HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Köln, Ur­teil vom 20.01.2010, 9 Sa 991/09

   
Schlagworte: Zurückbehaltungsrecht, Zahlungsverzug des Arbeitgebers, Lohn und Gehalt, Krankheit
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Aktenzeichen: 9 Sa 991/09
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 20.01.2010
   
Leitsätze:

1. Dem Arbeitnehmer steht ein Zurückbehaltungsrecht an der Arbeitsleistung nach § 273 BGB zu, wenn der Arbeitgeber mit Ansprüchen nach § 3 EFZG in nicht verhältnismäßig geringfügigem Umfang in Rückstand ist. (Rn.32) (Rn.33)

2. Der Arbeitnehmer muss nicht zunächst einen Anspruch auf Krankengeld nach §§ 44 ff. SGB 5 gegenüber der Krankenkasse geltend gemacht haben. (Rn.33)

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Köln, 23. Juli 2009, Az: 8 Ca 2892/09, Urteil
   

9 Sa 991/09

8 Ca 2892/09

Ar­beits­ge­richt Köln

Verkündet am 20. Ja­nu­ar 2010

Horst,

Ur­kunds­be­am­tin der Geschäfts­stel­le

 

LAN­DES­AR­BEITS­GERICHT KÖLN

 

IM NA­MEN DES VOL­KES

 

UR­TEIL

In dem Rechts­streit

 

- Kläger und Be­ru­fungskläger -

Pro­zess­be­vollmäch­tig­te:

g e g e n

- Be­klag­te und Be­ru­fungs­be­klag­te -

Pro­zess­be­vollmäch­tig­ter:

hat die 9. Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts Köln auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 20.01.2010 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt Schwartz als Vor­sit­zen­den so­wie den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Herr Trim­born und die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Frau Fries

für R e c h t er­kannt:

1. Auf die Be­ru­fung des Klägers wird das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Köln vom 23. Ju­li 2009 – 8 Ca 2892/09 – teil­wei­se ab­geändert:

a. Es wird fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en we­der durch die Kündi­gung vom 13. Fe­bru­ar 2009 noch durch die Kündi­gung vom 20. Fe­bru­ar 2009 auf­gelöst wor­den ist.

b. Die Be­klag­te wird ver­ur­teilt, die Ab­mah­nung vom 17. Fe­bru­ar 2009 aus der Per­so­nal­ak­te des Klägers zu ent­fer­nen.

c. Die Kos­ten des erst­in­stanz­li­chen Ver­fah­rens tra­gen der Kläger zu 3/4 und die Be­klag­te zu 1/4.

2. Die Kos­ten des Be­ru­fungs­ver­fah­rens trägt die Be­klag­te.


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3. Die Re­vi­si­on ge­gen die­ses Ur­teil wird nicht zu­ge­las­sen.

 

T a t b e s t a n d :

Die Par­tei­en strei­ten darüber, ob das zwi­schen ih­nen be­ste­hen­de Ar­beits­verhält­nis durch Kündi­gun­gen der Be­klag­ten vom 13. Fe­bru­ar 2009 und 20. Fe­bru­ar 2009 be­en­det wor­den ist, und über die Ent­fer­nung ei­ner Ab­mah­nung vom 17. Fe­bru­ar 2009 aus der Per­so­nal­ak­te des Klägers.

Der Kläger, ge­bo­ren am 7. Au­gust 1973, al­lein­ste­hend, war bei der Be­klag­ten seit dem 1. Ju­ni 2007 als Ar­beit­neh­mer zu ei­ner mo­nat­li­chen Vergütung in Höhe von EUR 1.203,00 bei ei­ner Ar­beits­zeit von 152 St­un­den pro Mo­nat beschäftigt.

Der Kläger fehl­te krank­heits­be­dingt vom 25. Ja­nu­ar 2008 bis zum 28. Fe­bru­ar 2008, vom 7. April 2008 bis zum 13. April 2008, vom 18. April 2008 bis zum 12. Mai 2008, vom 9.Ju­ni 2009 bis zum 28. Ju­ni 2008, vom 10. Sep­tem­ber 2008 bis zum 6. Ok­to­ber 2008, vom 13. Ok­to­ber 2008 bis zum 22. No­vem­ber 2008, vom 27. No­vem­ber 2008 bis zum 5. De­zem­ber 2008 und vom 11. De­zem­ber 2008 bis zum 8. Ja­nu­ar 2009. Zu­dem war er ar­beits­unfähig er­krankt vom 29. April 2009 bis zum 30. April 2009. We­gen der Art der Er­kran­kun­gen wird auf die Be­schei­ni­gung der AOK Rhein­land vom 18. Mai 2009 (Bl. 58 d. A.) ver­wie­sen.

Der Kläger for­der­te die Be­klag­te mit Schrei­ben vom 30. De­zem­ber 2008 auf, ihm aus­ste­hen­de Vergütung für die Mo­na­te Sep­tem­ber 2008 bis De­zem­ber 2008 so­wie Ur­laubs- und Weih­nachts­geld für das Jahr 2008 in Höhe von ins­ge­samt EUR 3.195,48 brut­to (vgl. Auf­stel­lung: Bl. 47 d. A.) zu zah­len. Mit Schrei­ben vom 5. Ja­nu­ar 2009 for­der­te er auch Vergütung für den Mo­nat De­zem­ber 2008 in Höhe von EUR 1.202,74 brut­to. Zu­gleich mach­te er ein Zurück­be­hal­tungs­recht we­gen der aus­ste­hen­den Vergütungs­zah­lun­gen gel­tend


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und er­schien aus dem Grund nach Wie­der­er­lan­gung sei­ner Ar­beitsfähig­keit ab dem 9. Ja­nu­ar 2009 nicht zur Ar­beit.

Mit Schrei­ben vom 13. Fe­bru­ar 2009 kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis zunächst frist­ge­recht zum 31. März 2009 we­gen häufi­ger krank­heits­be­ding­ter Fehl­zei­ten.

Mit Schrei­ben vom 17. Fe­bru­ar 2009 mahn­te die Be­klag­te den Kläger we­gen un­ent­schul­dig­ten Feh­lens seit dem 9. Ja­nu­ar 2009 un­ter Kündi­gungs­an­dro­hung ab und kündig­te an, für die­sen Zeit­raum kei­ne Vergütung zu zah­len.

Nach­dem der Kläger wei­ter­hin nicht zur Ar­beit er­schien, kündig­te sie mit Schrei­ben vom 20. Fe­bru­ar 2009 das Ar­beits­verhält­nis frist­los, hilfs­wei­se frist­ge­recht we­gen un­ent­schul­dig­ten Feh­lens.

Da­ge­gen wen­det sich der Kläger mit der am 26. Fe­bru­ar 2009 beim Ar­beits­ge­richt Köln ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge auf Fest­stel­lung der Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung vom 13. Fe­bru­ar 2009 und auf Ent­fer­nung der Ab­mah­nung vom 17. Fe­bru­ar 2009 so­wie mit der am 9. März 2009 ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge­er­wei­te­rung auf Fest­stel­lung der Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung vom 20. Fe­bru­ar 2009.

Er macht gel­tend, die Be­klag­te sei mit der Zah­lung von Vergütungs­beträgen in er­heb­li­chem Um­fang seit Sep­tem­ber 2008 in Ver­zug ge­we­sen, wes­halb er be­rech­tigt mit Schrei­ben vom 5. Ja­nu­ar 2009 ein Zurück­be­hal­tungs­recht an sei­ner Ar­beits­leis­tung gel­tend ge­macht ha­be. Die Be­klag­te sei für sämt­li­che krank­heits­be­ding­ten Zeiträume zur Ent­gelt­fort­zah­lung ver­pflich­tet ge­we­sen, was auch die zuständi­ge Kran­ken­kas­se bestätigt ha­be. Er ver­weist zu­dem auf die Auf­stel­lung der Kran­ken­kas­se über die Art der Er­kran­kun­gen. Er ha­be des­halb ab dem 9. Ja­nu­ar 2009 nicht un­ent­schul­digt ge­fehlt, so dass die Kündi­gung vom 20. Fe­bru­ar 2009 un­wirk­sam sei und die Ab­mah­nung vom 17. Fe­bru­ar 2009 aus sei­ner Per­so­nal­ak­te zu ent­fer­nen sei. Auch sei das Ar­beits­verhält­nis nicht durch die or­dent­li­che Kündi­gung vom 13.


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Fe­bru­ar 2009 be­en­det wor­den, da die Er­kran­kun­gen sehr un­ter­schied­li­che Ur­sa­chen ge­habt hätten und nicht da­von aus­zu­ge­hen sei, dass es in Zu­kunft zu ver­gleich­ba­ren Aus­fall­zei­ten kom­me.

Er ha­be ab dem 23. Sep­tem­ber 2009 ei­ne neue Tätig­keit auf­ge­nom­men und in­zwi­schen selbst das Ar­beits­verhält­nis mit Schrei­ben vom 3. De­zem­ber 2009 frist­los gekündigt.

Die Be­klag­te trägt vor, als der Kläger mit Schrei­ben vom 5. Ja­nu­ar 2009 das Zurück­be­hal­tungs­recht gel­tend ge­macht ha­be, sei die Vergütung für De­zem­ber 2008 noch nicht fällig ge­we­sen. Im Übri­gen sei sie da­von aus­ge­gan­gen, dass es sich um Fol­ge­er­kran­kun­gen ge­han­delt ha­be, für die der Kläger Kran­ken­geld von der Kran­ken­kas­se er­hal­te. Da der Kläger Ge­gen­tei­li­ges nicht an­ge­zeigt ha­be, ha­be sie von ei­nem un­ent­schul­dig­ten Feh­len des Klägers ab dem 9. Ja­nu­ar 2009 aus­ge­hen dürfen und des­halb mit Schrei­ben vom 20. Fe­bru­ar 2009 das Ar­beits­verhält­nis wirk­sam frist­los gekündigt. Auch die or­dent­li­che Kündi­gung vom 13. Fe­bru­ar 2009 sei wirk­sam ge­we­sen, da der Kläger in der Zeit vom 1. Ja­nu­ar 2008 bis zum 8. Ja­nu­ar 2009 an ins­ge­samt 193 Ta­gen er­krankt ge­we­sen sei und sie EUR 7.940,03 an Lohn­fort­zah­lung ha­be leis­ten müssen.

Das Ar­beits­ge­richt Köln hat durch Ur­teil vom 23. Ju­li 2009 die Kla­ge ab­ge­wie­sen und zur Be­gründung aus­geführt, das Ar­beits­verhält­nis sei durch die frist­lo­se Kündi­gung vom 20. Fe­bru­ar 2009 be­en­det. Der Kläger ha­be ab dem 9. Ja­nu­ar 2009 un­be­rech­tigt ge­fehlt. Zwar ha­be ihm die von ihm gel­tend ge­mach­te Ent­gelt­fort­zah­lung für die Krank­heits­zeiträume ab Sep­tem­ber 2008 zu­ge­stan­den, je­doch ha­be ihn dies nicht zur Zurück­be­hal­tung sei­ner Ar­beits­leis­tung be­rech­tigt. Er hätte zunächst ge­genüber der Kran­ken­kas­se ei­nen An­spruch auf Zah­lung von Kran­ken­geld gel­tend ma­chen können. Die An­nah­me der Be­klag­ten, bei den Er­kran­kun­gen hand­le es sich um Fort­set­zungs­er­kran­kun­gen, so dass kei­ne Ent­gelt­fort­zah­lungs­pflicht be­ste­he, sei nicht ab­we­gig ge­we­sen.


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Das Ur­teil ist dem Kläger am 17. Au­gust 2009 zu­ge­stellt wor­den. Er hat hier­ge­gen am 28. Au­gust 2009 Be­ru­fung ein­le­gen und die­se am 14. Ok­to­ber 2009 be­gründen las­sen.

Er ver­tieft sein erst­in­stanz­li­ches Vor­brin­gen und trägt vor, die Be­klag­te ha­be ihm ge­genüber nicht erklärt, sie zah­le nicht, weil sie von ei­ner Fort­set­zungs­er­kran­kung aus­ge­he. Wenn dies von ihr erklärt wor­den wäre, hätte er der Be­klag­ten nach­ge­wie­sen, dass Fort­set­zungs­er­kran­kun­gen nicht vor­ge­le­gen hätten. Im Übri­gen ha­be die Be­klag­te von der zuständi­gen Mit­ar­bei­te­rin der Kran­ken­kas­se die Aus­kunft er­hal­ten, dass es sich nicht um Fort­set­zungs­er­kran­kun­gen ge­han­delt ha­be.

Der Kläger be­an­tragt,

un­ter Abände­rung des Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Köln vom 23. Ju­li 2009 – 8 Ca 2892/08 –

1. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis durch die Kündi­gung vom 13. Fe­bru­ar 2009 nicht auf­gelöst wor­den ist,

2. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis durch die frist­lo­se Kündi­gung vom 20. Fe­bru­ar 2009 nicht auf­gelöst wor­den ist,

3. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, die Ab­mah­nung vom 17. Fe­bru­ar 2009 aus der Per­so­nal­ak­te zu ent­fer­nen.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Sie ver­tei­digt das erst­in­stanz­li­che Ur­teil.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des Sach- und Streit­stan­des wird auf den Ak­ten­in­halt ver­wie­sen.


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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

I. Die Be­ru­fung ist zulässig.

Sie ist nach § 64 Abs. 2 b, c ArbGG statt­haft und in­ner­halb der Fris­ten nach § 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG ein­ge­legt und be­gründet wor­den.

II. In der Sa­che hat die Be­ru­fung auch Er­folg.

Zu Un­recht hat das Ar­beits­ge­richt die Kündi­gungs­schutz­kla­gen und die Kla­ge auf Ent­fer­nung der Ab­mah­nung ab­ge­wie­sen.

1. Die frist­lo­se Kündi­gung vom 20. Fe­bru­ar 2009 ist nach § 626 Abs. 1 BGB
un­wirk­sam.

Die Wirk­sam­keit die­ser Kündi­gung ist zunächst zu prüfen, da sie noch vor dem mit der Kündi­gung vom 13. Fe­bru­ar 2009 an­ge­streb­ten Be­en­di­gungs­ter­min (31. März 2009) zu ei­ner Auflösung des Ar­beits­verhält­nis­ses geführt hätte.

a. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann ein Ar­beits­verhält­nis aus wich­ti­gem Grund oh­ne Ein­hal­tung ei­ner Kündi­gungs­frist gekündigt wer­den, wenn Tat­sa­chen vor­lie­gen, auf Grund de­rer dem Kündi­gen­den un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Ein­zel­fal­les und un­ter Abwägung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist nicht zu­ge­mu­tet wer­den kann.

b. Zur Be­gründung der frist­lo­sen und hilfs­wei­se frist­ge­recht erklärten Kündi­gung be­ruft sich die Be­klag­te dar­auf, der Kläger ha­be ab dem 9. Ja­nu­ar 2009 und trotz Ab­mah­nung vom 17. Fe­bru­ar 2009 un­ent­schul­digt ge­fehlt. Sie


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be­ruft sich da­mit auf ein Fehl­ver­hal­ten, das an sich als Grund auch für ei­ne frist­lo­se Kündi­gung ge­eig­net ist (vgl. da­zu: APS-Dörner, 3. Aufl., § 626 BGB Rdn. 209 m. w. N.; HWK-Sand­mann, 3. Aufl., § 626 BGB Rdn. 167 ff. m. w. N.). Der Kläger hat je­doch nicht un­ent­schul­digt ge­fehlt, son­dern – ent­ge­gen den Ausführun­gen des Ar­beits­ge­richts - ab dem 9. Ja­nu­ar 2009 ein be­ste­hen­des Zurück­be­hal­tungs­recht an sei­ner Ar­beits­leis­tung aus­geübt, was er der Be­klag­ten be­reits mit Schrei­ben vom 5. Ja­nu­ar 2009 an­gekündigt hat­te.

c. Ei­nem Ar­beit­neh­mer steht nach § 273 BGB ein Zurück­be­hal­tungs­recht an sei­ner Ar­beits­leis­tung zu, wenn der Ar­beit­ge­ber sei­ne Vergütungs­pflicht in mehr als nur ge­ringfügi­gem Um­fang nicht erfüllt. Macht der Ar­beit­neh­mer be­rech­tig­ter­wei­se ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber ein der­ar­ti­ges Zurück­be­hal­tungs­recht gel­tend, ist ei­ne des­we­gen aus­ge­spro­che­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung re­gelmäßig un­wirk­sam (vgl. BAG, Ur­teil vom 9. Mai 1996 – 2 AZR 387/95 -; APS-Dörner, a.a.O., § 626 BGB Rdn. 208; HWK-Sand­mann, a.a.O., § 626 BGB Rdn. 175).

Das Zurück­be­hal­tungs­recht nach § 273 BGB be­steht auch, wenn es sich bei den rückständi­gen Vergütungs­ansprüchen um Ent­gelt­fort­zah­lungs­ansprüche han­delt. Das Ar­beits­ge­richt hat bei sei­nen da­von ab­wei­chen­den Ausführun­gen ver­kannt, dass es sich bei dem Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch um den auf­recht­er­hal­te­nen An­spruch auf das ar­beits­ver­trag­lich ge­schul­de­te Ent­gelt han­delt, der auch des­sen Schick­sal teilt, und nicht um ei­nen an­ders ge­ar­te­ten Lohn­er­satz­an­spruch (vgl. da­zu: BAG, Ur­teil vom 16. Ja­nu­ar 2002 – 5 AZR 430/00 -; HWK-Schlie­mann, a. a. O., § 3 EFZG Rdn. 5). Mit dem Hin­weis auf ei­nen An­spruch des Klägers ge­gen die Kran­ken­kas­se auf Zah­lung von Kran­ken­geld nach §§ 44 ff. SGB V hat das Ar­beits­ge­richt über­se­hen, dass der Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch Vor­rang vor die­sem An­spruch hat und nicht et­wa um­ge­kehrt der Kran­ken­geld­an­spruch vor dem Ent­gelt­fort­zah­lungs­an­spruch. Kran­ken­geld hat ei­ne Ent­gel­ter­satz­funk­ti­on und ist erst zu leis­ten, wenn der Ver­si­cher­te sei­nes ar­beits­recht­li­chen An­spruchs auf Ent­gelt­fort­zah­lung we­gen krank­heits­be­ding­ter Ar­beits­unfähig­keit ver­lus­tig ist oder ihn nicht durch­set­zen kann (vgl. HWK-Schlie­mann, a.a.O., § 3 EFZG Rdn. 8). Im Übri­gen ist nicht nach­voll­zieh­bar, in­wie­fern ein et­wai­ger


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An­spruch des Klägers ge­gen die Kran­ken­kas­se auf Zah­lung von Kran­ken­geld das Zurück­be­hal­tungs­recht des Klägers ge­genüber der Be­klag­te ab dem 9. Ja­nu­ar 2009 ent­fal­len las­sen konn­te, ob­wohl sich die Be­klag­te nicht ein­mal dar­auf be­ru­fen hat­te, sie sei zur wei­te­ren Ent­gelt­fort­zah­lung nicht ver­pflich­tet, ge­schwei­ge denn den Kläger auf­ge­for­dert hat­te, die Ärz­te von der Schwei­ge­pflicht zu der Fra­ge des Vor­lie­gens ei­ner Fort­set­zungs­er­kran­kung zu ent­bin­den (vgl. da­zu: HWK-Schlie­mann, a.a.O., § 3 EFZG Rdn. 125), oder sich selbst di­rekt an die Kran­ken­kas­se zu wen­den (vgl. HWK-Schlie­mann, a.a.O, § 3 EFZG Rdn. 125).

Spätes­tens nach Vor­la­ge der Aus­kunft der Kran­ken­kas­se vom 18. Mai 2009 über die Art der Er­kran­kun­gen im erst­in­stanz­li­chen Ver­fah­ren steht fest, dass die Be­klag­te für sämt­li­che Krank­heits­zeiträume ab dem 25. Ja­nu­ar 2008 Ent­gelt­fort­zah­lung zu leis­ten hat. Dies hat auch das Ar­beits­ge­richt nicht an­ders be­ur­teilt. Die von der Be­klag­ten in der Be­ru­fungs­be­ant­wor­tung an­geführ­ten an­geb­li­chen Wi­dersprüche be­gründen kei­ne ernst­haf­ten Zwei­fel an der Rich­tig­keit der Aus­kunft der Kran­ken­kas­se, die auf ärzt­li­chen Fest­stel­lun­gen be­ruht, die in den für die Kran­ken­kas­se er­stell­ten Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gun­gen do­ku­men­tiert sind.

Die Ent­gelt- und Ent­gelt­fort­zah­lungsrückstände für die Mo­na­te Sep­tem­ber 2008 bis De­zem­ber 2008 wa­ren mit über EUR 4.000,00 brut­to (oh­ne De­zem­ber­ge­halt: fast EUR 3.000,00 brut­to) bei ei­ner Mo­nats­vergütung in Höhe von ca. EUR 1.200,00 brut­to auch ganz er­heb­lich.

Nach al­le­dem ist die frist­lo­se Kündi­gung vom 20. Fe­bru­ar 2009 un­wirk­sam.

2. Auch die aus den­sel­ben Gründen erklärte hilfs­wei­se or­dent­li­che Kündi­gung vom 20. Fe­bru­ar 2009 ist nach § 1 Abs. 1 KSchG un­wirk­sam. Aus den vor­ste­hen­den Ausführun­gen er­gibt sich, dass der Kläger durch die Ausübung des Zurück­be­hal­tungs­rechts ab dem 9. Ja­nu­ar 2009 nicht ge­gen sei­ne ar­beits­ver­trag­li­che Ar­beits­pflicht rechts­wid­rig ver­s­toßen hat, al­so auch


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kei­ne ver­hal­tens­be­ding­ten Gründen für den Aus­spruch ei­ner or­dent­li­chen Kündi­gung iSd § 1 Abs. 2 KSchG vor­la­gen.

3. Gleich­falls ist die Kla­ge auf Ent­fer­nung der Ab­mah­nung vom 17. Fe­bru­ar 2009 aus der Per­so­nal­ak­te nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts ge­recht­fer­tigt, da der Kläger die in der Ab­mah­nung gerügte Pflicht­ver­let­zung (un­ent­schul­dig­tes Feh­len seit dem 9. Ja­nu­ar 2009) nicht be­gan­gen hat.

4. Durch die we­gen häufi­ger krank­heits­be­ding­ter Fehl­zei­ten erklärte Kündi­gung vom 13. Fe­bru­ar 2009 ist das Ar­beits­verhält­nis nicht auf­gelöst wor­den, weil sie nicht aus per­so­nen­be­ding­ten Gründen so­zi­al ge­recht­fer­tigt ist iSd § 1 Abs. 1 KSchG.

Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts ist die So­zi­al­wid­rig­keit ei­ner we­gen häufi­ger Er­kran­kun­gen aus­ge­spro­che­nen or­dent­li­chen Kündi­gung des Ar­beit­ge­bers in drei Stu­fen zu prüfen. Da­nach ist zunächst ei­ne ne­ga­ti­ve Pro­gno­se hin­sicht­lich des vor­aus­sicht­li­chen wei­te­ren Ge­sund­heits­zu­stan­des er­for­der­lich. Die ent­stan­de­nen und pro­gnos­ti­zier­ten Fehl­zei­ten müssen zu ei­ner er­heb­li­chen Be­ein­träch­ti­gung der be­trieb­li­chen In­ter­es­sen führen. In der drit­ten Stu­fe, bei der In­ter­es­sen­abwägung, ist dann zu prüfen, ob die er­heb­li­che Be­ein­träch­ti­gung der be­trieb­li­chen In­ter­es­sen zu ei­ner un­zu­mut­ba­ren Be­las­tung führt (vgl. z. B. BAG, Ur­teil vom 7. De­zem­ber 1989 – 2 AZR 225/89 - ).

Im vor­lie­gen­den Fall fehlt es be­reits an der er­for­der­li­chen ne­ga­ti­ven Ge­sund­heits­pro­gno­se. Der Kläger hat die Auf­stel­lung der Kran­ken­kas­se über die Art sei­ner Er­kran­kun­gen seit An­fang 2008 vor­ge­legt und da­zu ergänzend be­gründet, wes­halb es sich um Er­kran­kun­gen (Me­nis­kus, Ma­gen, Haut, Bron­chi­en, Fin­ger, Schul­ter, De­pres­si­on und psy­chi­sche Störung) han­delt, bei de­nen zum Zeit­punkt des Kündi­gungs­aus­spruchs von kei­ner Wie­der­ho­lungs­ge­fahr aus­zu­ge­hen war. Die Er­kran­kun­gen ha­ben zu­dem je­weils nur in ei­nem Zeit­raum zu Aus­fall­zei­ten geführt. Da­zu hat die Be­klag­te nichts vor­ge­tra­gen, was Zwei­fel an der Rich­tig­keit die­ser Dar­le­gun­gen be­gründet.


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An­ge­sichts des­sen sieht die Kam­mer kei­ne Ver­an­las­sung ein ärzt­li­ches Sach­verständi­gen­gut­ach­ten über die zum Zeit­punkt des Aus­spruchs der Kündi­gung vom 13. Fe­bru­ar 2009 zu er­war­ten­den künf­ti­gen Aus­fall­zei­ten des Klägers ein­zu­ho­len.

Nach al­le­dem war un­ter Abände­rung des erst­in­stanz­li­chen Ur­teils der Kla­ge hin­sicht­lich der Kündi­gun­gen und der Ab­mah­nung statt­zu­ge­ben.

Die Kos­ten­ent­schei­dung für das erst­in­stanz­li­che Ver­fah­ren, in dem der Kläger wei­te­re Ansprüche gel­tend ge­macht hat, be­ruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Kos­ten­ent­schei­dung für das Be­ru­fungs­ver­fah­ren be­ruht auf § 91 ZPO.

Die Re­vi­si­on war nicht zu­zu­las­sen. Es han­delt sich um Ein­zel­fall­ent­schei­dung. Es stell­ten sich kei­ne grundsätz­li­chen Rechts­fra­gen, die in der höchst­rich­ter­li­chen Recht­spre­chung noch nicht be­ant­wor­tet sind.

 

Rechts­mit­tel­be­leh­rung

Ge­gen die­ses Ur­teil ist für die kla­gen­de Par­tei ein Rechts­mit­tel nicht ge­ge­ben.

Ge­gen die­ses Ur­teil ist für die be­klag­te Par­tei man­gels aus­drück­li­cher Zu­las­sung die Re­vi­si­on nicht statt­haft, § 72 Abs. 1 ArbGG. We­gen der Möglich­keit, die Nicht­zu­las­sung der Re­vi­si­on selbständig durch Be­schwer­de beim

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an­zu­fech­ten, wird die be­klag­te Par­tei auf die An­for­de­run­gen des § 72 a ArbGG ver­wie­sen.

 

Schwartz

Trim­born

Fries

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