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LAG Nie­der­sach­sen, Ur­teil vom 06.12.2013, 6 Sa 391/13

   
Schlagworte: Sexuelle Belästigung, Kündigung: Außerordentlich, Kündigung: Fristlos, Diskriminierung: Geschlecht
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Aktenzeichen: 6 Sa 391/13
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 06.12.2013
   
Leitsätze:
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Braunschweig - 8 Ca 441/12
   

LAN­DES­AR­BEITS­GERICHT

NIE­DERSACHSEN

Verkündet am:
06.12.2013


Ge­richts­an­ge­stell­te
als Ur­kunds­be­am­tin
der Geschäfts­stel­le

IM NA­MEN DES VOL­KES

UR­TEIL

6 Sa 391/13
8 Ca 441/12 ArbG Braun­schweig


In dem Rechts­streit

pp.

hat die 6. Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts Nie­der­sach­sen auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 6. De­zem­ber 2013 durch

die Vor­sit­zen­de Rich­te­rin am Lan­des­ar­beits­ge­richt Klaus­mey­er,
den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Herrn Wich­mann,
die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Frau Pohl
für Recht er­kannt:

Auf die Be­ru­fun­gen der Be­klag­ten wer­den die Ur­tei­le des Ar­beits­ge­richts Braun­schweig vom 19.02.2013 - 8 Ca 441/12 - und vom 15.08.2013 - 8 Ca 139/13 - ab­geändert.

Die Kla­gen wer­den ins­ge­samt ab­ge­wie­sen.

Die Kos­ten des ge­sam­ten Rechts­streits hat der Kläger zu tra­gen.

Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten um die Wirk­sam­keit ei­ner frist­lo­sen Kündi­gung und die da­von abhängi­ge Ver­pflich­tung der Be­klag­ten zur Zah­lung von An­nah­me­ver­zugs­vergütung.

Der ver­hei­ra­te­te Kläger ist seit dem 01.01.1982 bei der Be­klag­ten, die re­gelmäßig weit­aus mehr als 10 Ar­beit­neh­mer beschäftigt, als Kran­ken­pfle­ger zu ei­nem Brut­to­mo­nats­ver­dienst in Höhe von zu­letzt 2.600,00 € tätig.

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Am 18.10.2012 in­for­mier­te die Aus­zu­bil­den­de für den Be­ruf der Ge­sund­heits- und Kran­ken­pfle­ge­rin, Frau D., ge­bo­ren 1993, die Sta­ti­ons­lei­tung und den Pfle­ge­fach­lei­ter darüber, dass sie vom Kläger am 15. und 16.10.2012 se­xu­ell belästigt wor­den sei. Der Kläger ha­be sie zunächst am 15.10.2012 während der Frühschicht im Frühstücks­raum, in dem sie sich al­lei­ne auf­ge­hal­ten hätten, auf ih­re Ober­wei­te an­ge­spro­chen und ge­fragt, ob die­se „echt“ sei und er ih­re Brüste berühren dürfe. Am 16.10.2012 ha­be der Kläger Frau D. dann in ei­nem Ne­ben­raum in den Arm ge­nom­men, ihr an die Brust ge­fasst und ver­sucht, sie zu küssen. Die­ser Si-tua­ti­on ha­be sich Frau D. ent­zie­hen können.

Die Per­so­nal­ab­tei­lung der Be­klag­ten hörte den Kläger am 18.10.2012 zu die­sen Vorwürfen an. We­gen der da­bei vom Kläger ab­ge­ge­be­nen Erklärun­gen wird auf den Ver­merk der Be­klag­ten vom 19.10.2012 (Bl. 26 und 27 d.A.) Be­zug ge­nom­men.

Am 19.10.2012 hörte die Be­klag­te die Aus­zu­bil­den­de zur vom Kläger ab­ge­ge­be­nen Stel­lung­nah­me an. Die­se hielt an ih­rer Sach­ver­halts­dar­stel­lung fest und teil­te mit, dass sie zwi­schen­zeit­lich Straf­an­zei­ge ge­gen den Kläger er­stat­tet ha­be.

Mit Schrei­ben vom 24.10.2012, we­gen des­sen In­halt auf Blatt 29 bis 33 der Ak­te Be­zug ge-om­men wird, hörte die Be­klag­te den bei ihr be­ste­hen­den Be­triebs­rat zur außer­or­dent­li­chen, hilfs­wei­se außer­or­dent­li­chen Kündi­gung des Klägers mit so­zia­ler Aus­lauf­frist an.

Am 25.10.2012 erklärte der Be­triebs­rat der Be­klag­ten, dass er nach vor­he­ri­ger Be­ra­tung die vor­ge­se­he­ne Kündi­gung des Klägers zur Kennt­nis neh­me. Dar­auf­hin sprach die Be­klag­te mit Schrei­ben vom 01.11.2012, wel­ches dem Kläger am sel­ben Tag zu­ge­gan­gen ist, die außer­or­dent­li­che Kündi­gung, hilfs­wei­se mit Aus­lauf­frist zum 30.06.2013 (Bl. 6 und 7 d.A.) aus.

Seit dem 01.11.2012 zahlt die Be­klag­te kei­ne Vergütung an den Kläger.

Mit sei­ner am 02.11.2012 beim Ar­beits­ge­richt Braun­schweig ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge - 8 Ca 461/12 - be­gehrt der Kläger die Fest­stel­lung der Un­wirk­sam­keit der frist­lo­sen Kündi­gung vom 01.11.2012. Mit der am 06.03.2013 beim Ar­beits­ge­richt Braun­schweig ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge - 8 Ca 139/13 nimmt der Kläger die Be­klag­te auf Zah­lung der Ar­beits­vergütung für den Zeit­raum vom 01.11.2012 bis zu­letzt zum 30.06.2012 abzüglich des in die­sem Zeit­raum er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gel­des in An­spruch.

Der Kläger hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, dass die Kündi­gung der Be­klag­ten vom 01.11.2012 un­wirk­sam sei. Da­zu hat er mit Schrift­satz vom 04.01.2013 zunächst be­haup­tet, dass die volljähri­ge Aus­zu­bil­den­de Frau D., wel­che dem Kläger we­der an­ver­traut noch un­ter­ge­ord­net ge-

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we­sen sei, am 15.10.2012 in der Frühstücks­pau­se um ca. 8:30 Uhr be­gon­nen ha­be, mit ihm zu flir­ten. Sie ha­be ihn an­gelächelt, ihm zu­ge­zwin­kert und pro­vo­ka­tiv mehr­fach ih­re Brüste mit bei­den Händen un­ter­fasst und in sei­ne Blick­rich­tung hoch­ge­ho­ben. Dies hätten auch an­de­re Kol­le­gen mit­be­kom­men, die am Tisch ge­ses­sen hätten. Nach­dem der Kläger mit Frau D. al­lein im Raum ge­we­sen sei, ha­be die­se un­verändert ständig ih­re Bürs­te mit den Händen hoch­ge­ho­ben und pro­vo­ka­tiv nach vor­ne ge­drückt. Sch­ließlich ha­be sie den Kläger ge­fragt: „Al­les echt! Wills­te mal an­fas­sen?“. Die­ser Ein­la­dung sei der Kläger ge­folgt und ha­be ein­ma­lig mit sei­ner lin­ken Hand die rech­te Brust von Frau D. an­ge­fasst und dar­auf­hin geäußert, dass die­se aber schön sei. Hier­auf ha­be Frau D. er­wi­dert: „Dan­ke für das Kom­pli­ment! Aber das darf mein Freund nicht er­fah­ren.“. An­sch­ließend hätten bei­de den Frühstücks­raum ver­las­sen. Frau D. ha­be das be­gon­ne­ne Flir­ten fort­ge­setzt und im­mer dann, wenn sie dem Kläger auf der Sta­ti­on be­geg­net sei, die­sen an­gelächelt und ihm zu­ge­zwin­kert. Nach Fei­er­abend ha­be sich der Kläger Ge­dan­ken ge­macht und sei zum Er­geb­nis ge­kom­men, dass er die von Frau D. pro­vo­zier­te und be­gon­ne­ne Affäre be­en­den wol­le, weil er ver­hei­ra­tet sei. Er ha­be sich ent­schlos­sen, die­ses so schnell wie möglich mit Frau D. zu be­spre­chen. Am Diens­tag, den 16.10.2012 ha­be der Kläger Frau D. dann vor der Frühstücks­pau­se im Ne­ben­raum ge­trof­fen. Er ha­be ihr so­fort ge­sagt: „Wol­len wir es sein las­sen?“. Frau D. ha­be dar­auf­hin er­wi­dert: „Ja, ein­ver­stan­den“. Dann sei Frau D. auf den Kläger zu­ge­kom­men, ha­be sich an ihn an­ge­schmiegt und ihm ih­re Wan­ge hin­ge­bo­ten, da­mit er ihr ei­nen Ab­schieds­kuss ha­be ge­ben können. Die­ser Ein­la­dung sei der Kläger ge­folgt. Da­nach hätten bei­de wie­der ih­re Ar­beit ge­tan und die Sa­che sei da­mit er­le­digt ge­we­sen. Nach Diens­ten­de sei er ge­mein­sam mit Frau D. ein Stück ge­gan­gen. Nach kur­zer Zeit ha­be die­se ih­re Ja­cke geöff­net und zu ihm ge­sagt: „Guck mal, das ha­be ich nur für dich an­ge­zo­gen“. Frau D. ha­be sich in ei­nem sehr en­gen, tief aus­ge­schnit­te­nen Ober­teil vor den Kläger ge­stellt und ihm er­neut ei­nen weit­rei­chen­den An­blick ih­rer Brüste in den tie­fen Aus­schnitt dar­ge­bo­ten.
Die­sen Vor­trag hat der Kläger in sei­nem Schrift­satz vom 12.02.2013 da­hin­ge­hend mo­di­fi­ziert, dass nicht Frau D. ihn, son­dern er Frau D. ge­fragt ha­be, ob er ih­re Brüste „mal“ an­fas­sen dürfe. Die an­ders lau­ten­de Dar­stel­lung im Schrift­satz vom 04.01.2013 be­ru­he auf ei­nem Miss­verständ­nis des Kläger­ver­tre­ters. Zum Vor­fall am 16.10.2012 sei rich­tig, dass der Kläger le­dig­lich sei­ne Ar­me geöff­net, er al­so Frau D. nicht un­auf­ge­for­dert in den Arm ge­nom­men ha­be. Frau D. ha­be sich selbst in die geöff­ne­ten Ar­me des Klägers be­ge­ben und Wan­ge an Wan­ge an ihn ge­schmiegt. Das ha­be der Kläger nur so ver­ste­hen können und müssen, dass sie ihn in un­mit­tel­ba­rer Nähe sei­nes Mun­des zu­gleich auf­for­de­re, ihr ei­nen Kuss zu ge­ben. Frau D. ha­be sich dem Kuss des Klägers nicht ent­zo­gen, son­dern es in sei­nen Ar­men ge­nos­sen. Die an­ders lau­ten­de Dar­stel­lung im Ver­merk vom 19.10.2012 tref­fe nicht zu und müsse auf ei­ner un­sorgfälti­gen Auf­nah­me oder ei­nem Miss­verständ­nis be­ru­hen.

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In­fol­ge der Un­wirk­sam­keit der frist­lo­sen Kündi­gung sei die Be­klag­te da­zu ver­pflich­tet, an den Kläger die Vergütung ab dem 01.11.2012 wei­ter­zu­be­zah­len.

Im Ver­fah­ren 8 Ca 441/12 hat der Kläger be­an­tragt,

1. es wird fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en durch die Kündi­gung vom 01.11.2012 nicht be­en­det wor­den ist, son­dern zu den bis­he­ri­gen Be­din­gun­gen über den Ab­lauf der Kündi­gungs­frist hin­aus un­verändert fort­be­steht,

2. es wird fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis auch nicht durch an­de­re Be­en­di­gungs­tat­bestände be­en­det wor­den ist, son­dern un­verändert auf un­be­stimm­te Zeit fort­be­steht.

Im Ver­fah­ren 8 Ca 139/13 hat der Kläger be­an­tragt,

die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 16.720,69 € brut­to nebst Zin­sen in Höhe von 5%-Punk­ten über dem je­wei­li­gen Ba­sis­zins­satz auf je­weils 3.136,84 € ab dem 30.11. und ab dem 31.12.2012, 2.866,76 € seit dem 31.01.2013 und auf je­weils 1.516,05 € seit dem 28.02.2013, dem 31.03.2013, dem 30.04.2013, dem 31.05.2013 und dem 30.06.2013 zu zah­len.


Die Be­klag­te hat in bei­den Ver­fah­ren be­an­tragt,

die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Sie hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, dass Ar­beits­verhält­nis mit dem Kläger zu Recht frist­los zum 01.11.2012 be­en­det zu ha­ben und des­halb zur wei­te­ren Lohn­zah­lung nicht ver­pflich­tet zu sein. Der Kläger ha­be die Aus­zu­bil­den­de Frau D. so­wohl am 15. als auch am 16.10.2012 se­xu­ell belästigt. Es sei nicht nur zu ei­ner ver­ba­len se­xu­el­len Belästi­gung ge­kom­men, son­dern zu­dem zu körper­li­chen Überg­rif­fen. Die Belästi­gun­gen sei­en an zwei auf­ein­an­der­fol­gen­den Ta­gen er­folgt. Die Aus­zu­bil­den­de Frau D. sei während der Frühschicht am 15.10.2012 al­lein mit dem Kläger im Frühstücks­raum ge­we­sen. Die­ser ha­be sie auf ih­re Ober­wei­te an­ge­spro­chen und ge­fragt, ob die auch „echt“ sei und ob er ih­re Brüste berühren dürfe. Frau D. ha­be ihm durch ab­leh­nen­de Ges­tik und Mi­mik so­wie durch flucht­ar­ti­ges Ver­schwin­den zu ver­ste­hen ge­ge­ben, dass die­ses Ver­hal­ten völlig un­an­ge­bracht ge­we­sen sei. Gleich­wohl ha­be der Kläger am nächs­ten Tag, dem 16.10.2012, sich von die­ser ab­leh­nen­den Re­ak­ti­on un­be­ein­druckt ge­zeigt und Frau D. in den Arm ge­nom­men, ihr an die Brust ge­fasst und ver­sucht, sie zu küssen. Frau D. ha­be sich wie­der­um der Si­tua­ti­on ent­zie­hen können und ha­be wei­te­ren Kon­takt zum Kläger ver­mie­den. Zu Las­ten des Klägers sei zu berück­sich­ti­gen, dass es sich bei Frau D. um ei­ne Aus­zu­bil­den­de han­de­le, der ge­genüber ei­ne be­son­de­re Fürsor­ge­pflicht der Be-

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klag­ten be­ste­he. Er ha­be bei sei­nen Annährungs­ver­su­chen den Um­stand aus­ge­nutzt, dass Aus­zu­bil­den­de im Be­rufs­le­ben noch un­er­fah­ren sei­en, auch was den Um­gang und die Wah­rung der ei­ge­nen Rech­te ge­genüber „eta­blier­ten“ Mit­ar­bei­ter an­be­lan­ge. Ei­ne Ver­set­zung des Klägers auf ei­nen an­de­ren Ar­beits­platz kom­me nicht in Be­tracht. Zum ei­nen beschäfti­ge die Be­klag­te im Pfle­ge­be­reich über­wie­gend weib­li­ches Per­so­nal. Zum an­de­ren würden Aus­zu­bil­den­de der­ge­stalt ein­ge­setzt, dass sie sämt­li­che Sta­tio­nen im Kran­ken­haus­be­trieb der Be­klag­ten durch­lie­fen. Des­halb könne nicht aus­ge­schlos­sen wer­den, dass der Kläger in Ver­su­chung ge­ra­te, ein wei­te­res Mal durch un­an­ge­mes­se­nes Ver­hal­ten im Sin­ne ei­ner se­xu­el­len Belästi­gung auffällig zu wer­den. Dem Kläger müsse klar sein, dass sein Han­deln im ho­hen Maße in­ak­zep­ta­bel sei. Se­xu­el­le Belästi­gun­gen - gleich wel­cher Art - stell­ten ei­ne ab­so­lut un­erwünsch­te Ver­hal­tens­wei­se dar, wel­ches die Be­klag­te zu un­ter­bin­den ha­be. Der Ver­trau­ens­bruch des Klägers sei so er­heb­lich, dass aus Sicht der Be­klag­ten ei­ne Wei­ter­beschäfti­gung gleich wel­cher Art auch nur für ein hal­bes Jahr aus­ge­schlos­sen sein.

Das Ar­beits­ge­richt Braun­schweig hat im Ver­fah­ren 8 Ca 441/12 Be­weis er­ho­ben zu dem pau­scha­len Be­weisthe­ma: „Die Fra­ge der se­xu­el­len Belästi­gung am 15. bzw. 16.10.2012“ (vgl. Bl. 36 R. d.A.) durch die Ver­neh­mung von Frau D. als Zeu­gin. We­gen des In­halts und Ab­laufs der Be­weis­auf­nah­me wird auf das Sit­zungs­pro­to­koll der Kam­mer­ver­hand­lung vom 19.02.2013 (Bl. 53 - 55 d.A.) Be­zug ge­nom­men.

Im Ver­fah­ren 8 Ca 441/12 hat das Ar­beits­ge­richt Braun­schweig mit Ur­teil vom 19.02.2013 fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en durch die Kündi­gung der Be­klag­ten vom 01.11.2012 nicht be­en­det wor­den ist. We­gen der Ein­zel­hei­ten der recht­li­chen Be­wer­tung wird die Ent­schei­dungs­gründe die­ses Ur­teils (Bl. 5 - 8 des­sel­ben, Bl. 62 - 65 der Ge­richts­ak­te) ver­wie­sen. Das Ur­teil ist der Be­klag­ten am 21.03.2013 zu­ge­stellt wor­den. Hier­ge­gen hat die Be­klag­te mit am 16.04.2013 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt Nie­der­sach­sen ein­ge­gan­ge­nen Schrift­satz Be­ru­fung ein­ge­legt und die­se un­ter dem 15.05.2013 be­gründet.
Mit Ur­teil vom 15.08.2013 hat das Ar­beits­ge­richt Braun­schweig die Be­klag­te da­zu ver­ur­teilt, an den Kläger ins­ge­samt 16.720,69 € brut­to an An­nah­me­ver­zugs­vergütung für den Zeit­raum vom 01.11.2012 bis 30.06.2013 zu zah­len. We­gen der recht­li­chen Be­wer­tung wird auf die Ent­schei­dungs­gründe die­ses Ur­teils (Bl. 4 - 7 des­sel­ben, Bl. 44 - 47 der Ge­richts­ak­te) Be­zug ge­nom­men. Das Ur­teil ist der Be­klag­ten am 21.08.2013 zu­ge­stellt wor­den. Ih­re hier­ge­gen ge­rich­te­te Be­ru­fung ist am 27.08.2013 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt Nie­der­sach­sen ein­ge­gan­ge­nen. Die Be­ru­fungs­be­gründung er­folg­te un­ter dem 07.10.2013.

Mit Be­schluss vom 06.12.2013 hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Nie­der­sach­sen die bei­den Be­ru­fungs­ver­fah­ren 6 Sa 391/13 und 6 Sa 920/13 zur ge­mein­sa­men Ver­hand­lung und Ent­schei­dung ver­bun­den.

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Die Be­klag­te ist der Auf­fas­sung, das erst­in­stanz­li­che Ge­richt sei bei der In­ter­es­sen­abwägung zu Un­recht zu dem Er­geb­nis ge­kom­men, dass ei­ne Ab­mah­nung als Sank­ti­on für das kläge­ri­sche Ver­hal­ten aus­ge­reicht ha­be. In­so­weit müsse vor­lie­gend her­vor­ge­ho­ben wer­den, dass Op­fer der se­xu­el­len Belästi­gung des Klägers ei­ne Aus­zu­bil­den­de ge­we­sen sei. Es sei für den Kläger oh­ne wei­te­res er­kenn­bar ge­we­sen, dass die Be­klag­te se­xu­el­le Überg­rif­fe auf Aus­zu­bil­den­de un­ter kei­nem denk­ba­ren Ge­sichts­punkt dul­den wer­de. Zu­dem sei die se­xu­el­le Belästi­gung nicht nur ver­bal er­folgt, son­dern sie ha­be auch die körper­li­che In­te­grität der Aus­zu­bil­den­den be­trof­fen. Zu­dem ha­be es sich um ein wie­der­hol­tes Fehl­ver­hal­ten, nämlich um ein sol­ches am 15. und ein sol­ches am 16.10.2012 ge­han­delt. Die Be­klag­te beschäfti­ge ca. 240 Aus­zu­bil­den­de und ins­ge­samt im Pfle­ge­be­reich über­wie­gend weib­li­che Mit­ar­bei­te­rin­nen. Auch oh­ne Ab­mah­nung ha­be der Kläger in je­dem Fall da­von aus­ge­hen müssen, dass so­wohl die Berührung der Brust als auch der Ver­such ei­nes Kus­ses auf den Mund völlig un­ak­zep­ta­bel sei­en. In­fol­ge der Wirk­sam­keit der frist­lo­sen Kündi­gung sei die Be­klag­te nicht zur Zah­lung von Vergütung an den Kläger über den 01.11.2012 hin­aus ver­pflich­tet.


Die Be­klag­te be­an­tragt,
die Ur­tei­le des Ar­beits­ge­richts Braun­schweig vom 19.02.2013 - 8 Ca 441/12 - und vom 15.08.2013 - 8 Ca 139/13 - ab­zuändern und
die Kla­gen ab­zu­wei­sen.

Der Kläger be­an­tragt,
die Be­ru­fun­gen zurück­zu­wei­sen.

Er ver­tei­digt das erst­in­stanz­li­che Ur­teil als zu­tref­fend. Zu­dem ist er der Auf­fas­sung, dass die Ver­neh­mung der Zeu­gin auch an­ders ha­be gewürdigt wer­den können, als dies von Sei­ten des erst­in­stanz­li­chen Ge­rich­tes er­folgt sei. Die Zeu­gin ha­be einräum­en müssen, ihr Ver­hal­ten ge­genüber dem Kläger sei be­reits an­de­ren Kol­le­gen auf­ge­fal­len, so­dass die­se so­gar hätten fra­gen müssen, was die­se denn da ma­che. Die Be­weiswürdi­gung des Ar­beits­ge­rich­tes könne da­her be­reits ei­nen Rechts­feh­ler er­ken­nen las­sen, weil sie nicht den ge­sam­ten In­halt der Ver­hand­lung gewürdigt ha­be. Sie sei nicht frei von wi­dersprüchli­chen Verstößen ge­gen Denk­ge­set­ze und all­ge­mei­ne Er­fah­rungssätze. Das Ge­richt ha­be we­gen der auffälli­gen Wi­dersprüchlich­kei­ten in­ner­halb der Aus­sa­ge Zwei­fel an der Glaubwürdig­keit der Zeu­gin D. ha­ben müssen. Das Ar­beits­ge­richt ha­be in­so­fern we­sent­li­che In­hal­te der Zeu­gen­aus­sa­ge un­berück­sich­tigt ge­las­sen. Selbst die Rich­tig­keit der Be­weiswürdi­gung un­ter­stellt, sei es der Be­klag­ten

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zu­zu­mu­ten, den Kläger wei­ter zu beschäfti­gen und es bei ei­ner Ab­mah­nung als Re­ak­ti­on zu be­las­sen.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des Vor­brin­gens der Par­tei­en im Be­ru­fungs­ver­fah­ren wird auf ih­res Schriftsätze vom 15.05.2013 und 11.06.2013 im Ver­fah­ren 6 Sa 391/13 und auf ih­re Schriftsätze vom 02.10.2013 und 18.10.2013 im Ver­fah­ren 6 Sa 920/13 so­wie auf die in der münd­li­chen Ver­hand­lung ab­ge­ge­be­nen wech­sel­sei­ti­gen Erklärun­gen ver­wie­sen.


Ent­schei­dungs­gründe

Die Be­ru­fun­gen der Be­klag­ten ha­ben Er­folg.

I.
Bei­de Be­ru­fun­gen sind statt­haft, form- und frist­ge­recht ein­ge­legt so­wie be­gründet wor­den, § 66 ArbGG und §§ 519, 520 ZPO.


II.
Sie sind be­gründet.

Die frist­lo­se Kündi­gung der Be­klag­ten vom 01.11.2012 ist wirk­sam und hat das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en mit Zu­gang am 01.11.2012 be­en­det. Aus die­sem Grun­de ist die Be­klag­te nicht da­zu ver­pflich­tet, an den Kläger wei­te­re Vergütung zu zah­len. Die erst­in­stanz­li­chen Ur­tei­le wa­ren des­halb auf die Be­ru­fun­gen der Be­klag­ten ab­zuändern und die Kla­gen wa­ren ins­ge­samt ab­zu­wei­sen.


1.
Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Ar­beits­verhält­nis aus wich­ti­gem Grund oh­ne Ein­hal­tung ei­ner Kündi­gungs­frist gekündigt wer­den, wenn Tat­sa­chen vor­lie­gen, auf­grund de­rer dem Kündi­gen­den un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Ein­zel­fal­les und un­ter Abwägung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist nicht zu­ge­mu­tet wer­den kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sach­ver­halt oh­ne sei­ne be­son­de­ren Umstände „an sich“, d. h. ty­pi­scher Wei­se als wich­ti­ger Grund ge­eig­net ist. So­dann be­darf es der Prüfung, ob dem Kündi­gen­den die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses un­ter Berück­sich­ti­gung der kon­kre­ten Umstände des Fal­les und un­ter Abwägung der In­ter­es­sen bei­der Ver­trags­tei­le - je­den­falls bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist - un­zu­mut­bar ist oder nicht. Ist - wie vor­lie­gend beim Kläger - ver­trag­lich oder auf­grund von

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ta­rif­li­cher Re­ge­lung die or­dent­li­che Kündi­gung aus­ge­schlos­sen, ist in­so­weit auf die fik­ti­ve Kündi­gungs­frist ab­zu­stel­len. Die­se beträgt für den Kläger auf Grund­la­ge von § 33 TVöD sechs Mo­na­te.

2.
Das Ver­hal­ten des Klägers am 15. und 16.10.2012 recht­fer­tigt „an sich“ ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung.

a)
Se­xu­el­le Belästi­gun­gen im Sin­ne von § 3 Abs. 4 AG stel­len nach § 7 Abs. 3 AGG ei­ne Ver­let­zung ver­trag­li­cher Pflich­ten dar. Sie sind „an sich“ als wich­ti­ger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB ge­eig­net. Ob die se­xu­el­le Belästi­gung im Ein­zel­fall ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung recht­fer­tigt, ist abhängig von den Umständen des Ein­zel­fal­les, u.a. von ih­rem Um­fang und ih­rer In­ten­sität (vgl. BAG, 09.06.2011 - 2 AZR 323/10 - NZA 2011, 1342). Ei­ne se­xu­el­le Belästi­gung im Sin­ne von § 3 Abs. 4 AGG liegt vor, wenn ein un­erwünsch­tes se­xu­ell be­stimm­tes Ver­hal­ten, wo­zu un­erwünsch­te se­xu­el­le Hand­lun­gen und Auf­for­de­run­gen zu die­sen, se­xu­ell be­stimm­te körper­li­che Berührun­gen, Be­mer­kun­gen se­xu­el­len In­halts so­wie un­erwünsch­tes Zei­gen von por­no­gra­fi­schen Dar­stel­lun­gen gehören, be­zweckt oder be­wirkt, dass die Würde der be­tref­fen­den Per­son ver­letzt wird, ins­be­son­de­re wenn ein von Einschüchte­run­gen, An­fein­dun­gen, Er­nied­ri­gun­gen, Entmündi­gun­gen oder Be­lei­di­gun­gen ge­kenn­zeich­ne­tes Um­feld ge­schaf­fen wird. Im Un­ter­schied zu § 3 Abs. 3 AGG können da­nach auch ein­ma­li­ge se­xu­ell be­stimm­te Ver­hal­tens­wei­sen den Tat­be­stand ei­ner se­xu­el­len Belästi­gung erfüllen. Das je­wei­li­ge Ver­hal­ten muss be­wir­ken oder be­zwe­cken, dass die Würde der be­tref­fen­den Per­son ver­letzt wird. Aus­schlag­ge­bend ist ent­we­der das Er­geb­nis oder die Ab­sicht. Da­bei genügt für das Be­wir­ken der bloße Ein­tritt der Belästi­gung. Ge­gen­tei­li­ge Ab­sich­ten oder Vor­stel­lun­gen der für die­ses Er­geb­nis auf­grund ih­res Ver­hal­tens ver­ant­wort­li­chen Per­son spie­len kei­ne Rol­le. Auch vorsätz­li­ches Ver­hal­ten ist nicht er­for­der­lich. Eben­so we­nig ist maßgeb­lich, ob die Be­trof­fe­nen ih­re ab­leh­nen­de Ein­stel­lung zu den frag­li­chen Ver­hal­tens­wei­sen ak­tiv ver­deut­licht ha­ben. Ent­schei­dend ist al­lein, ob die Un­erwünscht­heit der Ver­hal­tens­wei­se ob­jek­tiv er­kenn­bar war (vgl. nur BAG, 09.06.2011 - 2 AZR 323/10 - a.a.O., Hess. LAG, 27.02.2012 - 6 Sa 1357/11 - LA­GE § 626 BGB, 2012 Nr. 37).

b)
Bei der ge­bo­te­nen Zu­grun­de­le­gung die­ser Vor­ga­ben steht nach dem Er­geb­nis der in ers­ter In­stanz durch­geführ­ten Be­weis­auf­nah­me so­wie un­ter Berück­sich­ti­gung des ge­sam­ten In­halts der Ver­hand­lung zur Über­zeu­gung der Be­ru­fungs­kam­mer gemäß § 286 ZPO mit der ge­bo­te­nen Ge­wiss­heit fest, dass der Kläger ei­ner­seits am 15.10.2012 die Aus­zu­bil­den­de Frau D., nach­dem al­le an­de­ren Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen den Frühstücks­raum ver­las­sen hat­ten, auf

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ih­re Ober­wei­te und auf de­ren Echt­heit an­ge­spro­chen hat, und dass der Kläger an­de­rer­seits am dar­auf­fol­gen­den Diens­tag, den 16.10.2012, die Aus­zu­bil­den­de Frau D., als bei­de al­lein in ei­nem Spülraum wa­ren, in den Arm ge­nom­men, sei­ne lin­ke Hand auf de­ren Brust ge­legt und ver­sucht hat, die­se zu küssen.

aa)
So­weit nach § 286 ZPO zu be­ur­tei­len ist, ob ei­ne Be­haup­tung „wahr“ ist, kommt es auf die freie Über­zeu­gung des Ge­richts an. Die­se Über­zeu­gung von der Wahr­heit er­for­dert zwar kei­ne ab­so­lu­te oder un­umstößli­che Ge­wiss­heit, da ei­ne sol­che nicht zu er­rei­chen ist. Das Ge­richt darf al­so nicht dar­auf ab­stel­len, ob je­der Zwei­fel und je­de Möglich­keit des Ge­gen­teils aus­ge­schlos­sen ist. Aus­rei­chend, aber auch er­for­der­lich ist viel­mehr ein für das prak­ti­sche Le­ben brauch­ba­rer Grad von Ge­wiss­heit, der den Zwei­feln Schwei­gen ge­bie­tet, oh­ne sie völlig aus-zu­sch­ließen (vgl. BGH, 14.12.1993 - IV ZR 221/92 - NJW-RR 1994, 567). Da­bei hat das Ge­richt nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO un­ter Berück­sich­ti­gung des ge­sam­ten In­halts der Ver­hand­lung und des Er­geb­nis­ses ei­ner Be­weis­auf­nah­me nach frei­er Über­zeu­gung zu ent­schei­den. Da­bei kann und darf das Ge­richt nicht nur aus dem Er­geb­nis ei­ner Be­weis­auf­nah­me, son­dern auch aus dem Ver­hal­ten ei­ner Par­tei auf die Wahr­heit oder Un­wahr­heit ih­res Vor­brin­gens schließen. § 286 Abs. 1 ZPO schreibt aus­drück­lich vor, dass das Er­geb­nis ei­ner Be­weis­auf­nah­me nicht iso­liert, son­dern un­ter Berück­sich­ti­gung des ge­sam­ten In­halts der Ver­hand­lung zu be­wer­ten ist. Der In­halt der Ver­hand­lung setzt sich da­bei zum ei­nen aus dem un­strei­ti­gen und strei­ti­gen Sach­vor­trag der Par­tei­en und zum an­de­ren aus de­ren Pro­zess­ver­hal­ten zu­sam­men. Zwar ist ei­ne Par­tei nicht ge­hin­dert, ihr Vor­brin­gen im Lau­fe des Rechts­strei­tes zu ändern. Hat ei­ne Par­tei­en im Lau­fe des Pro­zes­ses je­doch ihr Vor­brin­gen mo­di­fi­ziert, so kann die­ser Um­stand im Rah­men der Be­weiswürdi­gung Berück­sich­ti­gung fin­den (vgl. BAG, 08.05.1996 - 5 AZR 315/95 - AP Nr. 23 zu § 618 BGB). Da­bei hat das Be­ru­fungs­ge­richt gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO sei­ner Ver­hand­lung und Ent­schei­dung die vom Ge­richt des ers­ten Rechts­zu­ges fest­ge­stell­ten Tat­sa­chen zu­grun­de zu le­gen, so­weit nicht kon­kre­te An­halts­punk­te Zwei­fel an der Rich­tig­keit und Vollständig­keit der ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Fest­stel­lung be­gründen und des­halb ei­ne er­neu­te Fest­stel­lung ge­bie­ten. Sol­che Zwei­fel können sich aus der Möglich­keit un­ter­schied­li­cher Wer­tun­gen dann er­ge­ben, wenn das Be­ru­fungs­ge­richt das Er­geb­nis ei­ner erst­in­stanz­li­chen Be­weis­auf­nah­me an­ders würdigt als das Ge­richt der Vor­in­stanz. Die Bin­dung des Be­ru­fungs­ge­richts an die erst­in­stanz­li­chen Fest­stel­lun­gen entfällt auch dann, wenn die Be­weiswürdi­gung der ers­ten In­stanz nicht den An­for­de­run­gen des § 286 Abs. 1 ZPO genügt, weil sie un­vollständig, in sich wi­dersprüchlich oder ge­gen Denk- und Er­fah­rungs­ge­set­ze verstößt (vgl. BGH, 12.08.2007 - ZR 257/03 - NJW 2004, 854; LAG Rhein­land-Pfalz, 24.05.2012 - 11 Sa 50/12 - sie­he Ju­ris).

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bb)
Ge­mes­sen an die­sen An­for­de­run­gen sind Zwei­fel an der erst­in­stanz­li­chen Tat­sa­chen­fest­stel­lung nicht ge­ge­ben. Das Be­ru­fungs­ge­richt teilt die vom Ar­beits­ge­richt vor­ge­nom­me­ne Be­wer­tung, dass die Aus­sa­ge von Frau D. glaub­haft und die Zeu­gin selbst glaubwürdig ist.

aaa)
Da­bei folgt die Be­ru­fungs­kam­mer der sog. Null­hy­po­the­se, nach der ein Zeu­ge mit sei­ner Aus-sa­ge we­der ei­ner Grund­an­nah­me der Glaub­haf­tig­keit noch der Un­glaub­haf­tig­keit un­ter­liegt. Der Zeu­ge muss das Ge­richt durch sei­ne Aus­sa­ge „über­zeu­gen“. Zur Ab­gren­zung wer­den die an­er­kann­ten Rea­litätskenn­zei­chen und Fan­ta­sie­merk­ma­le her­an­ge­zo­gen. Rea­litätskenn­zei­chen ei­ner Aus­sa­ge sind u.a. De­tail­reich­tum, in­halt­li­che In­di­vi­dua­lität mit nach­prüfba­rer in­halt­li­cher Ver­flech­tung, Struk­tur­gleich­heit der Aus­sa­ge, Steue­rung und Ho­mo­ge­nität so­wie Kon­stanz et­wai­ger Er­wei­te­run­gen bei Wie­der­ho­lung der Aus­sa­ge. Fan­ta­sie­kenn­zeich­nend sind Ver­le­gen­heit oder Ver­wei­ge­rung, Über­trei­bung oder Be­gründungs­si­gna­le und man­geln­de Aus­sa­ge­kom­pe­tenz bis hin zum Struk­tur­bruch. Die­se An­zei­chen sind in ers­ter Li­nie dem pro­to­ko­lier­ten In­halt der Aus­sa­ge zu ent­neh­men un­ter Berück­sich­ti­gung des ge­sam­ten Vor­trags der Par­tei­en (LG Frank­furt, 19.10.2004 - 12 O 404/02 - Scha­den-Pra­xis 2005, 376 - 377; LAG Nie­der­sach­sen, 15.09.2008 - 14 Sa 1769/07 - NZA-RR 2009, 126 - 131; BGH, 30.07.1999 - 1 StR 618/98 - NJW 1999, 2746 - 2751).

bbb)
Die Zeu­gin konn­te die Sach­ver­hal­te am 15.10. und 16.10.2012 zeit­lich, ört­lich und si­tua­tiv zu­tref­fend ein­ord­nen. Sie hat die Ver­hal­tens­wei­sen des Klägers nicht dra­ma­ti­siert, son­dern nüchtern und oh­ne blu­mi­ge Um­schrei­bun­gen dar­ge­stellt. Auch die be­kun­de­ten Re­ak­tio­nen ih­rer­seits sind oh­ne wei­te­res nach­voll­zieh­bar. So hat sie erklärt, dass der Kläger sie am Mon-tag, den 15.10.2012, im Frühstücks­raum auf ih­re große Ober­wei­te an­ge­spro­chen ha­be. Sie hat ein­geräumt, dass sie sich da­bei zunächst nichts ge­dacht und darüber so­gar noch ge­lacht ha­be. Sie hat zu­dem aus­geführt, dass der Kläger sie am glei­chen Tag ge­gen 10:00 Uhr dar­auf an­ge­spro­chen ha­be, ob es ihr un­an­ge­nehm ge­we­sen sei, über sol­che Sa­chen zu re­den. Das ha­be sie ver­neint. Die Zeu­gin hat auf Vor­halt des Kläger­ver­tre­ters oh­ne wei­te­res zu­ge­stan­den, dass im Frühstücks­raum am be­sag­ten 15.10.2012 zu­vor ei­ne aus­ge­las­se­ne Stim­mung ge­herrscht ha­be. Es sei viel ge­lacht wor­den und man ha­be her­um­ge­al­bert. Das Gan­ze ha­be ein sol­ches Aus­maß an­ge­nom­men, dass die Se­kretärin sie so­gar dar­auf an­ge­spro­chen ha­be, was sie denn dort ma­che. Die­ses Her­umal­bern hat die Zeu­gin da­mit be­gründet, dass im­mer dann, wenn sie hoch­ge­blickt ha­be, der Kläger sie an­ge­guckt ha­be, und sie des­halb ha­be la­chen müssen; Wi­dersprüchlich­kei­ten sind hier ent­ge­gen der An­sicht des Klägers nicht zu er­ken­nen. Die Zeu­gin hat zu­dem un­um­wun­den ein­geräumt, dass sie grundsätz­lich ein gu­tes Verhält­nis zum Kläger ge­habt ha­be. An­halts­punk­te dafür, dass die Zeu­gin den Kläger zu

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Un­recht be­schul­di­gen woll­te, sind nicht ge­ge­ben. Des Wei­te­ren hat die Zeu­gin die Ge­scheh­nis­se am dar­auf­fol­gen­den Diens­tag, den 16.10.2012 in nach­voll­zieh­ba­rer Art und Wei­se so­wie in sich schlüssig dar­ge­stellt. Auch in­so­weit hat sie wie­der­um auf jeg­li­che Dra­ma­ti­sie­rung und Emo­tio­na­li­sie­rung der Sach­ver­halts­dar­stel­lung ver­zich­tet. Sie hat aus­geführt, dass sie ge­mein­sam mit dem Kläger im Spülraum ge­we­sen sei. Der Kläger ha­be die Tür an­ge­lehnt, sie in den rech­ten Arm ge­nom­men, sei­ne lin­ke Hand auf ih­re Brust ge­legt und ver­sucht sie zu küssen. Sie ha­be sich weg­ge­dreht, wor­auf­hin der Kläger sie noch auf die Wan­ge geküsst ha­be. Sie sei dann weg­ge­gan­gen und ha­be ih­re Ar­beit wei­ter ver­rich­tet. Auch, dass sie die­sen Vor­fall nicht so­fort, son­dern erst nach dem Gespräch mit ih­rer Schwes­ter am Mitt­woch bei der Be­klag­ten ge­mel­det hat­te, hat sie schlüssig be­gründet. Die Zeu­gin hat freimütig ein­geräumt, dass sie zunächst Zwei­fel ge­habt ha­be, ob sie das tun sol­le, da sie dem Kläger noch am Mon-tag ge­ant­wor­tet ha­be, dass es ihr nicht un­an­ge­nehm sei über sol­che Sa­chen zu re­den. Ins­ge­samt hält des­halb die Be­ru­fungs­kam­mer eben­so wie das Ar­beits­ge­richt Braun­schweig die Aus­sa­ge der Frau D. für glaub­haft und die Zeu­gin selbst für glaubwürdig.
Darüber hin­aus ist zu berück­sich­ti­gen, dass sich die Zeu­gin Frau D. nicht nur im Rah­men der Zeu­gen­aus­sa­ge, son­dern schon vor­her ge­genüber der Be­klag­ten in in­halt­lich un­veränder­ter Wei­se durch­ge­hend zu den Vorfällen am 15. und 16.10.2012 erklärt hat. Dem­ge­genüber ist dem Kläger vor­zu­hal­ten, dass er sich bei der Anhörung durch die Be­klag­ten am 18.10.2012 und im Rah­men sei­nes pro­zes­sua­len Vor­brin­gens in­halt­lich nicht strin­gent zu den Vorfällen am 15. und 16.10.2012 geäußert hat. Die Ab­wei­chun­gen hat er nicht nach­voll­zieh­bar be­gründet. Gemäß Ver­merk vom 19.10.2012 hat der Kläger in der Anhörung am 18.10.2012 erklärt, dass er Frau D. ge­fragt ha­be, ob er ih­re Brust ein­mal an­fas­sen dürfe. Frau D. hier­auf er­wi­dert ha­be, dass sie grundsätz­lich nichts ge­gen das Berühren ih­rer Brust ein­zu­wen­den ha­be. Am 16.10.2012 ha­be er sich ver­an­lasst ge­se­hen, Frau D. zu trösten und die­se des­halb in den Arm ge­nom­men und ihr ei­nen Kuss auf die Wan­ge ge­ge­ben. Frau D. ha­be oh­ne wei­te­ren Wort­wech­sel dar­auf­hin schnell den Raum ver­las­sen. Dem­ge­genüber hat der Kläger im Rah­men des Kündi­gungs­schutz­ver­fah­rens im Schrift­satz vom 04.01. 2013 ein­ge­klei­det in wört­li­cher Re­de erklärt, Frau D. ha­be ihn am 15.10.2012 ge­fragt: „Al­les echt! Willst du mal an­fas­sen?“. Im Schrift­satz vom 12.02.2013 stellt der Kläger dar, es sei rich­tig, dass er die Zeu­gin Frau D. ge­fragt ha­be, ob er mal an­fas­sen dürfe. Die an­ders lau­ten­de Dar­stel­lung im Schrift­satz vom 04.01.2013 be­ru­he auf ei­nem Miss­verständ­nis des Kläger­ver­tre­ters. Wie es zu die­sem Miss­verständ­nis in ei­nem so wich­ti­gen Sach­ver­halts­de­tail kom­men konn­te, führt der Kläger nicht aus. Am 16.10.2012 ha­be sich die Zeu­gin selbst in die geöff­ne­ten Ar­me des Klägers be­ge­ben und Wan­ge an Wan­ge an die­sen ge­schmiegt. Sie ha­be sich dem Kuss des Klägers nicht ent­zo­gen, son­dern es in den Ar­men des Klägers ge­nos­sen. Frau D. ha­be den Raum nicht schnell ver­las­sen. Die an­ders lau­ten­de Dar­stel­lung im Ver­merk bzgl. des Gespräches am 18.10.2010 tref­fe nicht zu und müsse auf ei­ner un­sorgfälti­gen Auf­nah­me oder ei­nem Miss­verständ­nis be­ru­hen. Auch das wird vom Kläger nicht erläutert.

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Für die Kam­mer ist schwer nach­voll­zieh­bar, wie der Kläger ei­nen für ihn der­art wich­ti­gen Sach­ver­halt in un­ter­schied­li­chen Va­ria­tio­nen vorträgt, oh­ne dies kon­kret zu be­gründen. Ins-ge­samt ist die Kam­mer des­halb mit der ge­bo­te­nen Ge­wiss­heit da­von über­zeugt, dass sich die Vorfälle so zu­ge­tra­gen ha­ben, wie sie von der Zeu­gin D. in ers­ter In­stanz be­kun­det wor­den sind. Die vom Kläger er­ho­be­nen pau­scha­len Ein­wen­dun­gen ge­gen die erst­in­stanz­li­chen Fest­stel­lun­gen sind we­der nach­voll­zieh­bar noch aus­rei­chend be­gründet und tref­fen aus den oben dar­ge­leg­ten Gründen nicht zu. Die Be­ru­fungs­kam­mer hat­te des­halb kei­ne Ver­an­las­sung die Be­weis­auf­nah­me zu wie­der­ho­len. Nach § 389 ZPO ist das Be­ru­fungs­ge­richt nur dann zu er­neu­ten Ver­neh­mung ver­pflich­tet, wenn es die Glaubwürdig­keit der erst­in­stanz­lich gehörten Zeu­gen an­ders als das Ge­richt ers­ter In­stanz be­ur­teilt und dies die Tat­sa­chen­fest­stel­lung be­ein­flusst. Eben­so wie die ers­te In­stanz hält auch die Be­ru­fungs­kam­mer die Zeu­gen­aus­sa­ge der Frau D. für glaub­haft und sie selbst für glaubwürdig.

c)
Da­mit ist der Ent­schei­dung zu­grun­de zu le­gen, dass der Kläger im Be­trieb der Be­klag­ten an zwei auf­ein­an­der­fol­gen­den Ta­gen die Aus­zu­bil­den­de Frau D. se­xu­ell im Sin­ne von § 3 Abs. 4 AGG belästigt hat. Der Kläger hat die Aus­zu­bil­den­de am 15.10.2012 auf ih­re Ober­wei­te an­ge­spro­chen und da­nach ge­fragt, ob die­se echt sei. Da­bei han­delt es sich oh­ne Zwei­fel um ei­ne Be­mer­kung se­xu­el­len In­halts, die die Aus­zu­bil­den­de auf ih­re Brüste re­du­zier­te und sie da­mit in ih­rer Würde ver­letz­te. Zwar hat Frau D. ein­geräumt, dass sie auf ei­ne ent­spre­chen­de Fra­ge von Sei­ten des Klägers erklärt ha­be, dass es ihr nicht un­an­ge­nehm ge­we­sen sei, über so was zu re­den. Das AGG geht je­doch nicht da­von aus, dass die Belästig­te den Störer zunächst „ab­mah­nen“ muss. Für den 53-jähri­gen Kläger war ob­jek­tiv er­kenn­bar, dass es ein­deu­tig un­an­ge­mes­sen ist, ei­ne 18-jähri­ge Aus­zu­bil­den­de nach der Echt­heit ih­rer Ober­wei­te zu fra­gen. Dar­an konn­ten für ihn kei­ner­lei Zwei­fel be­ste­hen. Die Vorfälle am 16.10.2012 stel­len eben­falls ein­deu­ti­ge se­xu­el­le Belästi­gun­gen im Sin­ne von § 3 Abs. 4 AGG dar. Der Kläger hat an die­sem Tag Frau D. nicht nur in den Arm ge­nom­men, son­dern ihr mit ei­ner Hand auf die Brust ge­fasst und ver­sucht sie auf den Mund zu küssen. Ei­ne ver­se­hent­li­che Berührung schei­det un­ter die­sen Umständen ein­deu­tig aus. Viel­mehr ist der Kläger un­ter Miss­ach­tung des ele­men­tars­ten Scham­gefühls die Aus­zu­bil­den­de körper­lich an­ge­gan­gen. Bei der Berührung der Brust han­delt es of­fen­sicht­lich um ei­nen Ein­griff in die körper­li­che In­tim­sphäre, der im­mer ob­jek­tiv als se­xu­el­le be­stimmt im Sin­ne von § 3 Abs. 4 AGG an­zu­se­hen ist. Die Brust stellt ei­ne Ta­bu­zo­ne dar (vgl. LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern, 14.08.2012 - 5 Sa 324/11 - ARB RB 2012, 365). Glei­ches gilt oh­ne Fra­ge auch für den Kuss auf den Mund. Die Ver­bin­dung die­ser Ver­hal­tens­wei­sen mit ei­nem „in den Arm neh­men“, wor­auf­hin die Ent­zugsmöglich­kei­ten für Frau D. re­du­ziert wa­ren, ha­ben Frau D. zum Ob­jekt des kläge­ri­schen Be­geh­rens ge­macht. Sie sind als un­erwünsch­te se­xu­el­le Hand­lun­gen zu qua­li­fi­zie­ren, die die Aus­zu­bil­den­de Frau D. in ih­rer Würde ver­letzt ha­ben. Es ist nach dem Er­geb­nis der Be­weis­auf­nah­me

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und dem ge­sam­ten In­halt der münd­li­chen Ver­hand­lung nicht er­sicht­lich, dass Frau D. dem Kläger in ir­gend­ei­ner Wei­se zu er­ken­nen ge­ge­ben hätte, für Berührun­gen ih­rer Brust bzw. Küsse auf ih­ren Mund of­fen zu sein. Selbst wenn man zu Guns­ten des Klägers da­von aus­ge­hen woll­te, dass er sich durch be­stimm­te Ver­hal­tens­wei­sen von Frau D. pro­vo­ziert oder er­mu­tigt fühlen durf­te, recht­fer­tigt das sei­ne Überg­rif­fe nicht. Von ei­nem Mann im Al­ter des Klägers, mit sei­ner ein­schlägi­gen Be­rufs­er­fah­rung ist oh­ne wei­te­res zu er­war­ten, dass er auf der­ar­ti­ge „Pro­vo­ka­tio­nen“ von Aus­zu­bil­den­den am Ar­beits­platz nicht ein­geht. Un­maßgeb­lich ist, wie er selbst sein Ver­hal­ten ein­geschätzt hat oder ver­stan­den wis­sen woll­te.

3.
Die außer­or­dent­li­che Kündi­gung der Be­klag­ten ist zu­dem un­ter Berück­sich­ti­gung der Umstände des Ein­zel­falls und bei Abwägung der bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen ge­recht­fer­tigt.

a)
Bei der Prüfung, ob dem Ar­beit­ge­ber ei­ne Wei­ter­beschäfti­gung des Ar­beit­neh­mers trotz Vor-lie­gen ei­ner er­heb­li­chen Pflicht­ver­let­zung je­den­falls bis zum Ab­lauf der fik­ti­ven Kündi­gungs­frist am 30.06.2013 zu­mut­bar ist, ist in ei­ner Ge­samtwürdi­gung das In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers an der so­for­ti­gen Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ge­gen das In­ter­es­se des Ar­beit­neh­mers an des­sen Fort­be­stand ab­zuwägen. Es hat ei­ne Be­wer­tung des Ein­zel­fal­les un­ter Be­ach­tung des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes zu er­fol­gen. Die Umstände, an­hand de­ren zu be­ur­tei­len ist, ob dem Ar­beit­ge­ber die Wei­ter­beschäfti­gung zu­mut­bar ist oder nicht, las­sen sich nicht ab­sch­ließend fest­le­gen. Zu berück­sich­ti­gen sind aber re­gelmäßig das Ge­wicht und die Aus­wir­kung ei­ner Ver­trags­pflicht­ver­let­zung, der Grad des Ver­schul­dens des Ar­beit­neh­mers, ei­ne mögli­che Wie­der­ho­lungs­ge­fahr so­wie die Dau­er des Ar­beits­verhält­nis­ses und des­sen störungs­frei­er Ver­lauf. Auch Un­ter­halts­pflich­ten und der Fa­mi­li­en­stand können je nach La­ge des Fal­les Be­deu­tung ge­win­nen. Ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung kommt nur in Be­tracht, wenn es kei­nen an­ge­mes­se­ne­ren Weg gibt, das Ar­beits­verhält­nis fort­zu­setz­ten, weil dem Ar­beit­ge­ber sämt­li­che mil­de­re Re­ak­ti­onsmöglich­kei­ten un­zu­mut­bar sind. Bei Verstößen ge­gen das Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot des § 7 Abs. 1 AGG, zu de­nen auch se­xu­el­le Belästi­gun­gen im Sin­ne von § 3 Abs. 4 AGG gehören, hat der Ar­beit­ge­ber im Ein­zel­fall die ge­eig­ne­ten, er­for­der­li­chen und an­ge­mes­se­nen ar­beits­recht­li­chen Maßnah­men wie Ab­mah­nung, Um­set­zung, Ver­set­zung oder Kündi­gung zu er­grei­fen. Wel­che er hier­von als verhält­nismäßig an­se­hen darf, hängt eben­falls von den kon­kre­ten Umständen des Ein­zel­fal­les ab. § 12 Abs. 3 AGG schränkt das Aus­wahler­mes­sen je­doch in­so­weit ein, als der Ar­beit­ge­ber die Be­nach­tei­li­gung zu un­ter­bin­den hat. Ge­eig­net im Sin­ne der Verhält­nismäßig­keit sind da­her nur sol­che Maßnah­men, von de­nen der Ar­beit­ge­ber an­neh­men darf, dass sie die Be­nach­tei­li­gung für die Zu­kunft ab­stel­len, d. h. ei­ne Wie­der­ho­lung aus­sch­ließen. Ei­ne Ab­mah­nung be­darf es in An­se­hung des Verhält­nismäßig­keits­grund­sat­zes nur dann nicht, wenn ei­ne Ver­hal­tensände­rung in

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Zu­kunft selbst nach Ab­mah­nung nicht zu er­war­ten ist oder es sich um ei­ne so schwe­re Pflicht­ver­let­zung han­delt, dass ei­ne Hin­nah­me durch den Ar­beit­ge­ber of­fen­sicht­lich - auch für den Ar­beit­neh­mer er­kenn­bar - aus­ge­schlos­sen ist (vgl. nur BAG, 09.06.2011 - 2 AZR 381/10 - NZA 2011, 1027).

b)
Da­nach war hier ent­ge­gen der Einschätzung des Ar­beits­ge­rich­tes Braun­schweig ei­ne Ab­mah­nung ent­behr­lich war. In­so­weit ist zunächst her­vor­zu­he­ben, dass es sich nicht um ein ein­ma­li­ges Fehl­ver­hal­ten des Klägers ge­han­delt hat, son­dern dass die­ser an zwei auf­ein­an­der fol­gen­den Ta­gen die weib­li­che Aus­zu­bil­den­de zunächst ver­bal und da­nach durch Hand­lun­gen se­xu­ell belästigt hat. Zu berück­sich­ti­gen ist zu­dem, dass die In­ten­sität der Belästi­gung zu­ge­nom­men hat. Es kann da­hin­ste­hen, ob in Be­zug auf die ver­ba­le Belästi­gung der Aus­zu­bil­den­de am 15.10.2012 ei­ne vor­he­ri­ge Ab­mah­nung er­folg­ver­spre­chend und aus­rei­chend ge­we­sen wäre. Je­den­falls die körper­li­chen Berührun­gen am 16.10.2012 in Ge­stalt des An­fas­sens der Brust und des Ver­suchs, Frau D. auf den Mund zu küssen, stel­len der­art gra­vie­ren­de Pflicht­ver­let­zun­gen dar, dass de­ren Hin­nah­me durch die Be­klag­te of­fen­sicht­lich und für den Kläger er­kenn­bar aus­ge­schlos­sen wa­ren. Dass se­xu­el­le Belästi­gun­gen von Kol­le­gin­nen in Wort und Tat un­erwünsch­te Ver­hal­tens­wei­sen dar­stel­len, ist all­ge­mein be- und an­er­kannt. Ein der­ar­ti­ges Ver­hal­ten gilt im Ar­beits­verhält­nis grundsätz­lich als in­ak­zep­ta­bel, ins­be­son­de­re wenn es um das Berühren der primären Ge­schlechts­merk­ma­le, wie der Brust geht. Dies muss­te dem Kläger oh­ne wei­te­res klar sein. Da­zu be­durf­te es ei­ner vor­he­ri­gen Ab­mah­nung von Sei­ten der Be­klag­ten nicht.

c)
Un­ter Abwägung der bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen war der Be­klag­ten ei­ne Wei­ter­beschäfti­gung auch nur bis zum Ab­lauf der fik­ti­ven Kündi­gungs­frist nicht zu­mut­bar.
Die Pflicht­ver­let­zung des Klägers wiegt außer­or­dent­lich schwer. Er hat Frau D. an zwei Ar­beits­ta­gen hin­ter­ein­an­der mehr­mals se­xu­ell belästigt. Da­bei be­we­gen sich ver­ba­le Belästi­gun­gen nicht ge­ne­rell in ei­nem we­ni­ger gra­vie­ren­den Be­reich des durch § 3 Abs. 4 AGG auf-ge­zeig­ten Spek­trums. Die auf die Brüste von Frau D. an­spie­len­de Fra­ge hat­te nicht nur ei­nen anzügli­chen und be­drängen­den, son­dern auch ei­nen ein­deu­tig se­xu­el­len Cha­rak­ter. Die Belästi­gung von Frau D. hat sich am 16.10.2012 in­ten­si­viert, in­dem der Kläger de­ren Brust und da­mit ei­ne of­fen­sicht­li­che Ta­bu­zo­ne berührt hat. Zu­gleich hat er ver­sucht, Frau D. auf den Mund zu küssen. Das ist als ei­ne die körper­li­che In­te­grität miss­ach­ten­de und se­xu­ell mo­ti­vier­te Hand­lung zu qua­li­fi­zie­ren. Der Kläger kann sich in die­sem Zu­sam­men­hang nicht auf ei­nen Irr­tum über die Un­erwünscht­heit sei­nes Ver­hal­tens be­ru­fen. Se­xu­el­le Belästi­gun­gen im Sin­ne von § 3 Abs. 4 AGG er­for­dern tat­be­stand­lich kein vorsätz­li­ches Ver­hal­ten. Zwar ist zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers zu berück­sich­ti­gen, wenn er sich nach­voll­zieh­bar in ei­nem Irr­tum be­fun­den

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hat. Dafür be­ste­hen aber nach der über­zeu­gen­den Aus­sa­ge der Zeu­gin D. kei­ner­lei An­halts-punk­te. Es ist nicht an­satz­wei­se er­sicht­lich, wie der Kläger am 16.10.2012 da­von aus­ge­hen konn­te, Frau D. sei da­mit ein­ver­stan­den, dass er in ei­nem von außen nicht ein­seh­ba­ren Raum de­ren Brust berührt und ver­sucht sie auf den Mund zu küssen. Die Be­klag­te hat gemäß § 12 Abs. 1 S. 1 AGG die Pflicht, ihr weib­li­ches Per­so­nal ef­fek­tiv vor se­xu­el­len Belästi­gun­gen zu schützen und ge­genüber al­len Mit­ar­bei­tern klar­zu­stel­len, dass se­xu­el­le Belästi­gun­gen un­ter kei­nen Umständen hin­ge­nom­men wer­den. Dies konn­te sie durch den Aus­spruch ei­ner nur or­dent­li­chen Kündi­gung nicht gewähr­leis­ten. Für den Lauf der Kündi­gungs­frist von sechs Mo­na­ten hätte die Ge­fahr ei­ner Belästi­gung durch den Kläger fort­be­stan­den. Ob­wohl es sich ihm auf­drängen muss­te, hat er sich da­zu hin­reißen las­sen, Frau D. zwei­mal in ein­deu­ti­ger Art und Wei­se se­xu­ell zu belästi­gen. Der im Zu­ge des Per­so­nal­gesprächs er­folg­ten und mit­hin nachträgli­chen so­wie von außen ver­an­lass­ten Ent­schul­di­gung des Klägers kommt kei­ne be­son­ders ent­las­ten­de Be­deu­tung zu. Die Be­klag­te hat in die­sem Zu­sam­men­hang dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sie im pfle­ge­ri­schen Be­reich über­wie­gend weib­li­che Mit­ar­bei­ter und ins­ge­samt 240 Aus­zu­bil­den­de beschäfti­ge. Die­se Aus­zu­bil­den­den durch­lie­fen im 8-Wo­chen-Rhyth­mus ver­schie­dens­te Ab­tei­lun­gen der Be­klag­ten. Egal in wel­chen Be­rei­chen der Kläger beschäftigt wird, er ar­bei­tet im­mer mit weib­li­chen Kol­le­gin­nen und Aus­zu­bil­den­den zu­sam­men­ar­bei­ten. Ge­ra­de in Be­zug auf Aus­zu­bil­den­de nimmt die Be­klag­te für sich zu Recht ei­ne ge­stei­ger­te Fürsor­ge­pflicht in An­spruch. Dass für die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses not­wen­di­ge Ver­trau­en hat der Kläger im be­son­ders schwer­wie­gen­der und nach­hal­ti­ger Art und Wei­se da­durch ver­letzt, dass er ei­ne Aus­zu­bil­den­de se­xu­ell belästigt hat und zwar nicht ein­ma­lig, son­dern an zwei auf­ein­an­der­fol­gen­den Ta­gen. Dafür hat er stets Si­tua­tio­nen gewählt, in de­nen kei­ne an­de­re Per­son an­we­send war. So hat er sich ei­ner Kon­trol­le vollständig ent­zo­gen. Hätte Frau D. den Sach­ver­halt nicht zur Kennt­nis der Be­klag­ten ge­bracht, hätte die Be­klag­te kei­ner­lei Möglich­keit ge­habt, hier­von zu er­fah­ren. Trotz sei­ner aus­ge­spro­chen lan­gen und un­strei­tig be­an­stan­dungs­frei­en Be­triebs­zu­gehörig­keit, sei­nen Un­ter­halts­ver­pflich­tun­gen und sei­nes Al­ters von 53 Jah­ren über­wiegt des­halb im Er­geb­nis das In­ter­es­se der Be­klag­ten an ei­ner so­for­ti­gen Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses das In­ter­es­se des Klägers an ei­ner Fort­set­zung des­sel­ben zu­min­dest für die Dau­er der fik­ti­ven Kündi­gungs­frist.

4.
Die Be­klag­te hat vor Aus­spruch der Kündi­gung die Frist des § 626 Abs. 2 BGB ge­wahrt. Sie hat von den kündi­gungs­auslösen­den Sach­ver­hal­ten erst­mals am Don­ners­tag, den 18.10.2012 er­fah­ren. Die dar­auf­hin er­folg­te frist­lo­se Kündi­gung ging dem Kläger am Don­ners­tag, den 01.11.2012 und da­mit in­ner­halb der zweiwöchi­gen Kündi­gungs­erklärungs­frist zu.

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5.
Die außer­or­dent­li­che Kündi­gung ist schließlich nicht we­gen feh­ler­haf­ter Anhörung des Be-triebs­ra­tes un­wirk­sam. Aus­weis­lich der schrift­li­chen Anhörung des Be­triebs­ra­tes vom 24.10.2012 hat die Be­klag­te die­sen in­halt­lich in vollständi­ger Art und Wei­se so­wohl über die So­zi­al­da­ten des Klägers als auch den zu­grun­de­lie­gen­den Sach­ver­halt ein­sch­ließlich der Kri­te­ri­en für die In­ter­es­sen­abwägung in­for­miert. Un­ter dem 25.10.2012 hat der Be­triebs­rat dem Ar­beit­ge­ber mit­ge­teilt, dass er die be­ab­sich­tig­te Maßnah­me zur Kennt­nis ge­nom­men ha­be. Un­abhängig von der Fra­ge, ob das Anhörungs­ver­fah­ren be­reits da­durch be­en­det wur­de, hat die Be­klag­te gleich­wohl den Ab­lauf der dreitäti­ge Frist ab­ge­war­tet, be­vor dann un­ter dem 01.11.2012 die frist­lo­se Kündi­gung des Klägers erklärt wor­den ist.

II.
Das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en ist seit dem 01.11.2012 be­en­det. Aus die­sem Grund ste­hen dem Kläger über den 01.11.2012 hin­aus kei­ne An­nah­me­ver­zugs­ansprüche gemäß § 615 BGB ge­gen die Be­klag­te zu.

III.
Der Kläger hat gemäß § 91 Abs. 1 ZPO die Kos­ten des Rechts­strei­tes, d. h. der bei­den ers­tin-stanz­li­chen Ver­fah­ren 8 Ca 139/13 und 8 Ca 441/12 so­wie der ver­bun­de­nen Be­ru­fungs­ver­fah-ren 6 Sa 391/13 und 6 Sa 920/13 zu tra­gen.

Gründe, die Re­vi­si­on zu­zu­las­sen, lie­gen nicht vor, § 72 Abs. 2 ArbGG.


Rechts­mit­tel­be­leh­rung

Ge­gen die Nicht­zu­las­sung der Re­vi­si­on fin­det die Be­schwer­de statt.

Die Be­schwer­de kann nur dar­auf gestützt wer­den, dass

1. ei­ne ent­schei­dungs­er­heb­li­che Rechts­fra­ge grundsätz­li­che Be­deu­tung hat,

2. das Ur­teil von ei­ner Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, von ei­ner Ent­schei­dung des Ge­mein­sa­men Se­nats der obers­ten Ge­richtshöfe des Bun­des, von ei­ner Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts oder, so­lan­ge ei­ne Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts in der Rechts­fra­ge nicht er­gan­gen ist, von ei­ner Ent­schei­dung ei­ner an­de­ren Kam­mer des­sel­ben Lan­des­ar­beits­ge­richts oder ei­nes an­de­ren Lan­des­ar­beits­ge­richts ab­weicht und die Ent­schei­dung auf die­ser Ab­wei­chung be­ruht,

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oder

3. ein ab­so­lu­ter Rechts­be­schwer­de­grund gemäß § 547 Nr. 1 bis 5 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung oder ei­ner ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Ver­let­zung des An­spruchs auf recht­li­ches Gehör gel­tend ge­macht wird und vor­liegt.

Die Be­schwer­de muss bin­nen ei­ner Not­frist von ei­nem Mo­nat nach Zu­stel­lung die­ses Ur­teils bei dem Bun­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­legt wer­den.

Die An­schrift des Bun­des­ar­beits­ge­richts lau­tet:

Hu­go-Preuß-Platz 1, 99084 Er­furt.

Te­le­fax-Nr.: (0361) 26 36 – 20 00

Auf die Möglich­keit der Ein­rei­chung elek­tro­ni­scher Do­ku­men­te beim Bun­des­ar­beits­ge­richt nach § 46 c ArbGG i. V. m. den be­son­de­ren Vor­aus­set­zun­gen nach der Ver­ord­nung über den elek­tro­ni­schen Rechts­ver­kehr beim Bun­des­ar­beits­ge­richt vom 9. März 2006, BGBl. 2006 Teil I Nr. 12, S. 519 f., aus­ge­ge­ben zu Bonn am 15. März 2006, wird hin­ge­wie­sen.


Die Be­schwer­de ist in­ner­halb ei­ner Not­frist von zwei Mo­na­ten nach Zu­stel­lung des Ur­teils zu be­gründen. In der Be­schwer­de­be­gründung müssen die Vor­aus­set­zun­gen der obi­gen Nr. 2 dar­ge­legt oder die Ent­schei­dung be­zeich­net wer­den, von der das Ur­teil ab­weicht.

Vor dem Bun­des­ar­beits­ge­richt müssen sich die Par­tei­en durch Pro­zess­be­vollmäch­tig­te ver­tre­ten las­sen. Als Be­vollmäch­tig­te sind außer Rechts­anwälten nur die in § 11 Ab­satz 2 Satz 2 Nr. 4 und 5 ArbGG be­zeich­ne­ten Or­ga­ni­sa­tio­nen zu­ge­las­sen. Die­se müssen in Ver­fah­ren vor dem Bun­des­ar­beits­ge­richt durch Per­so­nen mit Befähi­gung zum Rich­ter­amt han­deln.

Die Be­schwer­de­schrift, die Be­schwer­de­be­gründungs­schrift und die sons­ti­gen wech­sel­sei­ti­gen Schriftsätze im Be­schwer­de­ver­fah­ren sol­len 7-fach – für je­den wei­te­ren Be­tei­lig­ten ein Ex­em­plar mehr – bei dem Bun­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­reicht wer­den.

Klaus­mey­er 

Wich­mann 

Pohl

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