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ARBEITSRECHT AKTUELL // 11/057

Ta­rif­fä­hig­keit ei­ner Ge­werk­schaft be­stimmt sich nicht nach der Zahl der Ta­rif­ab­schlüs­se

Ei­ne neue Ge­werk­schaft muss von An­fang an nach­weis­lich so­zi­al mäch­tig sein - ab­ge­schlos­se­ne Ta­rif­ver­trä­ge ge­nü­gen nicht als Be­leg: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Be­schluss vom 05.10.2010, 1 ABR 88/09
Streik viele Streikende Oh­ne Streik­fä­hig­keit ha­ben Ge­werk­schaf­ten kaum Macht

22.03.2011. Ar­beit­neh­mer al­ler Be­ru­fe ha­ben das grund­recht­lich ge­schütz­te Recht, zur Wah­rung und För­de­rung der Ar­beits- und Wirt­schafts­be­din­gun­gen Ver­ei­ni­gun­gen ("Ko­ali­tio­nen") zu bil­den (Art. 9 Abs. 3 Grund­ge­setz - GG).

Ge­setz­lich nicht ge­re­gelt ist, wann sich ei­ne Ar­beit­neh­mer­ko­ali­ti­on mit Fug und Recht "Ge­werk­schaft" nen­nen darf. Die­se Un­ter­schei­dung ist aber wich­tig: Denn die Ko­ali­ti­ons­frei­heit be­deu­tet noch nicht, dass auch je­de Ar­beit­neh­mer­ko­ali­ti­on Ta­rif­ver­trä­ge ab­schlie­ßen darf. Ta­rif­fä­hig sind nur Ge­werk­schaf­ten, ein­zel­ne Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­ge­ber­ver­ei­ni­gun­gen (§ 2 Abs. 1 Ta­rif­ver­trags­ge­setz - TVG).

An­ders ge­sagt: Al­le Ge­werk­schaf­ten sind Ar­beit­neh­mer­ko­ali­tio­nen, aber nicht je­de Ar­beit­neh­mer­ko­ali­ti­on ist auch ei­ne Ge­werk­schaft und da­mit ta­rif­fä­hig.

Wel­che Vor­aus­set­zun­gen ei­ne Ar­beit­neh­mer­ver­ei­ni­gung er­fül­len muss, um als Ge­werk­schaft zu gel­ten bzw. um ta­rif­fä­hig zu sein, rich­tet sich nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG). Da­nach muss ei­ne Ar­beit­neh­mer­ko­ali­ti­on fol­gen­de Be­din­gun­gen er­fül­len, um als Ge­werk­schaft zu gel­ten:

  • Sie muss frei ge­bil­det sein, d.h. auf frei­wil­li­ger pri­vat­recht­li­cher Grund­la­ge.
  • Sie muss den Ab­schluss von Ta­rif­ver­trä­gen an­stre­ben, d.h. „ta­rif­wil­lig“ sein.
  • Sie muss auf Dau­er an­ge­legt sein, d.h. ei­ne fes­te Struk­tur be­sit­zen.
  • Sie muss von an­de­ren Ver­bän­den und vor al­lem von der Ar­beit­ge­ber­sei­te un­ab­hän­gig sein.
  • Sie muss das Ta­rif- und Ar­beits­kampf­recht an­er­ken­nen und nach de­mo­kra­ti­schen Grund­sät­zen or­ga­ni­siert sein.
  • Sie muss „so­zi­al mäch­tig“ sein, d.h. „durch­set­zungs­stark“. Die Be­reit­schaft zum Streik ist da­für nicht un­be­dingt er­for­der­lich, aber je­den­falls die Fä­hig­keit, wirk­sam Druck auf die Ar­beit­ge­ber­sei­te aus­zu­üben und ihr ta­rif­ver­trag­li­che Zu­ge­ständ­nis­se ab­zu­trot­zen.

Hin­ter die­sen Vor­aus­set­zun­gen steht das Ziel, die Ta­rif­au­to­no­mie als Re­ge­lungs­me­cha­nis­mus und da­mit die Ar­beit­neh­mer­inter­es­sen zu schüt­zen. Denn da Ta­rif­ver­trä­ge auf­grund ge­setz­li­cher Öff­nungs­klau­seln auch zu­las­ten der Ar­beit­neh­mer­sei­te von ge­setz­li­chen Ar­beit­neh­mer­schutz­vor­schrif­ten ab­wei­chen dür­fen, kann es recht­lich nicht zu­läs­sig sein, dass ar­beit­ge­be­r­ab­hän­gi­ge Schein-Ge­werk­schaf­ten Ta­rif­ver­trä­ge ab­schlie­ßen, die letzt­lich nur der Ar­beit­ge­ber­sei­te nüt­zen. Die "Ta­rif­ver­trä­ge" der CG­ZP sind ein be­kann­tes Bei­spiel für die­se Ge­fahr.

"So­zi­al mäch­tig" ist ei­ne Ar­beit­neh­mer­ko­ali­ti­on, wenn sie

  • auf­grund ih­rer Mit­glie­der­zahl und
  • auf­grund ih­rer Or­ga­ni­sa­ti­ons­stär­ke

von der Ar­beit­ge­ber­sei­te ernst ge­nom­men wer­den muss. Das ge­schieht nor­ma­ler­wei­se

  • durch Streiks und Streik­dro­hun­gen.

Die­se Druck­mit­tel set­zen vor­aus, dass ent­we­der vie­le Ar­beit­neh­mer und/oder auf­grund ih­rer Spe­zia­li­sie­rung wich­ti­ge Ar­beit­neh­mer­grup­pen dem ge­werk­schaft­li­chen Streik­auf­ruf fol­gen.

In ei­ner grund­le­gen­den Ent­schei­dung des BAG aus dem Jahr 2006, in der es um die Ta­rif­fä­hig­keit der Christ­li­chen Ge­werk­schaft Me­tall (CGM) ging, hat das BAG als wei­te­res er­gän­zen­des Kri­te­ri­um für die so­zia­le Mäch­tig­keit auch

  • ei­ne lang­jäh­ri­ge ak­ti­ve Teil­nah­me an der Ta­rif­pra­xis

in die Be­ur­tei­lung ein­be­zo­gen (Be­schluss vom 28.03.2006, 1 ABR 58/04). Ei­ne grö­ße­re An­zahl ab­ge­schlos­se­ner Ta­rif­ver­trä­gen soll da­nach ein In­diz für die tat­säch­li­che Fä­hig­keit zur Vor­be­rei­tung und zum Ab­schluss von Ta­rif­ver­trä­gen sein.

Die­se Aus­sa­ge hat das BAG nun­mehr, im Ok­to­ber 2010, in ei­nem Ver­fah­rens über die Ta­rif­fä­hig­keit der 2002 ge­grün­de­ten Ge­werk­schaft für Kunst­stoff­ge­wer­be und Holz­ver­ar­bei­tung (GKH) et­was ab­ge­schwächt.

Die ers­ten bei­den In­stan­zen, das Ar­beits­ge­richt Pa­der­born (Be­schluss vom 14.03.2008, 2 BV 30/07) und das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Hamm (LAG Hamm, Be­schluss vom 13.03.2009, 10 TaBV 89/08), hiel­ten die GKH un­ter Hin­weis auf die rund 120 von ihr ab­ge­schlos­se­nen Ta­rif­ver­trä­ge für "so­zi­al mäch­tig" und da­mit für ta­rif­fä­hig.

Das woll­te der Ver­fah­rens­geg­ner, die In­dus­trie­ge­werk­schaft Me­tall (IG Me­tall), nicht hin­neh­men und leg­te Rechts­be­schwer­de zum BAG ein. Denn in der Or­ga­ni­sa­ti­on der GKH sind Mit­glie­der ei­ner an­de­ren Ge­werk­schaft tä­tig, und au­ßer­dem ver­öf­fent­lich­te die GKH ih­re Mit­glie­der­zah­len nicht. Ab­ge­se­hen da­von wa­ren vie­le der Ta­rif­ver­trä­ge nicht von der GKH al­lein, son­dern in Ta­rif­ge­mein­schaft mit ei­ner an­de­ren Ge­werk­schaft ab­ge­schlos­sen wor­den.

In der jetzt er­gan­ge­nen Ent­schei­dung stellt das BAG klar, dass bei ei­ner "noch jun­gen Ar­beit­neh­mer­ko­ali­ti­on" Ta­rif­ver­trä­ge kein In­diz für ih­re so­zia­le Mäch­tig­keit sind. Denn die Ta­rif­fä­hig­keit ist kei­ne Fol­ge des Ab­schlus­ses von Ta­rif­ver­trä­gen, son­dern ist um­ge­kehrt Vor­aus­set­zung der Wirk­sam­keit sol­cher Ta­rif­ver­trä­ge. Die Ko­ali­ti­on muss da­her schon von An­fang an ein "ernst zu neh­men­der Geg­ner" ge­we­sen sein und nicht nur ei­ne vom Ar­beit­ge­ber dank­bar an­ge­nom­me­ne Ge­le­gen­heit, von den ge­setz­li­chen Öff­nungs­klau­seln zu sei­nen Guns­ten Ge­brauch zu ma­chen.

Das BAG konn­te nicht ab­schlie­ßend über die Ta­rif­fä­hig­keit der GKH ent­schei­den, son­dern muss­te den Fall zu­rück an das LAG ver­wei­sen, da noch Fest­stel­lun­gen zu den Mit­glie­der­zah­len und zum or­ga­ni­sa­to­ri­schem Auf­bau zu tref­fen wa­ren.

Fa­zit: Die Ent­schei­dung des BAG ist rich­tig, weil mit den dort ge­nann­ten Grund­sät­zen ver­hin­dert wird, dass sich "Pa­pier­ti­ger" bzw. "Phan­tom­ge­werk­schaf­ten" zum Nach­teil von Ar­beit­neh­mern eta­blie­ren. Das BAG hat in die­sem Zu­sam­men­hang an­ge­deu­tet, dass die GKH nach den bis­he­ri­gen Fest­stel­lun­gen wohl nicht ta­rif­fä­hig ist. Es spricht da­her ei­ni­ges da­für, dass sie kei­ne "ech­te" Ge­werk­schaft ist. Die hier be­spro­che­ne Ent­schei­dung hat auch Aus­wir­kun­gen auf den Streit über die Ta­rif­fä­hig­keit der CG­ZP.

Nä­he­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: Nach­dem das BAG den Fall an die Vor­in­stanz zu­rück­ver­wie­sen hat­te, ent­schied das LAG Hamm ab­wei­chend von sei­nem ur­sprüng­li­chen Be­schluss (Be­schluss vom 13.03.2009, 10 TaBV 89/08) und da­mit ge­gen die Ta­rif­fä­hig­keit der GKH. Den voll­stän­dig be­grün­de­ten Be­schluss des LAG Hamm aus dem Jah­re 2011 fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 11. Juli 2018

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