Kündi­gung als un­wirk­sam an.

Auch das LAG hielt die strei­ti­gen An­schul­di­gun­gen zwar für im We­sent­li­chen un­be­gründet oder je­den­falls für über­zo­gen und warf dem Lokführer Dra­ma­ti­sie­run­gen vor. Auch deu­te­te das Ge­richt an, dass er sich vor Ein­be­zie­hung der Po­li­zei in­ten­si­ver um ei­ne in­ner­be­trieb­li­che Aufklärung sei­ner Si­cher­heits­be­den­ken hätte bemühen können. An­de­rer­seits aber konn­te das LAG auch die Sicht­wei­se des Ar­beit­ge­bers nicht nach­voll­zie­hen, dass die In­for­ma­ti­ons­wei­ter­ga­be ein wis­sent­li­ches „An­schwärzen“ ge­we­sen sei.

Zu die­sem vom Ar­beit­ge­ber er­ho­be­nen Vor­wurf ver­nahm das LAG den Po­li­zei­be­am­ten als Zeu­gen, um die Umstände der An­zei­gen­er­stat­tung auf­zuklären. Bei der Zeu­gen­be­fra­gung stell­te sich her­aus, dass der Lokführer um Ver­trau­lich­keit sei­ner An­ga­ben ge­be­ten hat­te und es ihm in ers­ter Li­nie dar­um ge­gan­gen war, sei­ne Sor­gen, die er sich we­gen mögli­cher Si­cher­heitsmängel mach­te, mit ei­nem aus sei­ner Sicht fach­kun­di­gen An­sprech­part­ner zu be­spre­chen. Letzt­lich woll­te er sei­ne Sor­gen los­wer­den. In die­sem Ver­hal­ten des Lokführers sah das LAG aber im Er­geb­nis kei­nen aus­rei­chen­den Grund für ei­ne frist­lo­se Kündi­gung.

Fa­zit: Der Ent­schei­dung des LAG München ist vom Er­geb­nis und in der Be­gründung zu­zu­stim­men, vor al­lem auch we­gen der Gründ­lich­keit, mit der das Ge­richt die Umstände der An­zei­gen­er­stat­tung auf­geklärt hat.

An­der­seits ver­deut­licht das Ur­teil die Rechts­un­si­cher­heit, in der sich Ar­beit­neh­mer be­fin­den, wenn sie in­ner­be­trieb­li­che Missstände den Behörden an­ver­trau­en. Denn ob ei­ne sol­che In­for­ma­ti­ons­wei­ter­ga­be „leicht­fer­tig“ war oder nicht, weiß man oft erst im Nach­hin­ein, d.h. nach der behörd­li­chen Be­fas­sung mit der An­zei­ge.

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Letzte Überarbeitung: 3. August 2019

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