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ARBEITSRECHT AKTUELL // 08/011

Streik­recht ver­sus Nie­der­las­sungs­frei­heit

Die Ver­trags­be­stim­mun­gen über die Nie­der­las­sungs­frei­heit gel­ten auch bei Streiks, wenn ei­ne Ge­werk­schaft da­mit ei­nen Ta­rif­ver­trag er­strebt, der die Nie­der­las­sungs­frei­heit be­schränkt: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 11.12.2007, Rs. C-438/05 (Vi­king Li­ne)
Streik viele Streikende Der EuGH ist kein Vor­kämp­fer der Streik­frei­heit

18.01.2008. Streiks kön­nen die Nie­der­las­sungs­frei­heit von Un­ter­neh­men in­ner­halb der Eu­ro­päi­schen Uni­on (EU) be­gren­zen, wenn sie die Ver­la­ge­rung von Be­trie­ben in Län­der mit nied­ri­ge­rem Lohn­ni­veau ver­hin­dern sol­len.

In dem Streit zwi­schen ei­ner fin­ni­schen Ge­werk­schaft und ei­ner fin­ni­schen Ree­de­rei, die ei­nes ih­rer Schif­fe zum Zwe­cke der Lohn­kos­ten­sen­kung künf­tig mit est­ni­scher Be­sat­zung fah­ren las­sen woll­te, ent­schied der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH), dass die Ein­schrän­kung der Nie­der­las­sungs­frei­heit nur un­ter en­gen Vor­aus­set­zun­gen ge­recht­fer­tigt sein kann.

Hier nennt der Ge­richts­hof die kon­kre­te ob­jek­ti­ve Ge­fähr­dung von Ar­beits­plät­zen und die ob­jek­ti­ve "Er­for­der­lich­keit" von Streiks zur Er­rei­chung der ge­werk­schaft­li­chen Zie­le: EuGH, Ur­teil vom 11.12.2007, C-438/05 (Vi­king Li­ne).

Darf ei­ne Ge­werk­schaft mit Streiks ein Un­ter­neh­men dar­an hin­dern, sei­ne Pro­duk­ti­on in ein an­de­res EU-Land mit ge­rin­ge­rem Lohn­ni­veau zu ver­la­gern?

Im EU-Ver­trag ist fest­ge­schrie­ben, dass Un­ter­neh­men ih­re Be­trie­be von ei­nem in ein an­de­res Land der EU ver­le­gen können, d.h. es be­steht Nie­der­las­sungs­frei­heit für die Un­ter­neh­mer der Eu­ropäischen Uni­on.

Was dem ei­nen sei­ne un­ter­neh­me­ri­sche Frei­heit ist, ist für an­de­re ei­ne Be­schnei­dung von Ar­beit­neh­mer­rech­ten und so­zia­ler Kahl­schlag. Die "an­de­ren" sind im Fal­le der Nie­der­las­sungs­frei­heit Ge­werk­schaf­ten und an­de­re Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tun­gen in EU-Ländern mit ho­hem Lohn­ni­veau, die durch die "Frei­heit" der Ver­la­ge­rung von Ar­beitsplätzen aus ih­rem Land in ein an­de­res EU-Land mit ge­rin­ge­rem Lohn­ni­veau den Ab­bau von Ar­beitsplätzen befürch­ten.

Hier kommt es im­mer wie­der zu Ar­beitskämp­fen, d.h. zu Streiks ge­gen Un­ter­neh­men, die Ar­beitsplätze an bil­li­ge­re Stand­or­te in­ner­halb der EU ver­la­gern wol­len. Sol­che Streit­ks sind ih­rer­seits durch eu­ropäisches Recht ab­ge­si­chert, so dass sich die Fra­ge stellt, was hier Vor­rang hat: Die un­ter­neh­me­ri­sche Frei­heit der Nie­der­las­sung oder das Streik­recht von Ge­werk­schaf­ten und Ar­beit­neh­mern.

Um die­sen Kon­flikt geht es in ei­ner ak­tu­el­len Ent­schei­dung des EuGH (EuGH, Ur­teil vom 11.12.2007, C-438/05 - Vi­king Li­ne).

Der Streit­fall: Die fin­ni­sche Ree­de­rei Vi­king Li­ne möch­te ein Schiff künf­tig un­ter est­ni­scher Flag­ge mit bil­li­ge­ren est­ni­schen Ar­beit­neh­mern fah­ren las­sen - und wird da­her prompt be­streikt

Die fin­ni­sche Ree­de­rei Vi­king Li­ne plan­te, ei­nes ih­rer fin­ni­schen Schif­fe un­ter est­ni­scher Flag­ge fah­ren zu las­sen um est­ni­sche Mit­ar­bei­ter zu we­sent­lich nied­ri­ge­ren Gehältern ein­stel­len zu können.

Die fin­ni­sche Ge­werk­schaft FSU droh­te mit Streik, u.a. um den Ab­schluss ei­nes Ta­rif­ver­tra­ges zu er­rei­chen, der vor­sah, dass die Vi­king Li­ne auch im Fal­le der „Um­flag­gung“ wei­ter­hin fin­ni­sches Ar­beits­recht zu be­ach­ten hat und auf die Ent­las­sung fin­ni­scher Ar­beit­neh­mer ver­zich­tet. Die In­ter­na­tio­na­le Ge­werk­schaft ITF rief ih­re Mit­glieds­or­ga­ni­sa­tio­nen in ei­nem Rund­schrei­ben da­zu auf, kei­ne Ver­hand­lun­gen mit der Vi­king Li­ne zu führen.

Die Vi­king Li­ne klag­te vor den eng­li­schen Ge­rich­ten und be­gehr­te von der ITF, das Rund­schrei­ben zurück­zu­zie­hen und von der FSU die Un­ter­las­sung von Maßnah­men, die ih­re Nie­der­las­sungs­frei­heit hin­sicht­lich der „Um­flag­gung“ be­ein­träch­ti­gen.

Der Court of Ap­peal (Eng­land und Wa­les) setz­te das Ver­fah­ren aus, um dem EuGH ei­ni­ge Fra­gen zur Vor­ab­ent­schei­dung vor­zu­le­gen, die die Aus­le­gung von Art. 43 EG und der Ver­ord­nung (EWG) Nr. 4055/86 des Ra­tes vom 22.12.1986 zur An­wen­dung des Grund­sat­zes des frei­en Dienst­leis­tungs­ver­kehrs auf die See­schiff­fahrt zwi­schen Mit­glied­staa­ten so­wie zwi­schen Mit­glied­staa­ten und Drittländern be­tref­fen.

EuGH: Die im EU-Ver­trag ent­hal­te­ne Nie­der­las­sungs­frei­heit gilt auch bei Streiks, wenn ei­ne Ge­werk­schaft da­mit ei­nen Ta­rif­ver­trag er­strebt, der die Nie­der­las­sungs­frei­heit be­schränkt

Der EuGH hat zunächst dar­auf hin­ge­wie­sen, dass das Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen „hy­po­the­ti­schen Cha­rak­ter“ ha­be, da bis­lang ei­ne „Um­flag­gung“ nicht statt­ge­fun­den ha­be. Dem­gemäß sei­en die dem Ge­richt ge­stell­ten Fra­gen le­dig­lich in­so­weit zu be­ant­wor­ten, wie die Aus­le­gung des Art.43 EG (Nie­der­las­sungs­frei­heit) be­trof­fen sei.

Die Ver­trags­be­stim­mun­gen über die Nie­der­las­sungs­frei­heit sei­en auch auf kol­lek­ti­ve Maßnah­men wie den Streik an­zu­wen­den, wenn ei­ne Ge­werk­schaft die­se be­trei­be, um ein Un­ter­neh­men da­zu zu brin­gen, ei­nen Ta­rif­ver­trag mit dem Ziel ab­zu­sch­ließen, das Un­ter­neh­men da­von ab­zu­hal­ten, von sei­ner Nie­der­las­sungs­frei­heit Ge­brauch zu ma­chen.

Kol­lek­ti­ve Maßnah­men wie der hier an­ge­droh­te Streik stel­len nach An­sicht des EuGH ei­ne Ein­schränkung der Nie­der­las­sungs­frei­heit dar. Die Ein­schränkung der Nie­der­las­sungs­frei­heit ei­nes Un­ter­neh­mens könne aber ge­recht­fer­tigt sein, wenn mit ih­nen ein le­gi­ti­mer Zweck wie bei­spiels­wei­se die Si­che­rung von Ar­beitsplätzen und Ar­beits­be­din­gun­gen an­ge­strebt wer­de und außer­dem al­le an­de­ren Möglich­kei­ten zur Kon­fliktlösung aus­geschöpft sei­en. Vor­aus­set­zung sei al­ler­dings, dass Ar­beitsplätze bzw. Ar­beits­be­din­gun­gen tatsächlich gefähr­det oder ernst­haft be­droht sei­en und die kol­lek­ti­ve Maßnah­me zur Zweck­er­rei­chung ge­eig­net und er­for­der­lich ist.

Der EuGH räumt da­mit we­der dem Streik­recht der Ge­werk­schaft noch der Nie­der­las­sungs­frei­heit der Vi­king Li­ne ei­nen grundsätz­li­chen Vor­rang ein, son­dern überlässt dem na­tio­na­len Ge­richt die Prüfung, ob die kol­lek­ti­ve Maßnah­me durch zwin­gen­de Gründe des All­ge­mein­wohls ge­recht­fer­tigt ist und zur Zweck­er­rei­chung ge­eig­net und ins­be­son­de­re er­for­der­lich ist, mit­hin kei­ne we­ni­ger ein­schnei­den­den Maßnah­men in Be­tracht kom­men.

Ob der EuGH mit die­ser Ent­schei­dung zum Vor­rei­ter des Streik­rechts in der EU ge­wor­den ist, ist zu be­zwei­feln.

Denn ers­tens knüpft der Ge­richts­hof den Vor­rang der Streik­frei­heit an sehr har­te Be­din­gun­gen, die kei­nes­falls im­mer erfüllt sein müssen (tatsächli­che Gefähr­dung von Ar­beitsplätzen, Streiks als ob­jek­tiv "er­for­der­li­che" Maßnah­me zur Ab­wehr die­ser Ge­fahr).

Und zwei­tens hat­te sich der Ge­richts­hof nur we­ni­ge Ta­ge später, am 18.12.2007, in ei­nem ähn­li­chen Streit­fall mit der Fra­ge zu beschäfti­gen, ob ei­ne Ar­beits­kampf­maßnah­me, mit der ei­ne schwe­di­sche Ge­werk­schaft ein ausländi­sches Dienst­leis­tungs­un­ter­neh­men zur Auf­nah­me von Lohn­ver­hand­lun­gen und zum Bei­tritt zu ei­nem Ta­rif­ver­trag brin­gen woll­te, ge­gen Ge­mein­schafts­recht verstößt oder nicht (EuGH, Ur­teil vom 18.12.2007, C-341/05 - La­val).

In dem dort ent­schie­de­nen Fall hat­te ei­ne let­ti­sche Ge­sell­schaft Ar­beit­neh­mer aus Lett­land zur Durchführung von Bau­ar­bei­ten nach Schwe­den ge­sandt, wo die Ar­bei­ten von de­ren Toch­ter­fir­ma aus­geübt wur­den. Die da­ge­gen ge­rich­te­ten Bau­stel­len­blo­cka­den in Schwe­den be­wer­te­te der EuGH als ei­ne Be­schränkung des frei­en Dienst­ver­kehrs, die im kon­kre­ten Fall nicht durch das All­ge­mein­in­ter­es­se des Ar­beits­schut­zes ge­recht­fer­tigt sei.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen zu die­sem Vor­gang fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 8. Januar 2014

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