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Anspruch auf Lohn auch rückwirkend?
25.08.2015. Wer durch einen Betriebsübergang einen neuen, vielleicht nicht ganz so vertrauenswürdigen Arbeitgeber erhalten soll, wird sich überlegen, von seinem gesetzlichen Widerspruchsrecht Gebrauch zu machen (§ 613a Abs.6 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB).
Um das zu verhindern, räumen Betriebsverkäufer ihren Arbeitnehmern manchmal ein Rückkehrrecht ein: Sollte der Betriebserwerber den Betrieb schließen und betriebsbedingte Kündigungen aussprechen, können die Arbeitnehmer zu ihrem alten Arbeitgeber zurückkehren.
Ein solches Rückkehrrecht klingt nach einem fairen Deal. Hält sich der alte Arbeitgeber aber nicht an das Rückkehrrecht, kann es zu langen Prozessen kommen. Gewinnt der Arbeitnehmer den Wiedereinstellungsprozess, ist seine Freude erst einmal groß, denn dann scheint alles wieder gut: Per Gerichtsurteil wird rückwirkend ein Arbeitsverhältnis begründet.
Dass eine rückwirkende Wiedereinstellung allerdings wirtschaftlich wenig wert sein kann, ergibt sich aus einem aktuellen Urteil des Bundesarbeitsgericht (BAG). Denn das BAG verneinte den Anspruch auf Annahmeverzugslohn: BAG, Urteil vom 19.08.2015, 5 AZR 975/13 (Pressemitteilung).
- Annahmeverzugslohn setzt "erfüllbares Arbeitsverhältnis" voraus
- Der Fall des BAG: Arbeitnehmerin macht von Rückkehrrecht Gebrauch
- BAG: Keine Vergütung bei rückwirkend begründetem Arbeitsverhältnis
Annahmeverzugslohn setzt "erfüllbares Arbeitsverhältnis" voraus
Ein Grundsatz im Arbeitsrecht lautet "Ohne Arbeit kein Lohn". Bleibt die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers endgültig aus, schuldet der Arbeitgeber auch keine Vergütung. Von diesem Grundsatz gibt es jedoch verschiedene Ausnahmen. Eine Ausnahme davon macht § 615 Satz 1 BGB beim sogenannten Annahmeverzug des Arbeitgebers. Diese Vorschrift lautet:
"Kommt der Dienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug, so kann der Verpflichtete für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein."
Typische Konstellation des Annahmeverzugs ist, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung nicht erbringen kann, da der Arbeitgeber dies verhindert, zum Beispiel durch eine rechtswidrige Kündigung. Aus seiner rechtswidrigen Weigerung, die Arbeitsleistung anzunehmen, soll der Arbeitgeber keinen Vorteil ziehen. Daher bleibt der Lohnanspruch trotz Arbeitsausfalls weiter bestehen, wenn sich der Arbeitgeber im Annahmeverzug befand.
Der Anspruch auf Annahmeverzugslohn setzt voraus, dass
- ein Arbeitsverhältnis besteht,
- die Arbeitsleistung unterbleibt,
- der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine Leistung anbietet,
- der Arbeitnehmer leistungsfähig und leistungsbereit ist und
- der Arbeitgeber die Annehme der Leistung zu Unrecht verweigert.
Knifflig ist häufig die Voraussetzung eines bestehenden, sprich "erfüllbaren, tatsächlich durchführbaren Arbeitsverhältnisses". Das oberste Arbeitsgericht hat dieses Merkmal in einer früheren Entscheidung einmal so definiert: Der Arbeitnehmer muss zur Arbeitsleistung verpflichtet und der Arbeitgeber zur Annahme berechtigt sein (BAG, Urteil vom 12.09.1985, 2 AZR 324/84).
Ein "erfüllbares Arbeitsverhältnis" liegt beispielsweise vor, wenn der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer kündigt, die Kündigung jedoch nachträglich einvernehmlich "zurücknimmt". Dadurch vereinbaren die Parteien, das Arbeitsverhältnis als fortbestehend zu behandeln. Ein "erfüllbares Arbeitsverhältnis" wird auch angenommen, wenn durch arbeitsgerichtliches Urteil in einem Kündigungsschutzprozess festgestellt wird, dass die Kündigung unwirksam war und das Arbeitsverhältnis nie aufgelöst hat.
Doch ist ein aufgrund eines Rückkehrrechts rückwirkend begründetes Arbeitsverhältnis auch ein "bestehendes, bzw. erfüllbares Arbeitsverhältnis" im Sinne des § 615 Satz 1 BGB?
Der Fall des BAG: Arbeitnehmerin macht von Rückkehrrecht Gebrauch
Im Streitfall ging es um eine Arbeitnehmerin, die bereits in den achtziger Jahren im Betrieb ihres damaligen Arbeitgebers beschäftigt war. Aufgrund eines Betriebsübergangs wechselte der Betriebsinhaber und damit auch ihr Arbeitgeber (§ 613a Abs.1 Satz 1 BGB), und zwar zum 01.01.1987. Ihr alter Arbeitgeber hatte ihr für den Fall einer späteren Betriebsschließung durch den Übernehmer ein vertragliches Rückkehrrecht eingeräumt.
Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten meldete der Betriebserwerber Ende 2009 Insolvenz an und stellte den Betrieb ein. Die Arbeitnehmerin wurde zum 31.01.2010 gekündigt.
Daraufhin pochte die Arbeitnehmerin auf ihr über 23 Jahre altes Rückkehrrecht und verlangte von ihrem ehemaligen Arbeitgeber Wiedereinstellung zum 01.02.2010. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz verurteilte den Ex-Arbeitgeber rechtskräftig dazu, das Angebot der Arbeitnehmerin auf Abschluss eines Arbeitsverhältnisses anzunehmen. Zwischen den Parteien bestand damit rückwirkend ab dem 01.02.2010 wieder ein Arbeitsverhältnis.
In einem weiteren Prozess verklagte die Arbeitnehmerin ihren soeben wiederauferstandenen Arbeitgeber für die Zeit ab dem 01.02.2010 auf Lohnzahlung. Arbeitsgericht und LAG Rheinland-Pfalz gaben der Klägerin auch diesmal Recht und verurteilten den Arbeitgeber auf Zahlung der eingeklagten Annahmeverzugslöhne (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.09.2013, 5 AZR 233/13).
BAG: Keine Vergütung bei rückwirkend begründetem Arbeitsverhältnis
In Erfurt gab es dann die kalte Dusche. Denn nach Ansicht des BAG bestand kein Anspruch auf Zahlung der Annahmeverzugslöhne. Das BAG stützt sich in der derzeit allein vorliegenden Pressemeldung auf zwei Argumente:
Laut BAG hatte die Klägerin keinen Anspruch auf Annahmeverzugslohn, weil es kein "erfüllbares Arbeitsverhältnis" im Sinne des § 615 Satz 1 BGB gab. Zwar bestand zwischen den Parteien ein (rechtskräftig festgestelltes) Arbeitsverhältnis, jedoch wurde es rückwirkend begründet. Und rückwirkend begründete Arbeitsverhältnisse können für die Vergangenheit nicht tatsächlich durchgeführt werden, so das Argument des BAG.
Auch eine alleinige oder überwiegende Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für die jahrelange Nicht-Durchführung des Vertrags mit der Folge der Lohnzahlungspflicht gemäß § 326 Abs.2 Satz 1, 1.Alt. BGB bestand hier nicht, so das BAG. Denn das BAG hielt dem Arbeitgeber einen "entschuldbaren Rechtsirrtum" zugute. Zwar lehnte er den von der Klägerin begehrten Abschluss eines Arbeitsvertrags objektiv zu Unrecht ab, aber immerhin unter Berufung auf ein (seiner Meinung nach) einschlägiges BAG-Urteil in einem (seiner Meinung nach) ähnlichen Fall (BAG, Urteil vom 19.10.2005, 7 AZR 32/05).
Das Urteil ist, jedenfalls auf der Grundlage der derzeit vorliegenden Pressemeldung, wenig überzeugend:
Erstens hätte die Arbeitnehmerin ja ab dem 01.02.2010 arbeiten können. Hätte sich der Arbeitgeber an seine Rückkehrzusage gehalten, hätte er die Arbeitsleistung der Arbeitnehmerin auch entgegennehmen können. Somit beruht die mangelnde Erfüllbarkeit des Arbeitsverhältnisses darauf, dass der alte Arbeitgeber die Einstellungszusage über lange Zeit missachtet hat. Im Ergebnis belohnt das BAG diesen Rechtsbruch.
Zweitens ist ein entschuldbarer Rechtsirrtum in Kündigungsfällen anerkannt, wenn der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit vertretbaren Gründen davon ausgehen durfte, die Kündigung werde sich als wirksam erweisen. Auf Wiedereinstellungsansprüche übertragen besagt diese Formel, dass der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit vertretbaren Gründen davon ausgehen konnte, ein Wiedereinstellungsanspruch bestehe nicht.
Im Streitfall berief sich der Arbeitgeber auf ein BAG-Urteil vom 19.10.2005 (7 AZR 32/05), der einen sehr komplexen Fall betraf, in dem eine Arbeitnehmerin ihr Rückkehrrecht im Ergebnis zahlreicher (!) Betriebsübergänge, Umstrukturierungen und des Wegfalls von Unternehmensteilen "verloren" hatte. Diesen Streitfall bzw. das dazu ergangene BAG-Urteil durfte der Arbeitgeber hier im Streitfall wohl kaum "mit vertretbaren Gründen" als einschlägig bewerten. Seine Ansicht, der Wiedereinstellungsanspruch bestehe nicht, beruhte daher nicht auf einem entschuldbaren Rechtsirrtum.
Fazit: Das Urteil des Fünften BAG-Senats entwertet Wiedereinstellungsansprüche und zugleich die seit Anfang 2002 geltende Vorschrift des § 311a Abs.1 BGB, aus der Gerichte und juristische Autoren herleiten, dass Dauerschuldverhältnisse wie z.B. Arbeitsverhältnisse rückwirkend begründet werden und rechtliche Pflichten erzeugen können.
Möglicherweise ergibt sich aus den derzeit noch nicht veröffentlichten Urteilsgründen, dass das BAG-Urteil eine Ausreißer-Entscheidung ist, bei der sich die Erfurter Richter an den Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls orientierten und keine Grundsatzentscheidung zu § 615 Satz 1 BGB fällen wollten. Jedenfalls ist zu hoffen, dass die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte dieses Urteil als eine solche Einzelfall-Entscheidung ansehen werden.
Nähere Informationen finden Sie hier:
- Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.08.2015, 5 AZR 975/13 (Pressemitteilung)
- Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.08.2015, 5 AZR 975/13
- Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.09.2013, 5 Sa 233/13
- Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12.09.1985, 2 AZR 324/84
- Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.10.2005, 7 AZR 32/05
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Hinweis: In der Zwischenzeit, d.h. nach Erstellung dieses Artikels, hat das BAG seine Entscheidungsgründe veröffentlicht. Das vollständig begründete Urteil des BAG finden Sie hier:
Letzte Überarbeitung: 13. April 2019
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