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ARBEITSRECHT AKTUELL // 10/093

Mi­nus-Os­si-Fall: Dis­kri­mi­nie­rung als "Os­si"?

Sind „Os­sis“ ei­ne eth­ni­sche Grup­pe im Sin­ne des An­ti­dis­kri­mi­nie­rungs­rechts?: Ar­beits­ge­richt Stutt­gart, Ur­teil vom 15.04.2010, 17 Ca 8907/09
Schwarze Stifte mit einem roten Stift (-) Os­si
17.05.2010. Für bun­des­wei­tes Auf­se­hen sorg­te vor ei­ni­gen Wo­chen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Stutt­gart in ei­nem Dis­kri­mi­nie­rungs­pro­zess, den ei­ne aus der ehe­ma­li­gen DDR stam­men­de und im Zu­sam­men­hang mit der po­li­ti­schen Wen­de nach West­deutsch­land ge­zo­ge­ne ost­deut­sche Stel­len­be­wer­be­rin an­ge­strengt hat­te, weil sie aus ih­rer Sicht als „Os­si“ dis­kri­mi­niert wor­den war.

Ei­ne der­ar­ti­ge Schlech­ter­stel­lung wä­re aber, so das Ar­beits­ge­richt (ArbG) Stutt­gart, be­reits grund­sätz­lich gar kei­ne ge­setz­lich ver­bo­te­ne Dis­kri­mi­nie­rung "we­gen der eth­ni­schen Her­kunft", so dass An­sprü­che aus dem AGG auf Gel­dent­schä­di­gung und/oder Scha­dens­er­satz von vorn­her­ein aus­schei­den: ArbG Stutt­gart, Ur­teil vom 15.04.2010, 17 Ca 8907/09.

Dis­kri­mi­nie­rung we­gen der eth­ni­schen Her­kunft

Dis­kri­mi­nie­run­gen sind des­halb un­fair, weil sie auf Merk­ma­len be­ru­hen, die man sel­ber nicht be­ein­flus­sen kann (et­wa das Ge­schlecht, die eth­ni­sche Her­kunft, das Al­ter, die se­xu­el­len Vor­lie­ben, ei­ne Be­hin­de­rung) oder die die in­ners­ten Über­zeu­gun­gen be­tref­fen (wie die Zu­gehörig­keit zu ei­ner Re­li­gi­on oder die Welt­an­schau­ung).

In Um­set­zung ver­schie­de­ner eu­ropäischer An­ti­dis­kri­mi­nie­rungs­richt­li­ni­en gilt des­halb in Deutsch­land seit Au­gust 2006 das All­ge­mei­ne Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG), das un­ter an­de­rem Dis­kri­mi­nie­run­gen „aus Gründen der Ras­se oder we­gen der eth­ni­schen Her­kunft“ (§ 1 AGG) un­ter­sagt.

Wie schon aus der For­mu­lie­rung „aus Gründen der Ras­se“ er­sicht­lich ist (und bei der zu­grun­de­lie­gen­den eu­ropäischen Richt­li­nie ex­pli­zit in der Richt­li­ni­en­be­gründung erwähnt wird), geht die­se recht­li­che Re­ge­lung ge­ra­de nicht von der un­rich­ti­gen An­nah­me aus, es ge­be men­sch­li­che Ras­sen. Viel­mehr sol­len Be­trof­fe­ne ge­ra­de da­vor geschützt wer­den, dass ih­nen ei­ne ver­meint­li­che „Ras­se“ zu­ge­schrie­ben wird und sie auf­grund ei­nes sol­chen - an­geb­li­chen - Merk­mals, d.h. aus "Ras­segründen", schlech­ter ge­stellt wer­den. Bes­ser und kla­rer müss­te es da­her ei­gent­lich heißen, dass ei­ne „ras­sis­tisch mo­ti­vier­te Dis­kri­mi­nie­rung“ ver­bo­ten ist.

Ei­ne der­ar­ti­ge Dis­tan­zie­rung des Ge­set­zes von der Vor­stel­lung, es könne "men­sch­li­che Ras­sen" ge­ben, lässt das Ge­setz bei der eth­ni­schen Her­kunft je­doch nicht er­ken­nen. Da es hier heißt, Schlech­ter­stel­lun­gen "we­gen der eth­ni­schen Her­kunft" sei­en ver­bo­ten, liegt dem AGG wohl die An­nah­me zu­grun­de, dass es ver­schie­de­ne „Eth­ni­en“ tatsächlich (ob­jek­tiv) gibt. Es fragt sich da­her, un­ter wel­chen Umständen Per­so­nen ei­ner eth­ni­schen Grup­pe an­gehören bzw. un­ter wel­chen Umständen Schlech­ter­stel­lun­gen im Be­rufs­le­ben "we­gen der eth­ni­schen Her­kunft" ge­ge­ben ist.

Ei­nig ist man sich in der ju­ris­ti­schen Li­te­ra­tur darüber, dass die Ab­stam­mung aus ei­nem großen Bun­des­land, et­wa aus Nord­rhein-West­fa­len oder aus Ba­den-Würt­tem­berg, nichts mit der "eth­ni­schen Her­kunft" zu tun hat. Viel­mehr kommt es auf „his­to­risch“ ge­wach­se­ne Zu­sam­men­gehörig­keits­merk­ma­le an, et­wa z.B. auf die Spra­che, ei­nen be­stimm­ten Dia­lekt oder auf Tra­di­tio­nen. Dem­zu­fol­ge könn­te et­wa ei­ne ver­bo­te­ne Dis­kri­mi­nie­rung we­gen der eth­ni­schen Her­kunft vor­lie­gen, wenn ein Bay­er in Schwa­ben oder ein Schwa­be in Bay­ern we­gen ih­res Dia­lekts und ih­rer da­mit zu­sam­menhängen­den Her­kunft schlech­ter ge­stellt wer­den.

Bis­lang von der Recht­spre­chung noch nicht ein­deu­tig ent­schie­den ist die Fra­ge, ob auch die Her­kunft aus der ehe­ma­li­gen DDR oder der ehe­ma­li­ge BRD ei­ne "eth­ni­sche" Her­kunft im Sin­ne des AGG dar­stellt. Liegt al­so ei­ne ge­setz­lich ver­bo­te­ne Dis­kri­mi­nie­rung im Sin­ne des AGG vor, wenn man als „Os­si“ oder „Wes­si“ un­ge­recht­fer­tigt be­nach­tei­ligt wird? Mit die­ser bis­her nicht geklärten Fra­ge hat­te sich das Ar­beits­ge­richt Stutt­gart in ei­nem Fall be­fasst, der vor ei­ni­gen Wo­chen durch die Pres­se ging (Ar­beits­ge­richt Stutt­gart, Ur­teil vom 15.04.2010, 17 Ca 8907/09).

Der Fall des Ar­beits­ge­richts Stutt­gart: Be­wer­be­rin aus der ehe­ma­li­gen DDR erhält Be­wer­bungs­un­ter­la­gen mit dem Ver­merk "Mi­nus - Os­si"

Ge­klagt hat­te ei­ne aus der ehe­ma­li­gen DDR stam­men­de Be­wer­be­rin, die noch vor der po­li­ti­schen „Wen­de“ nach Stutt­gart ge­zo­gen war. Sie be­warb sich im Ju­li 2009 er­folg­los bei ei­nem Stutt­gar­ter Un­ter­neh­men auf ei­ne Stel­le. Ih­ren Le­bens­lauf be­kam sie mit dem Ver­merk: „(-)OSSI“ zurück­ge­sandt.

Dar­in sah die Be­wer­be­rin ei­ne Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund ih­rer eth­ni­schen Her­kunft als „Os­si“ und for­der­te von dem Un­ter­neh­men des­halb ei­ne Gel­dentschädi­gung, die § 15 Abs. 2 AGG im Fal­le ei­ner dis­kri­mi­nie­ren­den Schlech­ter­tel­lung bei Stel­len­be­wer­bun­gen vor­sieht.

Das be­klag­te Un­ter­neh­men, das be­ton­te, meh­re­re Beschäftig­te aus der ehe­ma­li­gen DDR zu ha­ben, ver­trat da­ge­gen die An­sicht, „Os­sis“ sei­en kei­ne ei­ge­ne eth­ni­sche Grup­pe und die Ab­sa­ge sei außer­dem nicht er­folgt, weil die Be­wer­be­rin ursprüng­lich aus Ost­deutsch­land kam.

Ar­beits­ge­richt Stutt­gart: Kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung we­gen der eth­ni­schen Her­kunft

Nach münd­li­cher Ver­hand­lung ent­schied das Ar­beits­ge­richt Stutt­gart am 15.04.2010 ge­gen die Be­wer­be­rin. Das Ge­richt be­gründet die­se Ent­schei­dung fol­gen­der­maßen:

Die Be­zeich­nung als “Os­si“ kann zwar dis­kri­mi­nie­rend ge­meint und emp­fun­den wer­den, erfüllt aber nicht das Merk­mal "eth­ni­sche Her­kunft" im Sin­ne des AGG. Mit die­sem Be­griff sind nur Grup­pen ge­meint, die durch Her­kunft, Ge­schich­te, Kul­tur, durch ih­re Ver­bin­dung zu ei­nem spe­zi­fi­schen Ter­ri­to­ri­um und durch ein ge­teil­tes Gefühl der So­li­da­rität mit­ein­an­der ver­bun­den sind.

Ei­ne „Eth­nie“ in die­sem Sin­ne sind die Ost­deut­schen nach Auf­fas­sung des Ge­richts nicht. Außer der Zu­ord­nung zum ehe­ma­li­gen DDR-Ter­ri­to­ri­um feh­le es bei den sog. „Os­sis“ (und im übri­gen nach Auf­fas­sung des Ge­richts auch bei Bay­ern und Schwa­ben) an den o.g. Merk­ma­len. Außer­dem hat­te die DDR nur we­nig mehr als ei­ne Ge­ne­ra­ti­on, nämlich 40 Jah­re lang, ei­ne von der BRD un­ter­schied­li­che Ent­wick­lung ge­nom­men, so das Ge­richt.

In der ehe­ma­li­gen DDR wer­den Dia­lek­te von säch­sisch bis platt­deutsch ge­spro­chen wer­den, wo­bei un­ter­schied­li­che Dia­lek­te oh­ne­hin nicht ei­ner ge­mein­sa­men Spra­che ent­ge­gen­ste­hen, so das Ge­richt. Auch die Ge­schich­te der nach 1989 ent­stan­de­nen Be­zeich­nung „Os­si“ sei viel zu jung, um seit­her ei­ne ab­grenz­ba­re Po­pu­la­ti­on be­schrei­ben zu können. Dass die da­ma­li­ge DDR und die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ge­sell­schafts­po­li­tisch un­ter­schied­li­che Ent­wick­lun­gen bis 1989 auf­zei­gen, lässt die (ehe­ma­li­gen) Bürger der bei­den staat­li­chen Räume nicht als ab­grenz­ba­re Eth­ni­en von je­weils ei­ge­ner Art be­schrei­ben, denn die ge­mein­sa­me Ge­schich­te seit Ab­schaf­fung der Klein­staa­te­rei, die ge­mein­sa­me Kul­tur der letz­ten 250 Jah­re, die von Dia­lekt­un­ter­schie­den ab­ge­se­he­ne ge­mein­sa­me Spra­che mach­ten deut­lich, dass im 21. Jahr­hun­dert re­gio­na­le Un­ter­schei­dungsmöglich­kei­ten we­der Schwa­ben noch Bay­ern noch „Wes­sis“ noch in Ost­deutsch­land Ge­bo­re­ne zu je­weils von­ein­an­der ab­grenz­ba­ren Eth­ni­en wer­den las­sen

Fa­zit: Das Ge­richt sagt nicht, dass die Be­wer­be­rin nicht auf­grund ih­rer Her­kunft aus Ost­deutsch­land „un­fair“ be­han­delt wor­den ist, son­dern ist „nur“ der Mei­nung, dass die­se Be­nach­tei­li­gung nicht vom AGG er­fasst wird. Denn dort ist nicht ein­fach von der „Her­kunft“ son­dern von „eth­ni­scher Her­kunft“ die Re­de. Die Dis­kri­mi­nie­rung der Be­wer­be­rin war hier al­so nach An­sicht des Ar­beits­ge­richts Stutt­gart (zwar viel­leicht nicht men­sch­lich, aber:) recht­lich in Ord­nung.

Ob die­se An­sicht rich­tig ist, darf al­ler­dings be­zwei­felt wer­den. Denn in Fällen wie dem hier ent­schie­de­nen han­delt es sich of­fen­sicht­lich um ei­ne „ras­sis­ti­sche“ Dis­kri­mi­nie­rung im wei­te­ren Sin­ne. Des­halb soll­te man die Fra­ge, was un­ter ei­nen „eth­ni­schen Her­kunft“ im Sin­ne des AGG zu ve­ste­hen ist, nicht in ers­ter Li­nie von "ob­jek­ti­ven" eth­no­lo­gi­schen Merk­ma­len abhängig ma­chen, son­dern ähn­lich wie bei der ver­bo­te­nen ras­sis­ti­schen Be­nach­tei­li­gung dar­auf ab­stel­len, ob ei­ner Per­son ei­ne eth­ni­sche Her­kuft zu­ge­schrie­ben wird - ob nun mit "ob­jek­ti­ven" Gründen oder nicht. Wenn ei­ne sol­che (wirk­li­che oder bloß ver­meint­li­che) eth­ni­sche Her­kunft ei­ne Be­nach­tei­li­gung im Be­rufs­le­ben zur Fol­ge hat, soll­te dies für die An­wen­dung des AGG genügen. Soll­te der Mi­nus-Os­si-Fall den Weg durch die In­stan­zen bis hin zum BAG nimmt, wird die Ent­schei­dung des Ar­beits­ge­richts da­her mögli­cher­wei­se auf­ge­ho­ben wer­den.

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Letzte Überarbeitung: 21. Mai 2016

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