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LAG Berlin, Urteil vom 28.03.2006, 7 Sa 1884/05
Schlagworte: | Kündigung: Fristlos, Whistleblowing, Anzeige gegen Arbeitgeber | |
Gericht: | Landesarbeitsgericht Berlin | |
Aktenzeichen: | 7 Sa 1884/05 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 28.03.2006 | |
Leitsätze: | ||
Vorinstanzen: | Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 3.08.2005, 39 Ca 4775/05 Nachgehend BAG, Beschluss vom 06.06.2007, 4 AZN 487/06 Nachgehend EGMR, Urteil vom 21.07.2011, 28274/08 |
|
Landesarbeitsgericht
Berlin
Verkündet
am 28.03.2006
GeschZ. (bitte immer angeben)
7 Sa 1884/05
39 Ca 4775/05
H., VA
als Urkundsbeamter/-in
der Geschäftsstelle
Im Namen des Volkes
Urteil
In Sachen
pp
hat das Landesarbeitsgericht Berlin, 7. Kammer,
auf die mündliche Verhandlung vom 28.03.2006
durch die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht R. als Vorsitzende
sowie die ehrenamtlichen Richter S. und W.
für Recht erkannt:
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. August 2005 - 39 Ca 4775/05 - abgeändert, und die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
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Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfsweise fristgerechten Kündigung vom 09. Februar 2005, die die Beklagte gegenüber der damals 43 Jahre alten, seit dem 22. August 2000 als Altenpflegerin beschäftigten und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichteten Klägerin u.a. wegen des Erstattens einer Strafanzeige gegen die Geschäftsleitung der Beklagten und der Verteilung eines Flugblatts ausgesprochen hat.
Die Klägerin ist seit 2002 im Wohnpflegeheim T.straße beschäftigt. In diesem Pflegeheim werden auf 6 Etagen etwa 160 Bewohner der Pflegestufe 1-3 betreut. Seit Anfang 2003 gab die Klägerin – ebenso wie andere Mitarbeiter des Pflegewohnheims - diverse z.T. formularmäßige Überlastungsanzeigen ab, die sie damit begründete, wegen des Personalmangels könne die Pflege nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden (Ablichtungen Bl. 459 ff. d.A.). Ob die Beschwerden zu Recht erhoben werden, ist zwischen den Parteien streitig. Im November 2003 drohte der Medizinische Dienst der Krankenkassen der Beklagten mit der Kündigung des Versorgungsvertrages wegen Pflegemängel, die bei Untersuchungen am 8. und 9. Juli 2003 festgestellt worden waren. Am 18. November 2004 führte der Medizinische Dienst der Krankenkasse eine unangemeldete Qualitätsprüfung durch, bei der auch die Personalstärke anhand der Dienstpläne September bis November 2004 geprüft wurde. Ob die zusammenfassende Äußerung zum Personalbestand ergab, dass die Personalsituation zwar angespannt, jedoch nicht zu bemängeln sei – so die Beklagte – ist zwischen den Parteien streitig.
Mit Schreiben vom 09. November 2004 (Bl.31.-33 d.A.) wandte sich der frühere Prozessbevollmächtigte der Klägerin an die Beklagte und verwies darauf, dass wegen des Personalmangels eine ausreichende hygienische Grundversorgung der Heimbewohner, eine ausreichende Dokumentation und die medizinische Versorgung nicht sichergestellt seien. Er forderte die Beklagte in diesem Schreiben auf, „darzulegen, wie strafrechtliche Folgen für alle Beteiligten vermieden werden könnten, also eine ausreichende Versorgung der
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Heimbewohner sichergestellt werden könne“. Nur auf diesem Wege sei eine „arbeitsgerichtliche Auseinandersetzung, die Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens, welches notwendige Folge der zur Entlastung seiner Mandantin unumgänglichen Selbstanzeige wäre oder gar eine sicher nicht genehme öffentliche Diskussion“ zu vermeiden. Zugleich wurde der Beklagten für eine Zusage, dem Personalmangel umgehend Abhilfe zu schaffen, eine Frist bis zum 22. November 2004 gesetzt.
Die Beklagte wies die Vorwürfe mit einem Schreiben ihres Personalreferenten vom 22. November 2004 (Bl. 365) zurück. Daraufhin wandte sich die Klägerin mit einem weiteren Schreiben ihres früheren Prozessbevollmächtigten vom 10. Dezember 2004 (Bl.37 u. 38 d.A.) an den Aufsichtsrat der Beklagten. Eine ausreichende pflegerische und hygienische Versorgung der Bewohner sei aufgrund des bestehenden Personalmangels nicht gewährleistet, dadurch entstünden Gefahren für Leben und Gesundheit der Bewohner, sie würden nur einmal die Woche geduscht und müssten z.t. stundenlang in ihren Exkrementen liegen, bevor sie gewaschen und das Bett gereinigt werde. Der Personalreferent habe „wider besseren Wissens“ die Probleme geleugnet.
Noch vor ihrem Schreiben an den Aufsichtsrat erstattete der frühere Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 7. Dezember 2004 unter Bezugnahme auf die beiliegende Vollmacht namens der Klägerin Strafanzeige gegen „die verantwortlichen Personen der V. GmbH“ wegen „besonders schweren Betruges nach § 263 Abs. 3 StGB“. Es heißt in der Anzeige u.a.:
Die V. GmbH, die finanziell angeschlagen ist und um ihren Zustand weiß, hat sowohl die Bewohner der Einrichtung in der T.straße als auch deren Angehörige über ihr Leistungsvermögen und damit die Erfüllungsfähigkeit getäuscht. Den für die Unterbringung in der genannten Einrichtung aufgebrachten Kosten steht keine auch nur annähernd adäquate Gegenleistung gegenüber. Die V. GmbH bereichert sich somit auf Kosten von Bewohnern und Angehörigen und nimmt bei dem herrschenden Pflegemangel die medizinische und hygienische Unterversorgung der Bewohner in Kauf....
Hieran zeigt sich ...wie diese systematisch und unter Einschüchterung ihrer Mitarbeiter versucht, die bestehenden Probleme zu vertuschen...Die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, welche so gar nicht erbracht worden seien. In Bezug auf die genannten Gesichtspunkte ist daher anhand einer Vernehmung aller Mitarbeiter zu untersuchen, inwieweit das Verhalten den Tatbestand der Nötigung erfüllt...
Es wird vorgeschlagen, im Zuge der einzuleitenden Ermittlungen die Verträge zwischen der V. GmbH und den Bewohnern einzusehen, ebenfalls sämtliche Sitzungsprotokolle. Zudem sollte der aktuelle Bericht des MDK angefordert
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werden. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass nach diesseitiger Kenntnis auch in anderen Einrichtungen der V. GmbH ähnliche Probleme bestehen, so dass ein Schaden in Millionenhöhe in Rede steht“.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Strafanzeige wird auf die Ablichtung Bl 487 bis 492 d.A. Bezug genommen.
Aufgrund verschiedener krankheitsbedingter Fehlzeiten, die sich im Jahr 2004 auf 90 Arbeitstage beliefen, kündigte die Beklagte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis aus krankheitsbedingten Gründen mit Schreiben vom 19. Januar 2005 zum 31. März 2005. Diese Kündigung ist Gegenstand eines anderen Verfahrens beim Arbeitsgericht Berlin zum Aktenzeichen 35 Ca 3077/05.
In der Folgezeit nahm die Klägerin über Freunde Kontakt zu anderen Pflegekräften und ihrer Gewerkschaft auf. Es bildete sich eine Solidaritätsgruppe. Unter dem Datum des 27. Januar 2005 wurde ein Flugblatt mit folgender Überschrift verfasst:
V. will Kollegen/innnen einschüchtern!!
Nicht mit uns!
Sofortige Rücknahme der politisch motivierten Kündigung der Kollegin B. bei V. Forum für Senioren
Einladung zur Gründung eines überparteilichen Solidaritätskreises
Inhalt: ... Wehren wir uns endlich... Der Wahnsinn, dass private Betreiber gemeinsam mit dem Berlin SPD/PDS Senat aus reiner Profitgier unser aller Arbeitskraft zerstört... V. nutzt das soziale Engagement seines Personals schamlos aus.“
In dem Flugblatt wird darauf hingewiesen, dass die Klägerin Überlastungsanzeigen eingereicht, diese aber nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt hätten und sie daraufhin Strafanzeige gegen die V. Geschäftsführung gestellt habe, die jedoch nicht bearbeitet worden sei. Für den genauen Inhalt des Flugblatts wird auf 40 – 41 d.A. Bezug genommen. Die Klägerin faxte das Flugblatt am 31. Januar 2005 in das Wohnheim, in dem sie zuletzt beschäftigt war, auf das Faxgerät des Arbeitgebers. Dort wurde es von einer Mitarbeiterin des Nachtdienstes verteilt.
Mit Schreiben vom 1. Februar 2005 (Bl. 42 d. A.) forderte die Beklagte die Klägerin unter Zitierung der Passage über die Strafanzeige auf, zum Inhalt des Flugblatts Stellung zu nehmen. Eine Stellungnahme der Klägerin dazu erfolgte nicht.
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Die Beklagte nahm daraufhin den Inhalt des Flugblatts zum Anlass, den bei ihr gebildeten Betriebsrat mit Schreiben vom 04. Februar 2005 (Bl. 358 bis 361 d.A.), dessen Empfang mit Datum vom 7. Februar 2005 quittiert wurde, zu einer beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Klägerin anzuhören. Nachdem der Ausschuss für personelle Einzelmaßnahmen des Betriebsrats mit Schreiben vom 8. Februar 2005 (Bl. 10 d.A.), bei der Beklagten eingegangen am 8. Februar 2005, mitgeteilt hatte, er habe in seiner Sitzung vom 8. Februar beschlossen, der außerordentlichen bzw. ordentlichen Kündigung nicht zuzustimmen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 9. Februar 2005 fristlos, hilfsweise fristgemäß. Mit Schreiben vom 25. April 2005 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut außerordentlich, hilfsweise ordentlich.
Das Arbeitsgericht hat mit Teilurteil vom 3. August 2005, auf dessen Tatbestand wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens Bezug genommen wird, § 69 Abs. 2 ArbGG, festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 09. Februar 2005 nicht aufgelöst worden ist und den Rechtsstreit über die Kündigung vom 25. April 2005 ausgesetzt. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es liege weder ein wichtiger Grund i.S. von § 626 BGB vor, noch sei die Kündigung sozial gerechtfertigt. Durch das Flugblatt vom 31. Januar 2005 habe die Klägerin ihre arbeitsvertraglichen Pflichten nicht verletzt. Zwar müsse sie sich den Inhalt des Flugblattes auch dann zurechnen lassen, wenn sie das Flugblatt weder selbst (mit-) verfasst noch initiiert habe. Denn sie habe sich den Inhalt des Flugblattes zu eigen gemacht, in dem sie es an eine Betriebsangehörige weitergeleitet habe, ohne sich von dem Wortlaut zu distanzieren. Die Äußerungen in dem Flugblatt seien aber noch durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Zwar setze es sich polemisch mit der Beklagten auseinander, überschreite aber die Grenzen strafrechtlich relevanten Verhaltens noch nicht, wenn – wenn auch mit Überzeichnungen – auf einen Personalmangel bei der Beklagten und daraus resultierender Konsequenzen für Personal und Bewohner aufmerksam gemacht werde. Ein gewisser Personalmangel scheine objektiv vorzuliegen, da der Medizinische Dienst nach dem Vortrag der Beklagten die Personalsituation zwar als nicht zu bemängeln bezeichnet, jedoch als angespannt bewertete habe und die Beklagte selbst die Besetzung der Wohnbereiche 5 und 6 mit 10,74 % Vollkräften ermittelt habe, obwohl dieser Bereich dann tatsächlich nur mit 9,02
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Vollzeitkräften besetzt gewesen sei. Eine konkrete Beeinträchtigung des Betriebsfriedens durch das Flugblatt sei nicht vorgetragen worden. Auch die Schreiben an die Geschäftsführung und an den Aufsichtsrat seien kündigungsrechtlich unbeachtlich. Die Klägerin habe in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt und insoweit die unternehmensinternen Interventionsmöglichkeiten genutzt. Auf die Strafanzeige habe die Beklagte ihre Kündigung nicht gestützt.
Gegen dieses am 9. September 2005 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten, die sie mit einem beim Landesarbeitsgericht am 7. Oktober 2005 eingegangenen Schriftsatz eingelegt und mit einem beim Landesarbeitsgericht am 8. November 2005 eingelegten Schriftsatz begründet hat. Mit Schriftsatz vom 28. März 2006 hat die Beklagte einen Auflösungsantrag gestellt.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie behauptet, die Klägerin habe das Flugblatt initiiert, zumindest aber an dessen Verbreitung mitgewirkt, indem sie die Mitarbeiterin gebeten habe, es zu kopieren und zu verteilen. Die dort erhobenen Vorwürfe seien unwahr, zugleich aber auch geeignet, die Beklagte in der öffentlichen Meinung herabzusetzen. Zugleich sei es auch geschäftsschädigend, da es den Eindruck erwecke, in den Pflegeeinrichtungen finde ein gefährlicher Umgang mit den Bewohnern statt, was potentielle Interessenten abhalten könnte. Der Inhalt des Flugblatts sei in der Folgezeit im Betrieb heftig diskutiert worden. Ein struktureller Personalmangel bestehe bei der Beklagten nicht. Dies habe der Medizinische Dienst bei seiner letzten Untersuchung bestätigt. Im Mai 2004 habe es eine Zäsur gegeben, da seither nur noch examinierte Mitarbeiter in der Behandlungspflege eingesetzt würden. Nach den sog. Berliner Eckwerten müsse sie unter Berücksichtigung der verschiedenen Pflegestufen einen Personalbedarf von 13,1 Vollkräften brutto vorhalten, also nach Abzug von 18 % für Urlaubs- Abwesenheits- und Arbeitsunfähigkeitszeiten 10,74 Vollkräfte einplanen. Tatsächlich seien aber im Dienstplan November 2004 11 Vollzeitkräfte eingestellt gewesen. Soweit unplanbare Ausfälle eintreten würden, würden diese durch Zeitarbeitsfirmen abgedeckt. Nur bei ganz kurzfristigen Ausfällen könne es hier zu Engpässen kommen, die aber in der Personalplanung nicht im voraus berücksichtigt werden könnten.
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Weiterhin habe die Klägerin aber auch mit der Strafanzeige im Dezember 2004 gegen die Geschäftsleitung grob gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen. Die Strafanzeige enthalte unzutreffende, bewusst wahrheitswidrige, jedenfalls aber leichtfertige Angaben der Klägerin, die durch nichts gerechtfertigt seien. Die Klägerin werfe der Beklagten dort u.a. ohne eine annähernd hinreichende Tatsachengrundlage „ins Blaue hinein“ einen Abrechnungsbetrug und eine Gesundheitsgefährdung der Bewohner vor.
In ihrem Schreiben an den Aufsichtsrat der Beklagten habe die Klägerin ebenfalls wahrheitswidrige Behauptungen aufgestellt. Mit diesem und ihrem früheren Schreiben vom 9. November 2004 habe die Klägerin gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen, indem sie ohne inhaltliche Rechtfertigung Pflichtverletzungen im Bereich der Beklagten gerügt habe, die tatsächlich nicht aufgetreten seien.
Hilfweise sei das Arbeitsverhältnis aufzulösen. Nach dem gesamten Verhalten der Klägerin sei eine den Betriebszwecken dienliche Zusammenarbeit nicht mehr zu erwarten.
Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,
das Teilurteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 03. August 2005 (Geschäftszeichen: 39 Ca 4775/05) abzuändern und die Klage abzuweisen.
Hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Berufungsantrag
1. das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 31. März 2005 aufzulösen.
2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin eine Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zu zahlen.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte, die sich zum Auflösungsantrag nicht eingelassen hat, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Sowohl Flugblatt als auch Strafanzeige seien durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt. Sie habe zu keinem Zeitpunkt unwahre Tatsachen verbreitet. Im Mai 2004 habe es keine Zäsur gegeben, sondern der Personalmangel auch noch danach bestanden. Der Personalbestand habe nicht den Berliner Eckwerten
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entsprochen. Bei der Berechnung sei allein der Bruttobedarf zugrunde zu legen. Der Krankenstand könne nicht abgezogen werden. Der Personalstand habe im November nicht einmal den Berechnungen der Beklagten entsprochen, da dort nur 9,5 Vollzeitkräfte zur Verfügung gestanden hätten. Durch den andauernden Personalmangel sei es zu den von ihr schon erstinstanzlich vorgetragenen Pflegemängeln gekommen, die als strukturelles Problem zu bewerten seien, die die Beklagte aber nicht bereit sei, wahrzunehmen und zu beseitigen. Sie habe die Beklagte auf Missstände immer wieder hingewiesen. Aufgrund der erheblichen Belastungssituation sei sie wiederholt kurzfristig und zuletzt langfristig schwer erkrankt. Im November 2004 habe sie sich in einer ausweglosen Situation befunden, da sämtliche Versuche, der Überlastung entgegen zu treten, erfolglos gewesen seien. Sie habe sich in einem erheblichen Gewissenskonflikt befunden, da sie nicht an den von ihr aufgezeigten Behandlungsdefiziten habe mitwirken wollen. Sie habe befürchtet, es könne zu Unfällen kommen, die das Leben der Bewohner bedrohen könnten, und sie habe Angst gehabt, selbst strafrechtlich für die Defizite herangezogen zu werden. Nachdem die Beklagte im November 2004 wieder ihr gesamtes Vorbringen pauschal zurückgewiesen habe, habe sie auf Anraten ihres Anwaltes, also nicht leichtfertig, Strafanzeige zu ihrer Entlastung und zum Schutze der ihr anvertrauten Bewohner gestellt.
Der Betriebsrat habe vor Ausspruch der Kündigung noch nicht abschließend Stellung genommen.
In der Verhandlung vom 28. März 2006 hat die Klägerin behauptet, sie sei wiederholt ebenso wie andere Mitarbeiter angehalten worden, Pflegedokumentationen zu ergänzen, ohne dass die Pflegeleistungen erbracht worden seien und sich zum Beweis dafür auf das Zeugnis der Mitarbeiterinnen S. K., G. W., A. W. berufen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Parteivorbringens wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beklagten und Berufungsklägerin vom 30. November 2005 (Bl. 336 – 374 d.A.), vom 23. März 2006 (Bl. 498 – 524 d.A.) sowie vom 28. März 2006 (Bl. 529 – 539 d.A.) und auf diejenigen der Klägerin und Berufungsbeklagten vom 27. Januar 2006 (Bl. 393 – 408 d.A.) sowie vom 7. März 2006 (Bl. 444 – 492 d.A.) und auf das Vorbringen in den mündlichen Verhandlungsterminen Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
1.
Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist von ihr form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO, § 66 Abs. 1 Satz 1 und 2 ArbGG).
Die Berufung ist daher zulässig.
2.
Die Berufung hatte in der Sache Erfolg. Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis endete aufgrund der Kündigung der Beklagten vom 9. Februar 2005, da diese Kündigung rechtswirksam war.
2.1
Die Kündigung vom 9. Februar 2005 vermochte das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung aufzulösen, da mit der Strafanzeige der Klägerin vom 7. Dezember 2004 ein wichtiger Grund i.S. von § 626 BGB vorlag, der es der Beklagten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Vertragsparteien unzumutbar machte, das Arbeitsverhältnis auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen.
2.1.1
Es ist im Grundsatz davon auszugehen, dass eine zur (außerordentlichen) Kündigung berechtigende arbeitsvertragliche Pflichtverletzung an sich vorliegen kann, wenn der Arbeitnehmer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber oder seine Repräsentanten erstattet und damit in erheblichem Maße gegen seine arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) verstößt.
Die vertragliche Rücksichtnahmepflicht wird dabei durch die Grundrechte näher ausgestaltet. Erstattet ein Arbeitnehmer Strafanzeige, nimmt er im Grundsatz eine von der Verfassung geforderte und von der Rechtsordnung erlaubte und gebilligte Möglichkeit der Rechtsverfolgung wahr. Eine solche grundrechtlich geschützte Rechtsposition besteht jedoch nicht mehr, wenn der Arbeitnehmer
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seine Strafanzeige auf wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben stützt. Auf Seiten des Arbeitgebers ist weiterhin das als Ausfluss der verfassungsrechtlich geschützten Unternehmerfreiheit (Art. 12 GG) rechtlich geschützte Interesse zu berücksichtigen, nur mit solchen Arbeitnehmern zusammenzuarbeiten, die die Ziele des Unternehmens fördern und das Unternehmen vor Schäden bewahren.
In diesem Rahmen sind die vertraglichen Rücksichtnahmepflichten zu konkretisieren: Zunächst darf der Arbeitnehmer die Strafanzeige nicht auf wissentlich oder leichtfertig unwahre Tatsachen stützen. Abgesehen von diesen Fällen darf sich die Anzeige des Arbeitnehmers nicht als eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers oder seines Repräsentanten darstellen. Dabei können als Indizien für eine unverhältnismäßige Reaktion des anzeigenden Arbeitnehmers sowohl die Berechtigung der Anzeige als auch die Motivation des Anzeigenden oder ein fehlender innerbetrieblicher Hinweis auf die angezeigten Missstände sprechen (vgl. BAG v. 3. 7. 2003 – 2 AZR 235/02 - NZA 2004, 427 ff.; BAG v. 4.7.1991 – 2 AZR 80/91 – RzK I 6 a 74). Die Gründe, die den Arbeitnehmer dazu bewogen haben, die Anzeige zu erstatten, verdienen eine besondere Bedeutung. Erfolgt die Erstattung der Anzeige ausschließlich um den Arbeitgeber zu schädigen bzw. „fertig zu machen“ kann – unter Berücksichtigung des der Anzeige zugrunde liegenden Vorwurfs – eine unverhältnismäßige Reaktion vorliegen. Durch ein derartiges pflichtwidriges Verhalten nimmt der Arbeitnehmer keine verfassungsrechtlichen Rechte wahr, sondern verhält sich - jedenfalls gegenüber dem Arbeitgeber – rechtsmissbräuchlich. (BAG v. 3.7.2003 a.a.O unter II 3 b) dd)).
Einer innerbetrieblichen Klärung bedarf es umso mehr, als die vertragliche Verpflichtung des Arbeitnehmers im Raum steht, den Arbeitgeber vor drohenden Schäden durch andere Arbeitnehmer zu bewahren. Ihr gebührt nicht generell der Vorrang. Es ist im Einzelfall zu bestimmen, wann dem Arbeitnehmer eine vorherige innerbetriebliche Anzeige ohne weiteres zumutbar ist und ein Unterlassen ein pflichtwidriges Verhalten darstellt. Eine vorherige innerbetriebliche Meldung und Klärung ist dem Arbeitnehmer unzumutbar, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde. Entsprechendes gilt auch bei schwerwiegenden Straftaten und vom Arbeitgeber selbst begangenen Straftaten. Hier muss regelmäßig die Pflicht des Arbeitnehmers zur
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Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers zurücktreten. Hat hingegen nicht der Arbeitgeber oder sein gesetzlicher Vertreter, sondern ein Mitarbeiter seine Pflichten verletzt oder strafbar handelt, ist es eher zumutbar vom Arbeitnehmer - auch wenn ein Vorgesetzter betroffen ist - vor einer Anzeigenerstattung einen Hinweis an den Arbeitgeber zu verlangen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Pflichtwidrigkeiten handelt, die - auch - den Arbeitgeber selbst schädigen, hier also die vertragliche Verpflichtung des Arbeitnehmers im Raume steht, den Arbeitgeber durch drohende Schäden durch andere Arbeitnehmer zu bewahren (BAG v. 3.7.2003 a.a.O unter II 3 b) dd)). Den anzeigenden Arbeitnehmer trifft allerdings keine Pflicht zur innerbetrieblichen Klärung, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist. Hatte der Arbeitnehmer den Arbeitgeber auf die gesetzeswidrige Praxis im Unternehmen hingewiesen, sorgt dieser jedoch nicht für Abhilfe, besteht keine weitere vertragliche Rücksichtnahmepflicht mehr (BAG v. 3.7.2003 a.a.O unter II 3 b) dd)).
2.1.2
Bei Anwendung dieses Maßstabes erweist sich die von der Klägerin erstattete Strafanzeige als grober Verstoß gegen ihre arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflichten, ist mithin als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung an sich geeignet. Die Klägerin hat ihre Anzeige leichtfertig auf Tatsachen gegründet, die im Prozess nicht dargelegt werde konnten und schon insoweit keine berechtigten Interessen wahrgenommen. Zudem stellt sich die gesamte Anzeige als unverhältnismäßige Reaktion auf die Weigerung der Beklagten dar, den von der Klägerin behaupteten Personalmangel anzuerkennen. Wie bereits in ihrem Schreiben vom 9. November 2004 angekündigt, bezweckte die Klägerin mit dieser Anzeige und einer sich daraus ergebenden öffentlichen Diskussion, eine Kampagne gegen die Beklagte zu eröffnen und in unzulässiger Weise Druck auf die Beklagte auszuüben.
2.1.2.1
Die Klägerin stützt ihre Anzeige wegen Abrechnungsbetrugs leichtfertig auf Tatsachen, die im Prozess keine Grundlage in einem entsprechenden Sachvortrag gefunden haben.
- 12 -
2.1.2.1.1
Trotz entsprechender Auflage hat die Klägerin für den von ihr diesbezüglich erhobenen Vorwurf nicht ansatzweise einen erwiderungsfähigen und einem Beweis zugänglichen Sachverhalt dargestellt, der den in der Strafanzeige geäußerten Vorwurf des Abrechnungsbetruges als nachvollziehbar hätte erscheinen lassen. Auch die Strafanzeige beschränkt sich auf die von der Klägerin in der Berufungsverhandlung wiederholte – und von der Beklagten bestrittene – allgemeine Äußerung, Pflegekräfte würden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, welche so gar erbracht worden seien. Dies war bereits zu wenig, um die Staatsanwaltschaft überhaupt zu Ermittlungen zu veranlassen. Eine nachvollziehbare Begründung für den von ihr geäußerten Verdacht, gegen den sich die Beklagte hätte verteidigen und Beweis anbieten können, enthält diese pauschale Darstellung nicht. Weder ist erkennbar, wer, welche konkrete Anweisung erteilt hat, noch um welche Pflegeleistungen es dabei ging und in welchem Zeitrahmen sich dies abspielte.
Mit der Anforderung eines solchen Sachvortrags wird der Klägerin nicht etwas Unmögliches aufgebürdet. Von der Klägerin wird nur im Rahmen der Zivilprozessordnung eine substantiierte Einlassung zu Tatsachen verlangt, die in ihrer eigenen Wahrnehmung liegen und die sie selbst zum Anlass genommen hat, strafrechtliche Vorwürfe gegen die Beklagte zu erheben. Ein solcher Sachvortrag wäre schon in der Strafanzeige naheliegend gewesen, wenn es der Klägerin tatsächlich um die Aufklärung bzw. Verhinderung der von ihr behaupteten Straftat gegangen wäre. Denn dann hätte sich die Klägerin doch zumindest einzelne Vorfälle, Patienten oder Pflegeleistungen gemerkt oder sogar notiert, um diese gegenüber der Staatsanwaltschaft vorzubringen und dort überhaupt Ermittlungen zu ermöglichen.
Soweit die Klägerin vorträgt, bereits aus dem von ihr behaupteten Personalmangel, der zwischen den Parteien höchst streitig ist, ergebe sich ein ausreichender Anlass für den von ihr angezeigten Abrechnungsbetrug, konnte die Berufungskammer diesen Zusammenhang ohne nähere Darlegung zu den dokumentierten Pflegeleistungen nicht herstellen. Insofern konnte dahinstehen, ob tatsächlich - wie von der Klägerin behauptet - bei der Beklagten ein Personalmangel bestanden hat.
Ohne einen solchen näheren Sachvortrag ist die Anzeige wegen Abrechnungsbetrugs als „ins Blaue hinein“ zu qualifizieren. Dafür spricht auch
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der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft auf Grund der Strafanzeige der Klägerin keinerlei Ermittlungen eingeleitet hat. Da sich weder der Strafanzeige noch dem zivilprozessualen Vortrag entnehmen ließ, welche Tatsachen die Klägerin zu ihrem Verdacht veranlassten, konnte die Berufungskammer noch nicht einmal feststellen, dass die Klägerin in gutem Glauben die Strafanzeige erstattet hat, dass diese also im allgemeinen Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens und an der Aufklärung von Straftaten gelegen hat.
2.1.2.1.2
Die Klägerin hat die Anzeige insoweit auch leichtfertig auf Tatsachen gestützt, die im Prozess nicht dargelegt werden konnte. Denn sie hat schon nicht einmal in der Anzeige einen Sachverhalt dargelegt, der die Staatsanwaltschaft zu Ermittlungen hätte veranlassen können. Auch dort wird – wie gezeigt - nur ein pauschaler Vorwurf erhoben. Dass die Klägerin mit der Strafanzeige einen Anwalt beauftragt hat, steht der Annahme der Leichtfertigkeit nicht entgegen. Der Anwalt hat hier die Angaben der Klägerin widergegeben. Jedenfalls behauptet die Klägerin selbst nicht, dass die Anzeige insoweit allein auf einer Erfindung ihres damaligen Prozessbevollmächtigten beruhte. Dabei mag es sein, dass sich die Klägerin der möglichen kündigungsrechtlichen Konsequenzen einer solchen Anzeige nicht bewusst war, an der im Prozess fehlenden Substanz der Vorwürfe, die die Leichtfertigkeit begründen, ändert dies nichts. Eine solche Strafanzeige unterfällt schon nicht dem grundrechtlich geschützten Bereich.
2.1.2.2
Die Strafanzeige erweist sich aber auch als unverhältnismäßige Reaktion der Klägerin auf die Weigerung der Beklagten, den von ihr behaupteten Personalmangel als bestehend anzuerkennen.
2.1.2.2.1
Dies ergibt sich zunächst aus dem Umstand, dass die Klägerin bezüglich des behaupteten Abrechnungsbetruges eine innerbetriebliche Klärung nicht versucht hat. Unterstellt man den Vortrag der Klägerin als richtig, sie sei angewiesen worden, mehr Pflegeleistungen aufzuschreiben, als sie tatsächlich erbracht hat, dann hatte die Beklagte ein erhebliches Interesse an einer innerbetrieblichen Klärung, um eine solche Praxis unverzüglich zu beenden und ihr drohende Schäden, wie z. B. die Kündigung des Pflegevertrages seitens der
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Krankenkassen wegen Abrechnungsbetruges, abzuwenden. Weder ergeben sich aus den von der Klägerin zahlreich gestellten Überlastungsanzeigen Hinweise auf den von ihr angezeigten Tatbestand, noch enthalten die Schreiben der Klägerin vom 9. November 2004 und vom 10. Dezember 2004 einen Hinweis an die Geschäftsleitung oder Personalleitung auf eine solche Praxis bei der Beklagten. Gerade in diesen Schreiben hätte es nahe gelegen, den Vorwurf anzubringen, wenn er denn zu recht bestanden hätte.
Eine vorherige innerbetriebliche Meldung und Klärung war der Klägerin nicht unzumutbar. Weder ging es um Straftaten, durch deren Nichtanzeige sie sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde, noch um Straftaten des Arbeitgebers oder seiner gesetzlichen Vertreter. Die Klägerin musste auch nicht davon ausgehen, eine innerbetriebliche Klärung bliebe erfolglos, weil sie bereits Überlastungsanzeigen gestellt hatte, die von der Beklagten als subjektive Einschätzung der Klägerin bewertet wurden. Daraus kann nicht geschlossen werden, die Beklagte wäre einem substantiellen Hinweis auf einen Abrechnungsbetrug nicht nachgegangen, hätte ihn nicht unterbunden und ggf. die erforderlichen arbeitsrechtlichen Schritte gegenüber den anweisenden Mitarbeitern nicht unternommen.
2.1.2.2.2
Die Strafanzeige der Klägerin erweist sich aber auch in weiteren Punkten als unverhältnismäßig. Soweit die Klägerin in ihrer Strafanzeige unter unterschiedlichen Aspekten und vermeintlichen Straftatbeständen den von ihr behaupteten, zwischen den Parteien streitigen Personalmangel und daraus folgend (streitige) Pflegemängel angreift, bedurfte es einer Strafanzeige - auch für die Klägerin erkennbar - nicht. Denn die Beklagte unterlag mit ihrem Pflegeheim der Kontrolle des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse, der kurz vor der Strafanzeige nochmals eine Kontrolluntersuchung der Qualität der Pflegeleistungen der Beklagten vorgenommen hat. Insofern hätte die Klägerin, wenn es ihr um die Qualität der Pflege gegangen wäre, zunächst das Ergebnis dieser Untersuchung abwarten können. Dass der Kontrollmechanismus grundsätzlich funktionierte, die Klägerin also nicht fürchten musste, der Medizinischen Dienst der Krankenkasse werde die Augen vor bestehenden Mängeln verschließen, konnte die Klägerin aus dem ihr bekannten Schreiben des Medizinischen Dienstes vom 6. November 2003 entnehmen, in dem wegen damals aufgetretener Mängel die Kündigung des Pflegevertrages angedroht
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worden war. Den Ausgang der Überprüfung des Medizinischen Dienstes wollte die Klägerin aber nicht abwarten.
2.1.2.2.3
Aus all diesen Umständen wird deutlich, dass es der Klägerin mit ihrer Anzeige nicht um die Aufklärung von Straftaten bzw. um die Verhinderung weiterer Straftaten gegangen ist. Vielmehr wollte sie mit den von ihr erhobenen Vorwürfen wie Abrechnungsbetrug und der gewagten Konstruktion eines Betruges zu Lasten der Angehörigen und Bewohner Aufsehen erregen, die Beklagte in die öffentliche Diskussion bringen, um auf die Beklagte Druck auszuüben, den von ihr gesetzten Forderungen nachzukommen. Dafür spricht weiter die gesamte polemische Diktion der Strafanzeige, die Aufforderung an die Staatsanwaltschaft, alle Mitarbeiter zu vernehmen, um den nicht näher begründeten Vorwurf der Klägerin erst einmal zu ermitteln und der abschließende Satz, in dem – ohne Angabe von Tatsachen – weitere Einrichtungen der Beklagten „in Bausch und Bogen“ in die angeblichen Straftaten mit einbezogen und ein Millionenschaden konstruiert wurde. Dies hatte die Klägerin selbst in ihrem Schreiben vom 9. November 2004 angekündigt.
Bei den von der Klägerin zum Gegenstand ihrer Anzeige gemachten Vorwürfen konnten diese auch nicht – wie von der Klägerin geltend gemacht – ihrem eigenen Schutz vor Strafverfolgung dienen. Zum einen stand dem schon entgegen, dass sich die Vorwürfe im Prozess nicht bestätigt hatten, zum anderen, dass der Inhalt der Strafanzeige bei weitem über eine solche Motivation hinausging.
Dass es der Klägerin bei ihrer Anzeige im Ergebnis um eine Kampagne gegen ihre Arbeitgeberin ging, zeigt auch ihr prozessuales Verhalten. Nachdem ihre Prozessbevollmächtigte in der ersten Berufungsverhandlung geäußert hatte, sie wolle sich zum Inhalt der Strafanzeige nicht weiter einlassen, war es die Klägerin persönlich, die die Öffentlichkeit der Verhandlung dazu nutzte, auf den Inhalt und (behaupteten) Anlass ihrer Strafanzeige (Betrug und Nötigung) hinzuweisen, wobei sie auch dort lediglich pauschale Behauptungen ohne näheren Sachvortrag in den Raum stellte.
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2.1.2.2.4
Mit einer solchen Strafanzeige, die leichtfertig unzutreffende Behauptungen enthält, unverhältnismäßig ist und in Wahrheit anderen Zwecken dient, hat die Klägerin nicht mehr verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte wahrgenommen, sondern ihre vertraglichen Rücksichtnahmepflichten in erheblicher Weise verletzt. Ein solches Verhalten ist als wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung an sich geeignet.
2.1.3
Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Vertragsparteien war es der Beklagten auch nicht zuzumuten, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen.
Dabei hat die Berufungskammer zu Gunsten der Klägerin durchaus berücksichtigt, dass es sich bei ihrer Arbeit in der Altenpflege um eine körperlich und psychisch anstrengende und aufreibende Tätigkeit handelt, unter der die Klägerin im Ergebnis wohl gelitten hat, wie sich wohl auch aus ihren Arbeitsunfähigkeitszeiten ergibt. Auch verfolgte die Klägerin mit ihrer Anzeige nicht einen eigenen Vorteil, sondern sie wollte sich aus subjektiver Sicht in besonderem Maße für die zu pflegenden Menschen einsetzen. Auf der anderen Seite war die Schwere des Verstoßes gegen die arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflichten zu berücksichtigen. Die Anzeige stützte sich auf Tatsachen, die nicht näher dargelegt werden konnten. Die Klägerin bekämpfte mit ihrer Strafanzeige nicht etwa nur einzelne Missstände der Altenpflege. Vielmehr führte sie eine Kampagne gegen die Beklagte, die deren gesamte wirtschaftliche Betätigung kritisierte und diese nach der Art der Vorwürfe und der Ausdrucksweise herabsetzte. Dabei war die Strafanzeige durchaus geeignet, erheblichen Schaden bei der Beklagten zu verursachen. Der dort erhobene Vorwurf des Abrechnungsbetruges, aber auch der Vorwurf, die Beklagte bereichere sich auf Kosten von Bewohnern und Angehörigen, betrifft den Kernbereich der Tätigkeit der Beklagten. Die Beklagte, die von den Verträgen mit den Krankenkassen, aber auch von den Interessenten abhängig ist, kann mit der durch die Einleitung eines Strafverfahrens verbundenen negativen öffentlichen Publizität in ihrer Existenzgrundlage gefährdet werden. Denn auch wenn - wie hier - die Vorwürfe durch keinen Sachvortrag belegt werden, verbleibt in der Öffentlichkeit, gerade weil es sich um den sensiblen Bereich der
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Altenpflege handelt, für den ohnehin die Erwartungshaltung dahingehend geprägt ist, sie sei in der Regel schlecht, leicht der Eindruck, „es muss etwas dran sein“. Dem steht nicht entgegen, dass im Ergebnis ein Strafverfahren nicht eröffnet wurde. Mit ihrer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Berlin hat die Klägerin das Verfahren ohnehin schon aus der Hand gegeben. Sie behauptet selbst nicht, sie habe die Strafanzeige in der Vorstellung gestellt, es werde schon kein Verfahren eröffnet. Im übrigen wurde die Strafanzeige spätestens mit der Verbreitung des Flugblatts in der Öffentlichkeit bekannt gemacht.
Hinzu kam, dass die Klägerin schon jedes legitime Verhalten der Beklagten, das Berührungspunkte mit dem von ihr behaupteten Personalmangel aufweist, als strafrechtlich relevant ansieht. So empfindet sie bereits die Anweisung des Arbeitgebers, sich den Bewohnern und Angehörigen gegenüber nicht negativ über den Betrieb zu äußern, als strafrechtlich relevante Nötigung der Mitarbeiter. Holt sie dann am Ende auch noch – ohne Tatsachenvortrag - zum Rundumschlag gegen weitere, nicht näher bezeichneten Einrichtungen der Beklagten aus, wird deutlich, dass sie den Blick für die ihr obliegenden arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflichten vollständig verloren hat. Angesichts dieses Verhaltens der Klägerin kann eine positive Prognose für die Fortführung des Arbeitsverhältnisses nicht gestellt werden.
Bei dieser Sachlage musste das Interesse der Klägerin an der Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses gegenüber den Interessen der Beklagten an einer Beendigung zurücktreten. Die Betriebszugehörigkeit war mit 5 Jahren noch nicht so erheblich, als dass der Beklagten bei dem hier vorgekommenen Pflichtenverstoß auch unter Berücksichtigung des Alters der Klägerin und ihrer Unterhaltsverpflichtungen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar gewesen wäre.
2.2
Die Kündigung erweist sich auch von ihrer formellen Seite her als wirksam. Der Betriebsrat wurde vor Ausspruch der Kündigung nach § 102 BetrVG ordnungsgemäß unter Bekanntgabe der Kündigungsgründe angehört und die Beklagte hat die Kündigung erst nach Abschluss des Anhörungsverfahrens ausgesprochen.
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2.2.1
Die Beklagte hat dem Betriebsrat mit Schreiben vom 4. Februar 2005 im Rahmen ihrer subjektiven Determination die ihr bekannten Kündigungsgründe mitgeteilt. Dazu zählte auch die von der Klägerin gestellte Strafanzeige, auf die in dem Anhörungsschreiben Bezug genommen wird. Dass diese schon zum damaligen Zeitpunkt Teil des Kündigungsvorwurfs war, folgt – für den Betriebsrat erkennbar – aus dem Anhörungsschreiben an die Klägerin vom 1. Februar 2005 (Bl. 373 d.A.), das den Unterlagen für den Betriebsrat beigefügt war. Gegenstand dieser Anhörung war insbesondere die in dem Flugblatt enthaltene Äußerung, die Klägerin habe Strafanzeige gestellt. Dass die Beklagte sich in der ersten Instanz nicht hinreichend deutlich auf diesen Kündigungsgrund gestützt hat, ist für die Betriebsratsanhörung unschädlich.
Den exakten Inhalt der Strafanzeige konnte die Beklagte dem Betriebsrat nicht mitteilen, da er ihr selbst zu dem damaligen Zeitpunkt nicht bekannt war. Die Klägerin hatte auf das Anhörungsschreiben der Beklagten nicht reagiert, vielmehr erstmals im Kündigungsschutzprozess mitgeteilt, es habe sich um eine Strafanzeige wegen Betrugs und Nötigung gehandelt.
Soweit bei der Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung der Inhalt der von der Klägerin eingereichten Strafanzeige herangezogen wurde, handelt es sich mithin um eine Konkretisierung des Kündigungsgrundes „Strafanzeige gegen den Arbeitgeber“, für die es einer erneuten Anhörung des Betriebsrats nicht bedurfte.
2.2.2
Entgegen der Auffassung der Klägerin war das Anhörungsverfahren vor Ausspruch der Kündigung abgeschlossen. Dabei kann dahinstehen, wann der Betriebsrat das Anhörungsschreiben vom 4. Februar 2005 erhalten hat. Er hat jedenfalls mit Schreiben vom 8. Februar 2005 (Bl. 10 d.A.) abschließend zu der beabsichtigten Kündigung Stellung genommen. Dieses Schreiben hat die Beklagte am 8. Februar 2005, also vor Ausspruch der Kündigung erhalten. Damit war das Anhörungsverfahren beim Betriebsrat beendet.
2.3.
Aus diesen Gründen erweist sich die streitgegenständliche Kündigung vom 9. Februar 2005 als rechtswirksam. Ob die weiteren von der Beklagten herangezogenen Kündigungsgründe, insbesondere das Flugblatt, eine fristlose
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Kündigung getragen hätten, oder ob die Äußerungen in diesem Flugblatt – wie es das Arbeitsgericht ausführlich begründet hat – noch vom Grundrecht der Klägerin auf Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG gedeckt gewesen wären, musste nicht entschieden werden.
3.
Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des Arbeitsgerichts abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
4.
Die Zulassung der Revision kam nicht in Betracht, da die Voraussetzungen nach § 72 Abs. 2 ArbGG nicht gegeben waren.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.
R.
S.
W.
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