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BAG, Be­schluss vom 13.08.2010, 1 AZR 173/09

   
Schlagworte: Freistellung, Gewerkschaft
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 1 AZR 173/09
Typ: Beschluss
Entscheidungsdatum: 13.08.2010
   
Leitsätze: Weder Art 9 Abs 3 GG noch § 275 Abs 3 BGB berechtigen einen gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer von der Arbeit fernzubleiben, um an Sitzungen des Ortsvorstands seiner Gewerkschaft teilzunehmen.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Trier, Urteil vom 30.04.2008, 4 Ca 232/08
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20.11.2008, 2 Sa 328/08
   

BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

1 AZR 173/09

2 Sa 328/08

Lan­des­ar­beits­ge­richt Rhein­land-Pfalz

BESCHLUSS

In Sa­chen

Kläge­rin, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­onskläge­rin,

pp.

Be­klag­te, Be­ru­fungskläge­rin und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

hat der Ers­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts am 13. Au­gust 2010 be­schlos­sen:

Die Kläge­rin hat die Kos­ten des Rechts­streits zu tra­gen.


 

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Gründe

A. Die Par­tei­en ha­ben über ei­nen An­spruch der Kläge­rin auf un­be­zahl­te Frei­stel­lung von der Ar­beits­pflicht zur Teil­nah­me an Sit­zun­gen des Orts­vor­stands ei­ner Ge­werk­schaft ge­strit­ten.

Die Kläge­rin ist bei der Be­klag­ten als ge­werb­li­che Ar­beit­neh­me­rin beschäftigt. Sie ist nicht frei­ge­stell­tes Mit­glied des Be­triebs­rats. Seit En­de 2007 gehört sie dem Orts­vor­stand ei­ner Ge­werk­schaft an. Die­ser hält in zu­meist mo­nat­li­chen Abständen an Diens­ta­gen je­weils von 13.00 bis 17.00 Uhr sei­ne Sit­zun­gen ab. Für den Weg vom Be­trieb bis zum Sit­zungs­raum der Ge­werk­schaft muss die Kläge­rin ei­ne We­ge­zeit von rund ei­ner St­un­de zurück­le­gen.

Bis Au­gust 2008 hat­te die Kläge­rin ei­ne re­gelmäßige Ar­beits­zeit von 6.00 bis 14.00 Uhr, da­nach war sie im Drei­schicht­be­trieb mit Wech­sel von Früh-, Spät- und Nacht­schicht ein­ge­setzt.

Die Kläge­rin hat ge­meint, die Be­klag­te ha­be sie an den Sit­zungs­ta­gen des Orts­vor­stands in der Zeit von 12.00 bis 18.00 Uhr von der Ver­pflich­tung zur Ar­beits­leis­tung un­be­zahlt frei­zu­stel­len. Auf die Fest­le­gung der Sit­zungs­ter­mi­ne ha­be sie kei­nen Ein­fluss. Dem­ent­spre­chend hat die Kläge­rin zu­letzt die un­be­zahl­te Frei­stel­lung von der Ar­beits­pflicht für kon­kret be­nann­te Ta­ge im Jah­re 2009 ver­langt. Die Be­klag­te hat dem­ge­genüber gel­tend ge­macht, sie wer­de das Frei­stel­lungs­be­geh­ren der Kläge­rin - so­weit sie im Drei­schicht­be­trieb beschäftigt sei - bei der Schicht­pla­nung berück­sich­ti­gen. Ei­ne wei­ter­ge­hen­de un­be­zahl­te Frei­stel­lung von der Ar­beits­pflicht lehn­te sie ab.

Mit Schrift­satz vom 10. Ju­ni 2010 hat die Kläge­rin den Rechts­streit in der Haupt­sa­che für er­le­digt erklärt; die Be­klag­te hat sich dem an­ge­schlos­sen.

B. Nach den übe­rein­stim­men­den Er­le­di­gungs­erklärun­gen ist gem. § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO un­ter Berück­sich­ti­gung des bis­he­ri­gen Sach- und Streit­stan­des nach bil­li­gem Er­mes­sen über die Kos­ten des Rechts­streits zu ent­schei­den. Da­nach hat die Kläge­rin die Kos­ten des Rechts­streits zu tra­gen. Die


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Fra­ge, ob der von der Kläge­rin ge­stell­te An­trag auf Frei­stel­lung von Ar­beits­pflich­ten als An­trag auf ei­ne zukünf­ti­ge Leis­tung zulässig war, be­darf da­bei im Rah­men der Kos­ten­ent­schei­dung nach § 91a ZPO kei­ner Ent­schei­dung. Ih­re zulässi­ge Re­vi­si­on wäre je­den­falls un­be­gründet ge­we­sen. Für das Frei­stel­lungs­be­geh­ren der Kläge­rin fehlt es an ei­ner Rechts­grund­la­ge.

I. So­weit die Kläge­rin während der Zeit der Orts­vor­stands­sit­zun­gen zu ar­bei­ten hat, kann sie von der Be­klag­ten nach Art. 9 Abs. 3 GG kei­ne un­be­zahl­te Frei­stel­lung von ih­rer Ar­beits­pflicht ver­lan­gen.

1. Die Teil­nah­me der Kläge­rin an den Sit­zun­gen des Orts­vor­stands der IG Me­tall stellt al­ler­dings ei­ne durch Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te ko­ali­ti­ons­spe­zi­fi­sche Betäti­gung dar. Der Schutz die­ses Grund­rechts be­schränkt sich nicht auf die­je­ni­gen Tätig­kei­ten, die für die Er­hal­tung und die Si­che­rung des Be­stands der Ko­ali­ti­on un­erläss­lich sind, son­dern um­fasst al­le ko­ali­ti­ons­spe­zi­fi­schen Ver­hal­tens­wei­sen des Ver­bands und sei­ner ein­zel­nen Mit­glie­der (BVerfG 14. No­vem­ber 1995 - 1 BvR 601/92 - BVerfGE 93, 352). Da­zu zählt auch die Mit­wir­kung in ge­werk­schaft­li­chen Or­ga­nen und bei de­ren Wil­lens­bil­dung.

Hier­aus al­lein er­gibt sich je­doch noch kein An­spruch auf un­be­zahl­te Frei­stel­lung von der Ar­beits­pflicht. Die Kläge­rin lässt un­berück­sich­tigt, dass sie mit dem Ab­schluss des Ar­beits­ver­trags und den da­mit ein­ge­gan­ge­nen Bin­dun­gen in zulässi­ger Wei­se auch über Grund­rechts­po­si­tio­nen verfügt hat. Mit der Be­gründung des Ar­beits­verhält­nis­ses hat sie der Be­klag­ten zu­ge­sagt, ihr im Rah­men der ver­trag­lich ver­ein­bar­ten Ar­beits­zeit ih­re Ar­beits­kraft zur Verfügung zu stel­len. In die­sem zeit­li­chen Um­fang hat sie Ein­schränkun­gen ih­rer pri­va­ten Le­bensführung hin­ge­nom­men (vgl. zu Art. 4 GG St­arck in v. Man­goldt/Klein/St­arck GG 6. Aufl. Art. 4 Rn. 137). Die da­mit ver­bun­de­ne Verfügung über Grund­rechts­po­si­tio­nen ist ei­ne we­sent­li­che Form des Grund­rechts­ge­brauchs und um der per­so­na­len Selbst­be­stim­mung wil­len grundsätz­lich zulässig (ErfK/Die­te­rich 10. Aufl. Einl. GG Rn. 63). Die ver­trag­lich ver­ein­bar­te Ar­beits­zeit ist da­her für sich be­trach­tet kei­ne Ab­re­de, wel­che die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te Ko­ali­ti­ons­betäti­gungs­frei­heit un­zulässig ein­schränkt oder be­hin­dert (Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG).


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2. Mit der Ein­ge­hung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses und der da­mit ver­bun­de­nen Grund­rechts­dis­po­si­ti­on ver­lie­ren ver­fas­sungs­recht­lich geschütz­te Frei­heits­rech­te je­doch nicht je­de Be­deu­tung. Durch den Ar­beits­ver­trag wer­den nicht nur Haupt­leis­tungs­pflich­ten, son­dern auch ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflich­ten (§ 241 Abs. 2 BGB) be­gründet. Die­se sind un­ter Be­ach­tung ver­fas­sungs­recht­li­cher Wer­tent­schei­dun­gen zu kon­kre­ti­sie­ren. Ent­spre­chen­des gilt bei der Ausübung des dem Ar­beit­ge­ber nach § 106 Ge­wO zu­ste­hen­den Wei­sungs­rechts zur Ver­tei­lung der ver­trag­lich ge­schul­de­ten Ar­beits­zeit. Nach die­ser Vor­schrift hat der Ar­beit­ge­ber In­halt, Ort und Zeit der Ar­beits­leis­tung näher zu be­stim­men, so­weit die­se Ar­beits­be­din­gun­gen nicht durch den Ar­beits­ver­trag, Be­stim­mun­gen ei­ner Be­triebs­ver­ein­ba­rung, ei­nes an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trags oder ge­setz­li­che Vor­schrif­ten fest­ge­legt sind. Die Leis­tungs­be­stim­mung ist nach bil­li­gem Er­mes­sen zu tref­fen. Das ver­langt vom Ar­beit­ge­ber ei­ne Abwägung der wech­sel­sei­ti­gen be­rech­tig­ten In­ter­es­sen un­ter Ein­be­zie­hung ver­fas­sungs­recht­li­cher Wer­tent­schei­dun­gen (vgl. BAG 15. Sep­tem­ber 2009 - 9 AZR 757/08 - EzA Ge­wO § 106 Nr. 4). Da­zu gehört auch die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschütz­te Ko­ali­ti­ons­betäti­gungs­frei­heit des Ar­beit­neh­mers. Da im Rah­men der nach § 106 Ge­wO vor­zu­neh­men­den Abwägung die be­rech­tig­ten be­trieb­li­chen In­ter­es­sen des Ar­beit­ge­bers zu berück­sich­ti­gen sind, kann da­hin­ste­hen, ob die von der Kläge­rin in der Re­vi­si­on vor­ge­nom­me­ne Ein­schränkung ih­res Kla­ge­an­trags durch den Zu­satz „so­weit be­trieb­li­che Gründe nicht ent­ge­gen­ste­hen“ wirk­sam er­folgt ist.

3. Da­nach be­steht kei­ne ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht der Be­klag­ten, die Kläge­rin - wie von ihr be­gehrt - ge­ne­rell von 12.00 bis 18.00 Uhr zur Teil­nah­me an den um 13.00 Uhr be­gin­nen­den Orts­vor­stands­sit­zun­gen der Ge­werk­schaft von der Ar­beit frei­zu­stel­len. Auch un­ter Berück­sich­ti­gung der Be­deu­tung der Ko­ali­ti­ons­betäti­gungs­frei­heit über­wiegt das In­ter­es­se der Be­klag­ten an der Ein­hal­tung der ver­trag­lich be­gründe­ten Ar­beits­pflicht das In­ter­es­se der Kläge­rin an der Teil­nah­me der re­gelmäßig an ei­nem Werk­tag um 13.00 Uhr be­gin­nen­den Sit­zun­gen. Die Fest­le­gung die­ser Sit­zungs­ter­mi­ne fällt in den Ver­ant­wor­tungs­be­reich des Orts­vor­stands. Als des­sen Mit­glied wäre es Sa­che der Kläge­rin ge­we­sen, dar­auf hin­zu­wir­ken, dass die Sit­zun­gen nicht um


 

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die Mit­tags­zeit be­gin­nen und da­mit ei­ne Kol­li­si­on mit den Ar­beits­pflich­ten voll­zeit­beschäftig­ter eh­ren­amt­lich täti­ger Ge­werk­schafts­mit­glie­der aus­zu­sch­ließen. Ihr Ein­wand, sie ha­be kei­nen Ein­fluss auf die Ter­min­fest­set­zung, ist im Verhält­nis zur Be­klag­ten un­be­acht­lich.

II. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Kläge­rin er­gibt sich we­gen der Teil­nah­me an den Orts­vor­stands­sit­zun­gen der IG Me­tall auch kein Leis­tungs­ver­wei­ge­rungs­recht nach § 275 Abs. 3 BGB. Auch in­so­weit geht es um das Span­nungs­verhält­nis von Ver­trags­treue und Un­zu­mut­bar­keit der Ar­beits­leis­tung. Da­bei ist wie bei § 241 Abs. 2 BGB zu berück­sich­ti­gen, dass der auf 13.00 Uhr fest­ge­leg­te Sit­zungs­be­ginn bei Voll­zeit­beschäftig­ten of­fen­kun­dig re­gelmäßig zu ei­ner Kol­li­si­on mit be­ste­hen­den Ar­beits­pflich­ten führt. Da ei­ne Ver­le­gung des Sit­zungs­be­ginns auf ei­nen späte­ren Zeit­punkt nicht aus­nahms­los unmöglich ist, steht der Kläge­rin we­gen der Teil­nah­me an ge­werk­schaft­li­chen Orts­vor­stands­sit­zun­gen kein Leis­tungs­ver­wei­ge­rungs­recht zu.

III. So­weit die Kläge­rin im Schicht­dienst tätig ist, hat die Be­klag­te bei der Schicht­ein­tei­lung al­ler­dings den Wunsch der Kläge­rin an ei­ner Teil­nah­me an den ge­werk­schaft­li­chen Orts­vor­stands­sit­zun­gen zu berück­sich­ti­gen. Da­bei ist zu be­ach­ten, dass die Auf­stel­lung der Schicht­pläne nicht al­lein durch die Be­klag­te er­folgt, son­dern gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2 Be­trVG un­ter Be­ach­tung des Mit­be­stim­mungs­rechts des Be­triebs­rats. Die Be­triebs­par­tei­en ha­ben da­bei ne­ben an­de­ren In­ter­es­sen, wie et­wa der Ver­ein­bar­keit von Fa­mi­lie und Er­werbstätig­keit (da­zu BAG 16. De­zem­ber 2008 - 9 AZR 893/07 - AP Tz­B­fG § 8 Nr. 27 = EzA Tz­B­fG § 8 Nr. 23), auch den Wunsch der Kläge­rin an ei­ner Teil­nah­me an Sit­zun­gen des Orts­vor­stands zu be­ach­ten. Die­se Ter­mi­ne ste­hen weit im Vor­aus fest. Die da­mit ver­bun­de­ne zeit­li­che Bin­dung der Kläge­rin kann oh­ne Wei­te­res in die Schicht­pla­nung ein­fließen. Da­von geht auch die Be­klag­te aus.

 

Schmidt Koch Linck

 

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