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BAG, Be­schluss vom 13.03.2012, 1 ABR 78/10

   
Schlagworte: Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten, Betriebsvereinbarung, Betriebliches Eingliederungsmanagement
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 1 ABR 78/10
Typ: Beschluss
Entscheidungsdatum: 13.03.2012
   
Leitsätze: Für die Einleitung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements gibt § 84 Abs. 3 Satz 1 SGB IX den Begriff der Arbeitsunfähigkeit zwingend vor. Dieser ist einer Ausgestaltung durch die Betriebsparteien nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht zugänglich.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Berlin, Beschluss vom 15.04.2010, 42 BV 17459/09
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.09.2010, 25 TaBV 1155/10
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

1 ABR 78/10
25 TaBV 1155/10

Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ber­lin-Bran­den­burg

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am

13. März 2012

BESCHLUSS

Met­ze, Ur­kunds­be­am­ter

der Geschäfts­stel­le

In dem Be­schluss­ver­fah­ren mit den Be­tei­lig­ten

An­trag­stel­ler, Be­schwer­deführer und Rechts­be­schwer­deführer,

Ar­beit­ge­be­rin,

hat der Ers­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der Be­ra­tung vom 13. März 2012 durch die Präsi­den­tin des Bun­des­ar­beits­ge­richts Schmidt, die Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Linck und Prof. Dr. Koch so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Dr. Klos­terk­em­per und Schus­ter für Recht er­kannt:



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1. Auf die Rechts­be­schwer­de des Be­triebs­rats wird der Be­schluss des Lan­des­ar­beits­ge­richts Ber­lin-Bran­den­burg vom 23. Sep­tem­ber 2010 - 25 TaBV 1155/10 - auf­ge­ho­ben.


2. Auf die Be­schwer­de des Be­triebs­rats wird der Be­schluss des Ar­beits­ge­richts Ber­lin vom 15. April 2010 - 42 BV 17459/09 - ab­geändert.

Es wird fest­ge­stellt, dass der Spruch der Ei­ni­gungs-stel­le vom 20. Au­gust 2009 über die Be­triebs­ver­ein­ba­rung Be­trieb­li­ches Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment un­wirk­sam ist.

Von Rechts we­gen!

Gründe

A. Die Be­tei­lig­ten strei­ten über die Wirk­sam­keit ei­nes Ei­ni­gungs­stel­len­spruchs zum be­trieb­li­chen Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment (bEM).

Die Ar­beit­ge­be­rin führt bun­des­weit Geld- und Wert­trans­por­te durch. An­trag­stel­ler ist der im B Be­trieb ge­bil­de­te Be­triebs­rat.

Nach­dem sich die Be­triebs­par­tei­en nicht über ei­ne Be­triebs­ver­ein­ba­rung zum Re­ge­lungs­ge­gen­stand „Be­trieb­li­ches Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment“ ei­ni­gen konn­ten, fass­te die Ei­ni­gungs­stel­le am 20. Au­gust 2009 ei­nen Spruch, in dem Fol­gen­des be­stimmt ist:
„...


§ 2 Zie­le und Ab­gren­zung des be­trieb­li­chen Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ments (BEM)


(1) Mit dem be­trieb­li­chen Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment wird das Ziel ver­folgt, dass


• chro­ni­sche Krank­hei­ten und Be­hin­de­run­gen bei Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mern möglichst ver­mie­den wer­den;
Ar­beits­unfähig­keit, auch gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 der Richt­li­ni­en des Ge­mein­sa­men
 


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Bun­des­aus­schus­ses über die Be­ur­tei­lung der Ar­beits­unfähig­keit und die Maßnah­men zur stu­fen­wei­sen Wie­der­ein­glie­de­rung (Ar­beits­unfähig­keits-Richt­li­ni­en) nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V, über­wun­den bzw. er­neu­ter Ar­beits­unfähig­keit vor­ge­beugt wird;


• der Ar­beits­platz der Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer, die von ge­sund­heit­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen be­trof­fen sind, möglichst er­hal­ten bleibt und ver­hin­dert wird, dass sie aus dem Er­werbs­le­ben aus­schei­den.


...


§ 3 In­for­ma­ti­on der Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer

(1) Ist ei­ne Ar­beit­neh­me­rin oder ein Ar­beit­neh­mer in­ner­halb ei­nes Zeit­raums von 12 Mo­na­ten länger als 6 Wo­chen ar­beits­unfähig, so erhält die­se Per­son zeit­nah durch den Ar­beit­ge­ber zunächst ei­ne ers­te In­for­ma­ti­on über das BEM so­wie über Art und Um­fang der er­ho­be­nen Da­ten. Da­bei ist das in der An­la­ge 1 zu die­ser Be­triebs­ver­ein­ba­rung ge­re­gel­te Schrei­ben zu ver­wen­den und ei­ne Ko­pie die­ser Be­triebs­ver­ein­ba­rung bei­zufügen.

(2) Da­zu wer­tet der Ar­beit­ge­ber je­weils zum ers­ten 15. ei­nes Vier­tel­jah­res rou­ti­nemäßig die ihm be­kann­ten Da­ten zu den Ar­beits­unfähig­keits­zei­ten pro Mit­ar­bei­ter aus.

...“


Der Be­triebs­rat hat­te in der Ei­ni­gungs­stel­le vor­ge­schla­gen, ein Ver­fah­ren zur Ana­ly­se der Ar­beitsfähig­keit durch ein „Ar­beitsfähig­keits-Coa­ching“ zu re­geln. Da­nach soll­ten al­le Ar­beit­neh­mer zwei­mal jähr­lich ei­nen „Check-up“ von ca. 60 Mi­nu­ten Dau­er durch­lau­fen und nach dem sog. Work-Abili­ty-In­dex (WAI) klas­si­fi­ziert wer­den. Bei ei­nem WAI-Wert von 7 bis 27 Punk­ten wäre die Ar­beitsfähig­keit mit „schlecht“, von 28 bis 36 Punk­ten mit „mit­telmäßig“, von 37 bis 43 Punk­ten mit „gut“ und von 44 bis 49 Punk­ten mit „sehr gut“ ein­zu­stu­fen ge­we­sen. Nach dem Vor­schlag des Be­triebs­rats soll­ten al­le Beschäftig­ten mit ei­nem WAI-Wert zwi­schen 7 und 36 ei­nen An­spruch auf ein bEM ha­ben. Der Vor­schlag des Be­triebs­rats fand in der Ei­ni­gungs­stel­le kei­ne Mehr­heit. Der Ei­ni­gungs­stel­len­vor­sit­zen­de über­sand­te den von ihm un­ter­zeich­ne­ten Spruch
 


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nebst Be­gründung dem Be­triebs­rat als pdf-Da­tei in der An­la­ge der E-Mail vom 13. Sep­tem­ber 2009.

Mit ei­nem am 25. Sep­tem­ber 2009 beim Ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­ge­nen Schrift­satz hat der Be­triebs­rat die Fest­stel­lung der Un­wirk­sam­keit des Ei­ni­gungs­stel­len­spruchs be­gehrt. Er hat gel­tend ge­macht, die Ei­ni­gungs­stel­le ha­be ihr Er­mes­sen feh­ler­haft aus­geübt, weil sie es versäumt ha­be, den Be­griff der Ar­beits­unfähig­keit zu kon­kre­ti­sie­ren. Der Spruch genüge auch nicht dem Schrift­for­mer­for­der­nis des § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG.

Der Be­triebs­rat hat be­an­tragt 


fest­zu­stel­len, dass der Spruch der Ei­ni­gungs­stel­le vom 20. Au­gust 2009 über ei­ne Be­triebs­ver­ein­ba­rungBe­trieb­li­ches Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment“ un­wirk­sam ist.

Die Ar­beit­ge­be­rin hat An­trags­ab­wei­sung be­an­tragt. 


Die Vor­in­stan­zen ha­ben den An­trag ab­ge­wie­sen. Mit der Rechts­be­schwer­de ver­folgt der Be­triebs­rat sei­nen An­trag wei­ter.

B. Die Rechts­be­schwer­de ist be­gründet. Die Vor­in­stan­zen ha­ben den An­trag zu Un­recht ab­ge­wie­sen. Der Spruch ist al­ler­dings nicht be­reits des­halb un­wirk­sam, weil die Ei­ni­gungs­stel­le da­von ab­ge­se­hen hat, den Be­griff der Ar­beits­unfähig­keit näher zu be­stim­men. Zur Un­wirk­sam­keit des Spruchs führt je­doch, dass der Ei­ni­gungs­stel­len­vor­sit­zen­de dem Be­triebs­rat nicht den vom ihm ei­genhändig un­ter­schrie­be­nen Spruch im Ori­gi­nal zu­ge­lei­tet hat, son­dern nur als pdf-Da­tei in der An­la­ge zu ei­ner E-Mail.

I. Der An­trag ist zulässig. Er ist zu­tref­fend auf die Fest­stel­lung der Un­wirk­sam­keit des Ei­ni­gungs­stel­len­spruchs ge­rich­tet. Ei­ne ge­richt­li­che Ent­schei­dung über die Wirk­sam­keit des Spruchs ei­ner Ei­ni­gungs­stel­le hat fest­stel­len­de und nicht rechts­ge­stal­ten­de Wir­kung. Des­halb ist die Fest­stel­lung sei­ner Un­wirk­sam­keit und nicht sei­ne Auf­he­bung zu be­an­tra­gen (BAG 11. Ja­nu­ar 2011 - 1 ABR 104/09 - Rn. 12 mwN, AP Be­trVG 1972 § 87 Ge­sund­heits­schutz Nr. 17 = EzA Be­trVG 2001 § 87 Ge­sund­heits­schutz Nr. 5).
 


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II. Die Ei­ni­gungs­stel­le hat zu Recht den in § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ent­hal­te­nen Be­griff der Ar­beits­unfähig­keit nicht nach dem sog. Work-Abili­ty-In­dex kon­kre­ti­siert.


1. Bei der Aus­ge­stal­tung des bEM ist für je­de ein­zel­ne Re­ge­lung zu prüfen, ob ein Mit­be­stim­mungs­recht be­steht. Ein sol­ches kann sich bei all­ge­mei­nen Ver­fah­rens­fra­gen aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 Be­trVG, in Be­zug auf die Nut­zung und Ver­ar­bei­tung von Ge­sund­heits­da­ten aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 Be­trVG und hin­sicht­lich der Aus­ge­stal­tung des Ge­sund­heits­schut­zes aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 Be­trVG er­ge­ben, denn § 84 Abs. 2 SGB IX ist ei­ne Rah­men­vor­schrift iSd. Be­stim­mung (Fit­ting Be­trVG 26. Aufl. § 87 Rn. 310a; Ri­char­di Be­trVG 13. Aufl. § 87 Rn. 546). Das Mit­be­stim­mungs­recht des Be­triebs­rats setzt ein, wenn für den Ar­beit­ge­ber ei­ne ge­setz­li­che Hand­lungs­pflicht be­steht und we­gen des Feh­lens zwin­gen­der Vor­ga­ben be­trieb­li­che Re­ge­lun­gen er­for­der­lich sind, um das vom Ge­setz vor­ge­ge­be­ne Ziel des Ar­beits- und Ge­sund­heits­schut­zes zu er­rei­chen (BAG 8. Ju­ni 2004 - 1 ABR 13/03 - zu B I 2 b aa der Gründe, BA­GE 111, 36).


2. Der in § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ent­hal­te­ne Be­griff der Ar­beits­unfähig­keit ist ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Rechts­be­schwer­de ei­ner Aus­ge­stal­tung durch die Be­triebs­par­tei­en nicht zugäng­lich, son­dern zwin­gend ge­setz­lich vor­ge­ge­ben.

a) Nach § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX führt der Ar­beit­ge­ber zu­sam­men mit den zuständi­gen In­ter­es­sen­ver­tre­tun­gen und mit Zu­stim­mung und Be­tei­li­gung des Ar­beit­neh­mers ein bEM durch, wenn „Beschäftig­te in­ner­halb ei­nes Jah­res länger als sechs Wo­chen un­un­ter­bro­chen oder wie­der­holt ar­beits­unfähig sind“. Zweck der Re­ge­lung ist nach der Ge­set­zes­be­gründung, durch die ge­mein­sa­me An­stren­gung al­ler in § 84 Abs. 2 SGB IX ge­nann­ten Be­tei­lig­ten mit dem bEM ein Ver­fah­ren zu schaf­fen, das durch ge­eig­ne­te Ge­sund­heits­präven­ti­on das Ar­beits­verhält­nis möglichst dau­er­haft si­chert, weil vie­le Abgänge in die Ar­beits­lo­sig­keit aus Krank­heits­gründen er­fol­gen und ar­beits­platz­si­chern­de Hil­fen der In­te­gra­ti­onsämter vor der Be­an­tra­gung ei­ner Zu­stim­mung zur Kündi­gung kaum in An­spruch ge­nom­men wer­den (BT-Drucks. 15/1783 S. 16). Die in § 84 Abs. 2

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SGB IX ge­nann­ten Maßnah­men die­nen da­mit ne­ben der Ge­sund­heits­präven­ti­on auch der Ver­mei­dung ei­ner Kündi­gung und der Ver­hin­de­rung von Ar­beits­lo­sig­keit er­krank­ter und kran­ker Men­schen (BAG 30. Sep­tem­ber 2010 - 2 AZR 88/09 - Rn. 32, AP KSchG 1969 § 1 Krank­heit Nr. 49 = EzA SGB IX § 84 Nr. 7). Da im Fal­le ei­ner ne­ga­ti­ven Ge­sund­heits­pro­gno­se ei­ne krank­heits­be­ding­te Kündi­gung bei zu er­war­ten­den Ent­gelt­fort­zah­lungs­kos­ten für ei­nen Zeit­raum von mehr als sechs Wo­chen im Jahr vor­be­halt­lich ei­ner ein­zel­fall­be­zo­ge­nen In­ter­es­sen­abwägung in Be­tracht kommt (BAG 10. De­zem­ber 2009 - 2 AZR 400/08 - AP KSchG 1969 § 1 Krank­heit Nr. 48 = EzA KSchG § 1 Krank­heit Nr. 56; grund­le­gend 16. Fe­bru­ar 1989 - 2 AZR 299/88 - BA­GE 61, 131), wird deut­lich, dass der Ge­setz­ge­ber mit der Ver­wen­dung des Be­griffs „ar­beits­unfähig“ in § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX auf die zu § 3 Abs. 1 EFZG er­gan­ge­ne Be­griffs­be­stim­mung Be­zug ge­nom­men hat und kei­nen vom Ent­gelt­fort­zah­lungs­ge­setz ab­wei­chen­den ei­ge­nen Be­griff mit an­de­ren Merk­ma­len schaf­fen woll­te (im Er­geb­nis eben­so Welti NZS 2006, 623, 625; FKS - SGB IX - Fel­des 2. Aufl. § 84 Rn. 38). Für die Be­mes­sung des Sechs­wo­chen­zeit­raums des § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX sind des­halb die dem Ar­beit­ge­ber vom Ar­beit­neh­mer nach § 5 Abs. 1 EFZG an­ge­zeig­ten Ar­beits­unfähig­keits­zei­ten maßgeb­lich. Dies gewähr­leis­tet auch ei­ne prak­ti­ka­ble und si­che­re An­wen­dung die­ser Vor­schrift. Ein der Mit­be­stim­mung des Be­triebs­rats nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 Be­trVG zugäng­li­cher Spiel­raum bei der Kon­kre­ti­sie­rung des Be­griffs der Ar­beits­unfähig­keit be­steht nicht.


b) Nach die­sen Grundsätzen ist der Ei­ni­gungs­stel­len­spruch nicht zu be­an­stan­den, so­weit dar­in zur Ein­lei­tung des bEM auf die dem Ar­beit­ge­ber be­kann­ten Ar­beits­unfähig­keits­zei­ten ab­ge­stellt wird. Sol­che lie­gen vor, wenn der Ar­beit­neh­mer sei­ne ver­trag­lich ge­schul­de­te Tätig­keit in­fol­ge der Krank­heit ob­jek­tiv nicht ausüben kann oder wenn er die Ar­beit ob­jek­tiv nur un­ter der Ge­fahr fort­set­zen könn­te, in ab­seh­bar na­her Zeit sei­nen Zu­stand zu ver­schlim­mern (BAG 7. Au­gust 1991 - 5 AZR 410/90 - zu I der Gründe, BA­GE 68, 196; Münch­KommBGB/Müller-Glöge Bd. 4 5. Aufl. § 3 EFZG Rn. 6). Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Rechts­be­schwer­de un­ter­schei­det sich die­se Be­griffs­be­stim-

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mung nicht von der De­fi­ni­ti­on in den nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V er­las­se­nen Ar­beits­unfähig­keits-Richt­li­ni­en.

III. Der Ei­ni­gungs­stel­len­spruch ist je­doch un­wirk­sam, weil er nicht den for­ma­len An­for­de­run­gen des § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG ent­spricht. Er ist dem Be­triebs­rat nicht mit ei­ner Ori­gi­nal­un­ter­schrift des Ei­ni­gungs­stel­len­vor­sit­zen­den zu­ge­lei­tet wor­den. Die Zu­lei­tung ei­nes Ei­ni­gungs­stel­len­spruchs als bloße Text­da­tei genügt nicht den ge­setz­li­chen An­for­de­run­gen.

1. Nach § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG sind die Be­schlüsse der Ei­ni­gungs­stel­le schrift­lich nie­der­zu­le­gen, vom Vor­sit­zen­den zu un­ter­schrei­ben und Ar­beit­ge­ber und Be­triebs­rat zu­zu­lei­ten.


a) Nach der Se­nats­recht­spre­chung enthält § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG ei­ne ver­bind­li­che Hand­lungs­an­lei­tung für den Vor­sit­zen­den der Ei­ni­gungs­stel­le. Be­reits der Wort­laut die­ser Be­stim­mung macht deut­lich, dass ein Ei­ni­gungs­stel­len­spruch nur wirk­sam ist, wenn er schrift­lich nie­der­ge­legt und mit der Un­ter­schrift des Vor­sit­zen­den ver­se­hen bei­den Be­triebs­par­tei­en zu­ge­lei­tet wird. Das For­mer­for­der­nis des § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG dient in ers­ter Li­nie der Rechts­si­cher­heit. Die Un­ter­schrift des Vor­sit­zen­den be­ur­kun­det und do­ku­men­tiert den Wil­len der Ei­ni­gungs­stel­len­mit­glie­der. Für die Be­triebs­par­tei­en und für die im Be­trieb beschäftig­ten Ar­beit­neh­mer wird da­mit rechts­si­cher bestätigt, dass das vom Vor­sit­zen­den un­ter­zeich­ne­te Schriftstück das von der Ei­ni­gungs­stel­le be­schlos­se­ne Re­gel­werk enthält. Die Be­ur­kun­dung und Do­ku­men­ta­ti­on ist er­for­der­lich, weil der Ei­ni­gungs­stel­len­spruch die feh­len­de Ei­ni­gung zwi­schen Ar­beit­ge­ber und Be­triebs­rat er­setzt und ihm erst dann die glei­che nor­ma­ti­ve Wir­kung (§ 77 Abs. 4 Satz 1 Be­trVG) zu­kommt wie ei­ner von den Be­triebs­par­tei­en ge­schlos­se­nen Be­triebs­ver­ein­ba­rung (BAG 5. Ok­to­ber 2010 - 1 ABR 31/09 - Rn. 16 f., EzA Be­trVG 2001 § 76 Nr. 2; 14. Sep­tem­ber 2010 - 1 ABR 30/09 - Rn. 17 f., AP Be­trVG 1972 § 76 Nr. 61 = EzA Be­trVG 2001 § 76 Nr. 1). Die Un­ter­zeich­nung des Ei­ni­gungs­stel­len­spruchs durch den Vor­sit­zen­den kann nach dem Rechts­ge­dan­ken des § 126 Abs. 3 BGB nicht durch die elek­tro­ni­sche Form (§ 126a BGB) und auch nicht durch die Text­form (§ 126b BGB) er­setzt wer­den. § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG ist ei­ne auf dem Norm­cha­rak­ter des Ei­ni-
 


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gungs­stel­len­spruchs be­ru­hen­de Son­der­re­ge­lung (BAG 5. Ok­to­ber 2010 - 1 ABR 31/09 - Rn. 18, aaO).

b) Die Ein­hal­tung der ge­setz­li­chen Schrift­form ist Wirk­sam­keits­vor­aus­set­zung ei­nes Ei­ni­gungs­stel­len­spruchs. Den Be­triebs­par­tei­en muss ein vom Vor­sit­zen­den un­ter­zeich­ne­tes Schriftstück, das den Spruch enthält, zu­ge­lei­tet wer­den. Fehlt es hier­an, ist der von der Ei­ni­gungs­stel­le zu­vor be­schlos­se­ne Spruch wir­kungs­los. Maßgeb­lich für die Be­ur­tei­lung der Form­wirk­sam­keit ist der Zeit­punkt, in dem der Ei­ni­gungs­stel­len­vor­sit­zen­de den Be­triebs­par­tei­en den Spruch mit der Ab­sicht der Zu­lei­tung iSd. § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG über­mit­telt hat. Ei­ne nachträgli­che, rück­wir­ken­de Hei­lung der Ver­let­zung der in § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG be­stimm­ten Form­vor­schrif­ten ist nicht möglich (BAG 5. Ok­to­ber 2010 - 1 ABR 31/09 - Rn. 19 f., EzA Be­trVG 2001 § 76 Nr. 2).

2. Der Ei­ni­gungs­stel­len­spruch vom 20. Au­gust 2009 genügt die­sen An­for­de­run­gen nicht und ist des­halb un­wirk­sam. Er ist dem Be­triebs­rat nicht mit Ori­gi­nal­un­ter­schrift des Ei­ni­gungs­stel­len­vor­sit­zen­den zu­ge­lei­tet wor­den, son­dern in Form ei­ner pdf-Da­tei in der An­la­ge zu ei­ner E-Mail. Un­er­heb­lich ist, dass sich die Un­ter­schrift des Ei­ni­gungs­stel­len­vor­sit­zen­den in der zu­ge­lei­te­ten pdf-Da­tei in ein­ge­scann­ter Form be­fin­det. Dies wahrt eben­so we­nig die ge­setz­li­che Form wie selbst ei­ne elek­tro­ni­sche Form iSd. § 126a BGB mit elek­tro­ni­scher Si­gna­tur dem Er­for­der­nis des § 76 Abs. 3 Satz 4 Be­trVG nicht genügen würde.

Schmidt 

Koch 

Linck

Klos­terk­em­per 

N. Schus­ter

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