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BAG, Ur­teil vom 17.06.2012, 1 AZR 563/11

   
Schlagworte: Streik, Annahmeverzug
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 1 AZR 563/11
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 17.06.2012
   
Leitsätze: Beteiligt sich ein außerordentlich gekündigter Arbeitnehmer an einem Streik, steht ihm für diese Zeit auch dann kein Annahmeverzugslohn zu, wenn in einem nachfolgenden Kündigungsschutzprozess die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt wird. Wer streikt, ist nicht leistungswillig iSd. § 297 BGB.
Vorinstanzen: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 19.5.2011 - 8 Sa 155/11 63/11
Arbeitsgericht Herford, Urteil vom 15.12.2010 - 1 Ca 1113/10
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

1 AZR 563/11
8 Sa 155/11
Lan­des­ar­beits­ge­richt

Hamm

 

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am

17. Ju­li 2012

UR­TEIL

Klapp, Ur­kunds­be­am­ter

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Kläge­rin, Be­ru­fungskläge­rin und Re­vi­si­onskläge­rin,

pp.

Be­klag­te, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

hat der Ers­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 17. Ju­li 2012 durch die Präsi­den­tin des Bun­des­ar­beits­ge­richts Schmidt, die Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Linck und Prof. Dr. Koch so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Rath und Kunz für Recht er­kannt:
 


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Die Re­vi­si­on der Kläge­rin ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Hamm vom 19. Mai 2011 - 8 Sa 155/11 - wird kos­ten­pflich­tig zurück­ge­wie­sen.


Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über An­nah­me­ver­zugs­ansprüche während ei­nes Ar­beits­kamp­fes.

Die nicht ta­rif­ge­bun­de­ne Be­klag­te beschäftigt et­wa 45 Ar­beit­neh­mer. En­de März 2010 for­der­te die ta­rif­zuständi­ge In­dus­trie­ge­werk­schaft Bau­en-Agrar-Um­welt (IG BAU) sie zur Auf­nah­me von Ta­rif­ver­hand­lun­gen über den Ab­schluss ei­nes Haus­ta­rif­ver­trags auf. Am 8. April 2010 wur­de ei­ne Ta­rif­kom­mis­si­on gewählt und zeit­gleich die Durchführung ei­ner Be­triebs­rats­wahl vor­be­rei­tet. Am Fol­ge­tag kündig­te die Be­klag­te der Kläge­rin und wei­te­ren Mit­glie­dern der Ta­rif­kom­mis­si­on or­dent­lich zum 30. Ju­ni 2010 und stell­te sie von der Ar­beit frei. Am 12. April 2010 er­teil­te sie der Kläge­rin ein Haus­ver­bot.


Der Bun­des­vor­stand der IG BAU ge­neh­mig­te am 12. April 2010 die Durchführung ei­ner Ur­ab­stim­mung im Be­trieb der Be­klag­ten und die Durchführung von Ar­beits­kampf­maßnah­men. Am fol­gen­den Tag teil­te sie der Be­klag­ten mit, 95,5 % der or­ga­ni­sier­ten Beschäftig­ten hätten sich für ei­nen Streik aus­ge­spro­chen. Sie for­der­te die Be­klag­te des­halb auf, ihr bis 10:00 Uhr schrift­lich mit­zu­tei­len, dass sie Ta­rif­gespräche an­bie­te, an­sons­ten be­gin­ne um 10:01 Uhr ein un­be­fris­te­ter Streik. Nach­dem die­se die ge­setz­te Frist ver­strei­chen ließ, rief die IG Bau die Be­leg­schaft der Be­klag­ten zum Streik auf.

Mit Schrei­ben vom 22. April 2010, das der Kläge­rin am 24. April 2010 zu­ging, kündig­te die Be­klag­te der Kläge­rin so­wie wei­te­ren Ar­beit­neh­mern frist­los. Die hier­ge­gen so­wie ge­gen die zu­vor erklärte or­dent­li­che Kündi­gung ge­rich­te­ten Kündi­gungs­schutz­kla­gen hat­ten, eben­so wie die der an­de­ren
 


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gekündig­ten Beschäftig­ten Er­folg. Das Ar­beits­ge­richt stell­te durch Ur­teil vom 14. Ju­li 2010 die Un­wirk­sam­keit sämt­li­cher Kündi­gun­gen fest. Der Streik wur­de dar­auf­hin - oh­ne Ta­rif­ab­schluss - be­en­det.

Mit ih­rer Kla­ge hat die Kläge­rin An­nah­me­ver­zugs­vergütung für die Zeit vom 25. April 2010 bis zum 15. Ju­li 2010 ver­langt. Sie hat ge­meint, sie ha­be sich nach der frist­lo­sen Kündi­gung nicht mehr rechts­wirk­sam am Streik be­tei­li­gen, son­dern nur noch mit den Strei­ken­den so­li­da­risch erklären können. Sie hätte al­ler­dings auch dann ge­streikt, wenn sie nicht außer­or­dent­lich gekündigt wor­den wäre.


Die Kläge­rin hat be­an­tragt, 


die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an sie 4.320,00 Eu­ro brut­to abzüglich durch die Bun­des­agen­tur für Ar­beit ge­leis­te­ter 1.927,80 Eu­ro nebst Zin­sen in Höhe von fünf Pro­zent­punk­ten über dem Ba­sis­zins­satz seit Zu­stel­lung der Kla­ge zu zah­len.

Die Be­klag­te hat Kla­ge­ab­wei­sung be­an­tragt. 


Die Vor­in­stan­zen ha­ben die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Mit der Re­vi­si­on ver­folgt die Kläge­rin ih­ren Zah­lungs­an­trag wei­ter.

Ent­schei­dungs­gründe

Die Re­vi­si­on ist un­be­gründet. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Be­ru­fung der Kläge­rin zu Recht zurück­ge­wie­sen.

I. Die Kläge­rin hat nach § 615 Satz 1 iVm. § 611 Abs. 1 BGB kei­nen An­spruch ge­gen die Be­klag­te auf Vergütung we­gen An­nah­me­ver­zugs.



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1. Auf­grund der rechts­kräftig fest­ge­stell­ten Un­wirk­sam­keit der ge­genüber der Kläge­rin erklärten Kündi­gun­gen steht fest, dass zwi­schen den Par­tei­en im streit­ge­genständ­li­chen Zeit­raum vom 24. April 2010 bis zum 15. Ju­li 2010 ein Ar­beits­verhält­nis be­stand.


2. Die Be­klag­te kam durch den Aus­spruch der un­wirk­sa­men außer­or­dent­li­chen Kündi­gung vom 22. April 2010 an sich in An­nah­me­ver­zug. Da in der Kündi­gung zu­gleich die Erklärung der Be­klag­ten lag, sie wer­de die Leis­tung nicht an­neh­men, be­durf­te es kei­nes An­ge­bots der Kläge­rin, §§ 295, 296 Satz 1 BGB (st. Rspr., zu­letzt BAG 16. Mai 2012 - 5 AZR 251/11 - Rn. 12, NZA 2012, 971).


3. Dem An­spruch auf Ver­zugs­lohn nach § 615 Satz 1 iVm. § 611 BGB steht je­doch ent­ge­gen, dass die Kläge­rin in der Zeit, für die sie An­nah­me­ver­zugs­vergütung ver­langt, nicht leis­tungs­wil­lig iSd. § 297 BGB war.

a) Nach die­ser Be­stim­mung kommt der Ar­beit­ge­ber nicht in An­nah­me­ver­zug, wenn der Ar­beit­neh­mer außer­stan­de ist, die Ar­beits­leis­tung zu be­wir­ken. Ne­ben der (tatsächli­chen oder recht­li­chen) Leis­tungsfähig­keit um­fasst § 297 BGB auch die nicht aus­drück­lich ge­nann­te Leis­tungs­wil­lig­keit. Dies folgt schon dar­aus, dass ein leis­tungs­un­wil­li­ger Ar­beit­neh­mer sich selbst außer­stan­de setzt, die Ar­beits­leis­tung zu be­wir­ken. Die ob­jek­ti­ve Leis­tungsfähig­keit und der sub­jek­ti­ve Leis­tungs­wil­le sind von dem Leis­tungs­an­ge­bot und des­sen Ent­behr­lich­keit un­abhängi­ge Vor­aus­set­zun­gen, die während des ge­sam­ten Ver­zugs­zeit­raums vor­lie­gen müssen (BAG 22. Fe­bru­ar 2012 - 5 AZR 249/11 - Rn. 16, NZA 2012, 858).

b) Da­nach war die Kläge­rin im streit­ge­genständ­li­chen Zeit­raum nicht leis­tungs­wil­lig. Nach den Fest­stel­lun­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts (§ 559 Abs. 2 ZPO) hat sie sich in der Zeit vom 24. April 2010 bis zum 15. Ju­li 2010 an dem von der IG BAU geführ­ten Streik be­tei­ligt, in­dem sie sich ua. mit ei­ner Streik­wes­te als Streik­pos­ten vor dem Be­trieb der Be­klag­ten auf­ge­stellt hat. Sie hat sich zu­dem durch die Veröffent­li­chung von Tex­ten und Re­de­beiträgen im un­mit­tel­ba­ren Zu­sam­men­hang mit dem Streik betätigt und hier­durch ih­re
 


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feh­len­de Ar­beits­be­reit­schaft un­miss­verständ­lich zum Aus­druck ge­bracht. Denn Streik ist de­fi­ni­ti­ons­gemäß die kol­lek­ti­ve Vor­ent­hal­tung der ge­schul­de­ten Ar­beits­leis­tung, um durch die dar­aus re­sul­tie­ren­den wirt­schaft­lich schädli­chen Fol­gen Druck auf die Ar­beit­ge­ber­sei­te da­hin aus­zuüben, in ei­ne gewünsch­te ta­rif­ver­trag­li­che Re­ge­lung ein­zu­wil­li­gen (BAG 26. Ju­li 2005 - 1 AZR 133/04 - zu II 2 b bb der Gründe, BA­GE 115, 247). Wer streikt, ist des­halb nicht leis­tungs­wil­lig iSd. § 297 BGB.


4. So­weit die Kläge­rin die Auf­fas­sung ver­tre­ten hat, sie sei nach Aus­spruch der außer­or­dent­li­chen Kündi­gung durch die Be­klag­te nicht mehr de­ren Ar­beit­neh­me­rin ge­we­sen und ha­be des­halb nicht im Rechts­sin­ne strei­ken können, ver­kennt sie die Fol­gen des aus ih­rer Sicht er­folg­rei­chen Kündi­gungs­schutz­pro­zes­ses. Das Ar­beits­verhält­nis hat nach der dort ge­trof­fe­nen Fest­stel­lung des Ar­beits­ge­richts durch die je­wei­li­gen Kündi­gun­gen nicht ge­en­det, son­dern im streit­ge­genständ­li­chen Zeit­raum fort­be­stan­den. Hätte da­ge­gen - wie die Kläge­rin meint - in der Zeit vom 24. April 2010 bis zum 15. Ju­li 2010 kein Ar­beits­verhält­nis be­stan­den, stünde ihr oh­ne­hin kein An­spruch auf Ver­zugs­lohn zu, da § 615 BGB nur den ver­trag­li­chen Vergütungs­an­spruch auf­recht­erhält (BAG 19. März 2008 - 5 AZR 429/07 - Rn. 13, BA­GE 126, 198). Über­dies hat ein der Kündi­gungs­schutz­kla­ge statt­ge­ben­des Ur­teil le­dig­lich fest­stel­len­de und nicht rechts­ge­stal­ten­de Wir­kung (KR/Fried­rich 9. Aufl. § 4 KSchG Rn. 17 mwN); es wird al­so hier­durch nicht rück­wir­kend für die Zeit nach dem Kündi­gungs­ter­min bis zur Rechts­kraft des Ur­teils im Kündi­gungs­schutz­pro­zess ein Ar­beits­verhält­nis ge­schaf­fen, son­dern nur des­sen Fort­be­ste­hen fest­ge­stellt.


5. Aus der von der Kläge­rin zur Be­gründung ih­rer Rechts­auf­fas­sung an­geführ­ten Se­nats­ent­schei­dung vom 26. Ju­li 2005 (- 1 AZR 133/04 - BA­GE 115, 247) folgt kein an­de­res Er­geb­nis. In je­nem Fall hat­te sich ein Ar­beit­neh­mer, be­vor er an ei­ner Streik­kund­ge­bung teil­nahm, in zulässi­ger Wei­se aus dem be­trieb­li­chen Zeit­er­fas­sungs­sys­tem ab­ge­mel­det. Dies führ­te da­zu, dass für die­se Zeit­dau­er dem Ar­beits­zeit­kon­to auch kei­ne Zeit­gut­schrift zu­geführt wur­de. Der Ar­beit­neh­mer be­fand sich da­her während der Teil­nah­me an der Streik­kund­ge­bung in Frei­zeit und konn­te des­halb durch die Streik­teil-
 


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nah­me kei­ne Ar­beits­pflich­ten auf­he­ben. Hier hat sich die Kläge­rin nicht in ih­rer Frei­zeit an ei­nem Streik be­tei­ligt, son­dern zu ei­ner Zeit, während de­rer sie nach ob­jek­ti­ver Rechts­la­ge zur Er­brin­gung ei­ner Ar­beits­leis­tung ver­pflich­tet ge­we­sen wäre.


II. Die Ver­sa­gung der An­nah­me­ver­zugs­vergütung be­geg­net kei­nen ar­beits­kampf­recht­li­chen Be­den­ken.

1. Die Ko­ali­ti­ons­betäti­gungs­frei­heit (Art. 9 Abs. 3 GG) des ein­zel­nen Ar­beit­neh­mers wird hier­durch nicht ver­letzt. Die­ser kann durch tatsächlich ge­zeig­te oder doch we­nigs­tens erklärte So­li­da­rität den Druck ei­nes Streiks verstärken, in­dem er die­sem hier­durch öffent­li­che Auf­merk­sam­keit ver­leiht (vgl. BAG 15. Ja­nu­ar 1991 - 1 AZR 178/90 - zu II 7 der Gründe, BA­GE 67, 50).


2. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Kläge­rin wird die Kampf­pa­rität nicht da­durch be­ein­träch­tigt, dass ein außer­or­dent­lich gekündig­ter und da­mit nicht beschäftig­ter Ar­beit­neh­mer kei­nen sat­zungs­recht­li­chen An­spruch ge­genüber der kampfführen­den Ge­werk­schaft auf Streik­bei­hil­fe hat, son­dern nur ei­ne ge­rin­ge­re und zu­dem zurück­zu­zah­len­de So­li­da­ritätsun­terstützung ver­lan­gen kann. Hier­bei han­delt es sich um ei­ne ge­werk­schafts­in­ter­ne Re­ge­lung, die für die Be­ur­tei­lung der Kampf­pa­rität un­er­heb­lich ist.


3. Sch­ließlich führ­te es zu Wer­tungs­wi­dersprüchen, wenn der un­wirk­sam gekündig­te Ar­beit­neh­mer während der ak­ti­ven Streik­teil­nah­me An­nah­me­ver­zugs­vergütung ver­lan­gen könn­te, während sei­ne nicht gekündig­ten, strei­ken­den Kol­le­gen kei­nen Ent­gelt­an­spruch ha­ben (da­zu BAG 26. Ju­li 2005 - 1 AZR 133/04 - Rn. 13, BA­GE 115, 247). Bei­de Per­so­nen­grup­pen be­fin­den sich in der glei­chen Si­tua­ti­on, da sie nach ob­jek­ti­ver Rechts­la­ge in ei­nem fort­be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis an ei­nem Ar­beits­kampf teil­neh­men. Da der un­gekündig­te Ar­beit­neh­mer durch die Teil­nah­me an ei­nem Streik die ge­gen­sei­ti­gen Haupt­pflich­ten auf­hebt und des­halb für die Zeit der Streik­teil­nah­me sei­nen Vergü-
 


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tungs­an­spruch ver­liert, kann für den un­wirk­sam gekündig­ten nichts an­de­res gel­ten.

Schmidt 

Koch 

Linck

Rath 

Olaf Kunz

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