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ARBEITSRECHT AKTUELL // 10/168

Be­weis­wert ei­ner Ar­beits­un­fä­hig­keits­be­schei­ni­gung bei Selbst­be­schrei­bung als "top­fit"

Wer sich selbst als „psy­chisch und phy­sisch top­fit“ be­zeich­net, ist nicht ar­beits­un­fä­hig: Hes­si­sches Lan­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 08.02.2010, 16 Sa 890/09
Gipsbein Gipsarm Top­fit und trotz­dem ein "gel­ber Schein"
30.08.2010. Wer ar­beits­un­fä­hig er­krankt ist, hat für sechs Wo­chen ei­nen An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung. Der Nach­weis der Er­kran­kung wird durch ei­ne ärzt­li­che Ar­beits­un­fä­hig­keits­be­schei­ni­gung (AU) ge­führt. Der Be­weis­wert ei­nes sol­chen "gel­ben Scheins" ist hoch. Ein­fa­che Zwei­fel des Ar­beit­ge­bers sind da­her un­be­acht­lich. Nur "har­te Fak­ten" kön­nen da­zu füh­ren, dass die Ar­beits­un­fä­hig­keit mit ei­ner AU nicht mehr be­wie­sen wer­den kann.

Dem­ent­spre­chend kommt es im­mer wie­der zu Streit um die Fra­ge, ob die je­wei­li­gen In­for­ma­tio­nen des Ar­beit­ge­bers "hart" ge­nug sind, um vor Ge­richt be­ste­hen kön­nen. Das Hes­si­sche Lan­des­ar­beits­ge­richt be­fass­te sich in die­sem Zu­sam­men­hang An­fang des Jah­res da­mit, ob Aus­sa­gen des mut­maß­lich er­krank­ten Ar­beit­neh­mers aus­rei­chen kön­nen: Hes­si­sches Lan­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 08.02.2010, 16 Sa 890/09.

Ärzt­li­che Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gun­gen ha­ben grundsätz­lich ei­nen ho­hen Be­weis­wert

Wenn ein Ar­beit­neh­mer auf­grund krank­heits­be­ding­te Ar­beits­unfähig­keit oh­ne Ver­schul­den ge­hin­dert ist, sei­ne Ar­beits­leis­tung zu er­brin­gen, hat er gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 Ent­gelt­fort­zah­lungs­ge­setz (EFZG) ei­nen An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung im Krank­heits­fall bis zur Dau­er von sechs Wo­chen. Der Ar­beit­ge­ber kann zwar nicht ver­lan­gen, über die Krank­heits­ur­sa­che in­for­miert zu wer­den, doch muss der Ar­beit­neh­mer nach­wei­sen, dass er auf­grund ei­ner Krank­heit ar­beits­unfähig ist. Die­sen Nach­weis hat er durch ei­ne ärzt­li­che Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung zu führen.

Liegt ei­ne sol­che Be­schei­ni­gung vor, ge­hen die Ar­beits­ge­rich­te im All­ge­mei­nen von der tatsächli­chen Ver­mu­tung aus, dass der Ar­beit­neh­mer auf­grund ei­ner Er­kran­kung nicht ar­bei­ten konn­te. Im Aus­nah­me­fall be­steht aber trotz ei­ner ärzt­li­chen Krank­schrei­bung Grund für die An­nah­me, dass ob­jek­tiv kei­ne krank­heits­be­ding­te Ar­beits­unfähig­keit vor­liegt - oder dass ei­ne sol­che so­gar be­wusst vor­getäuscht wird.

Lässt sich ein sol­cher Ver­dacht bestäti­gen, be­steht natürlich kein An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung. Darüber hin­aus ris­kiert der Ar­beit­neh­mer bei Vortäuschung der Krank­heit so­gar ei­ne außer­or­dent­li­chen Kündi­gung, da der Ar­beit­ge­ber dann ei­nen wich­ti­gen Grund für ei­ne sol­che Kündi­gung im Sin­ne von § 626 Abs. 1 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (BGB) hat.

In sol­che Fällen ver­langt die Recht­spre­chung vom Ar­beit­ge­ber, sei­ne Zwei­fel an der Rich­tig­keit der ärzt­li­chen Be­schei­ni­gung durch ob­jek­ti­ve Tat­sa­chen zu be­le­gen. Aus die­sen müssen sich „ernst­haf­te Zwei­fel“ an der Rich­tig­keit der Be­schei­ni­gung er­ge­ben. Kann der Ar­beit­ge­ber sol­che Tat­sa­chen nach­wei­sen, ist der Be­weis­wert der ärzt­li­chen Be­schei­ni­gung erschüttert.

Dann ist der Ar­beit­neh­mer vor Ge­richt so ge­stellt, als ob es die Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung nicht gäbe, d.h. er muss be­wei­sen, dass er tatsächlich krank­heits­be­dingt ar­beits­unfähig war. Da­zu muss er vor­tra­gen, an wel­chen Krank­hei­ten er ge­lit­ten ha­ben will, und er muss die­sen Vor­trag be­wei­sen, in­dem er den ihn be­han­deln­den Arzt von der Schwei­ge­pflicht ent­bin­det und als Zeu­gen be­nennt.

In der Ver­gan­gen­heit ha­ben die Ar­beits­ge­rich­te ei­ni­ge im wie­der vor­kom­men­de bzw. ty­pi­sche Si­tua­tio­nen her­aus­ge­ar­bei­tet, in de­nen der Be­weis­wert ei­ner ärzt­li­chen Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung erschüttert ist. Dies ist et­wa bei an­gekündig­tem Krank­fei­ern als Re­ak­ti­on auf ver­wei­ger­ten Ur­laub der Fall oder auch dann, wenn der krank­ge­schrie­be­ne Ar­beit­neh­mer ei­ner an­der­wei­ti­gen Er­werbstätig­keit nach­geht. Da­ge­gen sind Spa­ziergänge oder die Er­le­di­gung von Einkäufen in der Re­gel nicht ge­eig­net, Zwei­fel an der Ar­beits­unfähig­keit zu be­le­gen.

Nun­mehr hat sich das Hes­si­sche Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) zu der Fra­ge geäußert, ob der Be­weis­wert ei­ner Be­schei­ni­gung durch die Aus­sa­ge des Ar­beit­neh­mers, „top­fit“ zu sein, erschüttert wird (Ur­teil vom 08.02.2010, 16 Sa 890/09).

Der Fall: Ar­beit­neh­mer hat ei­ne Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung und ist "fit wie noch nie"

Ein seit 1985 als Kran­ken­pfle­ger in ei­nem Kran­ken­haus täti­ger Ar­beit­neh­mer zeig­te der Per­so­nal­ab­tei­lung von Mit­te Ok­to­ber bis Mit­te No­vem­ber 2008 mehr­fach hin­ter­ein­an­der sei­ne krank­heits­be­ding­te Ar­beits­unfähig­keit an, wo­bei er ärzt­li­che Be­schei­ni­gun­gen vor­leg­te. Da­bei kam es an zwei Frei­ta­gen - je­weils kurz vor Ab­lauf der be­schei­nig­ten Ar­beits­unfähig­keit - zu ei­nem Gespräch zwi­schen dem Kran­ken­pfle­ger und sei­nem Vor­ge­setz­ten. Bei ei­ner die­ser Be­spre­chun­gen soll er sich ge­genüber sei­nem Vor­ge­setz­ten wie folgt geäußert ha­ben:

„Wo denkst du hin, so­lan­ge das hier nicht vernünf­tig läuft, ho­le ich mir erst noch mal ei­nen gel­ben Schein. Bei die­sem Zu­stand hier bin ich nach zwei Ta­gen wie­der erschöpft. Mir geht es rich­tig gut, ich bin psy­chisch und phy­sisch so fit wie noch nie, aber nicht für das St. D!“

Auf­grund die­ses Vor­falls kündig­te der Ar­beit­ge­ber das Ar­beits­verhält­nis aus wich­ti­gem Grun­de frist­los. Die da­ge­gen er­ho­be­ne Kündi­gungs­schutz­kla­ge konn­te der Kran­ken­pfle­ger vor dem Ar­beits­ge­richt Ha­nau ge­win­nen (Teil­ur­teil vom 26.03.2009, 2 Ca 510/08). Da­ge­gen leg­te der Ar­beit­ge­ber Be­ru­fung ein.

Hes­si­sches Lan­des­ar­beits­ge­richt: In die­sem Fall ist die Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung wert­los

Das LAG hob das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts auf und wies die Kündi­gungs­schutz­kla­ge ab. Grund­la­ge die­ser Ent­schei­dung war die Ver­neh­mung des Vor­ge­setz­ten als Zeu­gen. Auf­grund der Zeu­gen­be­fra­gung war das LAG zu der Über­zeu­gung ge­kom­men, dass sich der Kran­ken­pfle­ger tatsächlich so wie vom Ar­beit­ge­ber be­haup­tet geäußert hat­te.

Dass der Be­weis­wert der vom Kläger vor­ge­leg­ten Be­schei­ni­gun­gen vor dem Hin­ter­grund ei­ner sol­chen Äußerung erschüttert war, setzt das LAG oh­ne wei­te­re Be­gründung zu Recht vor­aus.

Zwar kann es Fälle ge­ben, in de­nen ei­ne Ar­beits­unfähig­keit tatsächlich vor­liegt und da­her zu­recht ärzt­lich be­schei­nigt ist, der Ar­beit­neh­mer sie aber aus Selbstüberschätzung ver­kennt und da­her in Ab­re­de stellt. Hier lag der Fall aber an­ders. Denn der Kläger hat­te sich nicht nur als „top­fit“ be­zeich­net, son­dern zu­dem geäußert, dies nicht für sei­nen Ar­beit­ge­ber zu sein. Grund der Krank­mel­dun­gen wa­ren aus sei­ner Sicht ge­ge­be­ne be­trieb­li­che Missstände.

Dem­zu­fol­ge hätte der Kläger vor dem LAG im Ein­zel­nen vor­tra­gen müssen, wel­che Krank­hei­ten und wel­che Ein­schränkun­gen sei­ner Ar­beitsfähig­keit be­stan­den hat­ten. Da­zu wur­de er vom LAG zwar auf­ge­for­dert, führ­te dar­auf­hin aber nur aus, sein Arzt ha­be das Wei­ter­be­ste­hen der Ar­beits­unfähig­keit kor­rekt fest­ge­stellt und be­schei­nigt. Vor die­sem Hin­ter­grund muss­te das LAG vom Nicht­vor­lie­gen der strei­ti­gen krank­heits­be­ding­ten Ar­beits­unfähig­keit aus­ge­hen. Darüber hin­aus ging es auch vom be­wuss­ten Vortäuschen ei­ner Er­kran­kung aus.

Fa­zit: Wenn sich der Ar­beit­neh­mer ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber selbst als " top­fit“ be­zeich­net und gleich­zei­tig deut­lich macht, sei­ne (aus sei­ner Sicht be­ste­hen­de) Ar­beitsfähig­keit dem Ar­beit­ge­ber be­wusst vor­ent­hal­ten zu wol­len, ist der Be­weis­wert ei­ner ärzt­li­chen Krank­schrei­bung erschüttert. An­ders wäre es aber, wenn der Ar­beit­neh­mer auf­grund ei­ner Selbstüberschätzung Zwei­fel oder Un­glau­ben an ei­ner ärzt­li­chen Ar­beits­unfähig­keits­be­schei­ni­gung äußert, sei­ne Ar­beit aber - in Be­fol­gung des ärzt­li­chen Ra­tes - nicht auf­nimmt.

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Letzte Überarbeitung: 15. Dezember 2017

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