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ArbG Gera, Urteil vom 17.09.2012, 4 Ca 245/12
Schlagworte: | Betriebsübergänge, Widerspruchsrecht, Unterrichtung | |
Gericht: | Arbeitsgericht Gera | |
Aktenzeichen: | 4 Ca 245/12 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 17.09.2012 | |
Leitsätze: | ||
Vorinstanzen: | ||
Arbeitsgericht Gera
Aktenzeichen (bitte stets angeben)
4 Ca 245/12
Verkündet
am 27.09.2012
______________________________
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Im Namen des Volkes!
U R T E I L
In dem Rechtsstreit
- Kläger -
Prozessbevollmächtigte/r:
gegen
- Beklagte/r -
Prozessbevollmächtigte/r:
hat das Arbeitsgericht Gera, 4. Kammer,
auf die mündliche Verhandlung vom 24.07.2012
durch Richterin am Arbeitsgericht
sowie die ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf € 9.000,00 festgesetzt.
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4. Soweit die Berufung nicht bereits nach § 64 II ArbGG statthaft ist, wird sie nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über den weiteren Bestand eines Arbeitsverhältnisses nach Widerspruch gegen einen Betriebsübergang.
Die Klagepartei war seit 1991 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Am 01.07.2007 fand ein Betriebsübergang auf die V. GmbH statt, danach am 01.08.2008 ein weiterer auf die Fa. T. GmbH. Letzteres wurde zum 30.06.2012 wegen Betriebsschließung gekündigt. Die letzte Bruttovergütung betrug ca. € 3000,--.
Die V. GmbH, ein 100prozentiges Tochterunternehmen der Beklagten, informierte mit Schreiben vom 26.07.2007 die Klagepartei darüber, dass ihr Beschäftigungsbetrieb in G. im Rahmen eines Betriebsüberganges von der Beklagten auf sie, die V. GmbH, übergehen solle. Wegen des Inhaltes dieses Informationsschreibens im Einzelnen wird auf die zur Akte gereichte Anlage K 3 (Bl. 22 ff.) verwiesen.
Mit Schreiben vom 25.10.2008 informierte die V. GmbH zusammen mit der T. GmbH die Klagepartei über einen weiteren geplanten Betriebsübergang von der V. GmbH auf die T. GmbH. Wegen der Einzelheiten des Inhaltes dieses Informationsschreibens wird auf die zur Akte gereichte Anlage K4 (Bl. 28 ff.) verwiesen. Mit Wirkung zum 01.12.2008 übernahm die T. GmbH den Beschäftigungsbetrieb am Standort G..
Die Klagepartei unterzeichnete am 21. Dezember 2009 einen die bisherigen Arbeitsbedingungen abändernden Arbeitsvertrag mit der Beklagten. In diesen überwiegend gleich lautenden Arbeitsverträgen heißt es auszugsweise:
§ 1
...
"Dieser Arbeitsvertrag regelt abschließend und vollständig die individualrechtlichen Rechte und Pflichten zwischen den Parteien mit Wirkung ab dem 01.01.2010. Er löst die bis dahin bestehenden individuellen Regelungen vollständig ab, insbesondere gelten in dem Arbeitsverhältnis seit dem 01.01.2010 keine tarifvertraglichen Regelungen kollektivrechtlich
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oder individualrechtlich.
Der Arbeitgeber verzichtet gegenüber dem Mitarbeiter bis zum 30.11.2013 auf den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen am Standort mit Ausnahme einer Betriebsstilllegung.
Sollte der Arbeitsvertrag wegen einer Betriebsstilllegung vor dem 30.11.2013 beendet werden, so gewährt der Arbeitgeber dem Mitarbeiter mit Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis eine Lohnnachzahlung in Höhe der Differenz der gezahlten Bruttolöhne der letzten zwölf Monate vor Ausscheiden zu dem Betrag von .................... € nach folgender Staffel: bei Ausscheiden bis zum 31.12.2011 in voller Höhe, bei Ausscheiden bis zum 31.12.2012 in Höhe von 2/3 und bei Ausscheiden bis zum 31.12.2013 in Höhe von 1/3 der Differenz."
Vorausgegangen waren im Jahre 2009 Verhandlungen mit dem Betriebsrat über Kostensenkungen zur dauerhaften Sicherung der Standorte, sowie im November schließlich die Mitteilung der Geschäftsführung, dass die Schließung des Standortes G. wegen anhaltender wirtschaftlicher Unterdeckung bevorstehe (Anlage K 17). Hierzu gab es im Dezember eine Großveranstaltung und letztlich das Angebot zum Abschluss eines Änderungsvertrages, den die Klägerseite unterzeichnete.
Auch der Betriebsrat schloss eine Betriebsvereinbarung.
Das Arbeitsverhältnis wurde zum 30.06.2012 gekündigt.
Die Klagepartei focht diesen Arbeitsvertrag gegen die Fa. T. GmbH an.
Das Informationsschreiben der V. GmbH zum Betriebsübergang des Callcenter G. von der Beklagten auf die V. GmbH vom 26.07.2007 fand gleich lautend Anwendung bei mehreren zeitgleichen Betriebsübergängen von ähnlichen Betrieben wie dem Beschäftigungsbetrieb der Klagepartei von der Beklagten auf die V. GmbH und war Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Mit Entscheidung vom 26.05.2011 (8 AZR 18/10) wies das BAG die Revision gegen das abweisende Urteil des sächsischen Landesarbeitsgerichts zurück mit der Begründung, das Unterrichtungsschreiben gebe das Haftungssystem, insbesondere die begrenzte gesamtschuldnerische Nachhaftung gemäß § 613 Abs. 2 BGB, nicht korrekt
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wieder, was für die Entscheidung des Arbeitnehmers, ob er dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses im Rahmen des Betriebsübergangs widersprechen möchte oder nicht, von Bedeutung sei.
Die Klagepartei widersprach mit Schreiben vom 03.11.2011 dem Betriebsübergang zum 01.07.2007.
Die Klagepartei ist der Ansicht, dass die Widerspruchsfrist des § 613 Abs. 6 BGB aufgrund des fehlerhaften Informationsschreibens vom 26.07.2007 nicht habe zu laufen begonnen, so dass ihr Widerspruch rechtzeitig sei. Ihr Widerspruchsrecht sei auch nicht verwirkt, denn es fehle mindestens an einem Umstandsmoment. Keinesfalls habe sie über das Arbeitsverhältnis in einer Art und Weise disponiert, die einem Umstandsmoment zu begründen geeignet sei. Widerspruchsloses Weiterarbeiten auch nach einem weiteren Betriebsübergang begründe kein Umstandsmoment. Der Abschluss des neuen Arbeitsvertrages genüge hierzu nicht.
Auch verlange das BAG positive Kenntnis einer der Parteien von den vertrauensbildenden Umständen. Es könne hierbei jedoch nur auf den Zeitpunkt vor Ausübung des Widerspruchsrechts abgestellt werden. Zu diesem Zeitpunkt habe die Beklagte unbestritten keine Kenntnis über den abgeschlossenen Arbeitsvertrag gehabt.
Im Übrigen sei der Arbeitsvertrag mit der Fa. T. auch wirksam angefochten worden, denn sie sei arglistig getäuscht und widerrechtlich bedroht worden. Sie habe den Arbeitsvertrag nur deshalb unterschrieben, weil ihr versprochen worden sei, dass sie bis Ende 2013 nicht entlassen werde und dass der Betrieb nicht stillgelegt werde. Die Beklagte habe dies ständig suggeriert, da sie mitgeteilt habe, dass dann wenn genügend Arbeitnehmer die neuen Arbeitsverträge unterschrieben, der Betrieb fortgeführt werden könne. Davon sei dann ausgegangen worden. Sie ist der Ansicht, sie sei damit arglistig getäuscht worden. Alle hätten von Anfang an gewusst, dass der Betrieb stillgelegt werden müsse. Durch die Ankündigung einer Kündigung, falls nicht genügend Arbeitnehmer die neuen Verträge unterschrieben, sei sie auch durch widerrechtliche Drohung zur Unterschrift gebracht worden. Sie habe über die Rechtsfolgen geirrt. Der Arbeitsvertrag verstoße auch gegen die Vorschriften über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§ 305 BGB ff.). Er sei intransparent. Ausnahmsweise sei Gesamtunwirksamkeit des Arbeitsvertrages wegen Verstoßes einiger Klauseln gegen die §§ 305 BGB f. anzunehmen, da für sie das Festhalten am Arbeitsvertrag unzumutbar sei.
Hilfsweise meint die Klagepartei, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihr nach den Bestimmungen der Tarifverträge der Beklagten, die kraft der kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel des Arbeitsvertrages mit Stand 31.08.2007 weiter gelten würden, ein Vertragsangebot ab dem 01.07.2012 zu unterbreiten. Sie macht Rechte aus dem TV-Ratio
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geltend. Sie ist der Ansicht, die Betriebsübergänge seien personalwirtschaftliche Maßnahmen i.S. der Regelungen des TV-Ratio. Hilfsweise fordert sie die Abgabe eines Angebotes auf Abschluss eines Änderungsvertrages bzw. eines Auflösungsvertrages mit Abfindungsregelung.
Die Klagepartei beantragt,
1. Es wird festgestellt, dass zwischen den Parteien über den 01.09.2007 hinaus ein Arbeitsverhältnis besteht.
2. Für den Fall des Unterliegens mit dem Klageantrag zu 1. wird hilfsweise beantragt,
a. Die Beklagte wird verurteilt, der Klagepartei ein Angebot auf Abschluss eines Änderungsvertrages gemäß § 5 Abs. 1 des Tarifvertrages Rationalisierungsschutz und Beschäftigungssicherung (TV-Ratio) zu unterbreiten.
b. Die Beklagte wird verurteilt, der Klagepartei einen Auflösungsvertrag mit Abfindungsregelung gemäß § 5 Absatz 2 des Tarifvertrages Rationalisierungsschutz und Beschäftigungssicherung (TV-Ratio) anzubieten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Klagepartei habe ihr Recht zum Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses im Rahmen des Betriebsübergangs auf die V. GmbH verwirkt. Sie habe zunächst widerspruchslos über mehr als 4 Jahre weiter gearbeitet. Das Zeitmoment sei damit offensichtlich erfüllt. Auch das Umstandsmoment liege vor. Zeitmoment und Umstandsmoment stünden in Wechselwirkung miteinander. Je stärker das gesetzte Vertrauen oder die Umstände, die eine Geltendmachung für den Anspruchsgegner unzumutbar machen, desto schneller könne ein Anspruch verwirken.
Dadurch, dass die Klagepartei auch einem weiteren Betriebsübergang nicht widersprochen habe und mit der T. GmbH einen neuen Arbeitsvertrag geschlossen habe, habe sie nicht
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lediglich weitergearbeitet, sondern die Arbeitgeberstellung des letzten Betriebsübernehmers, der T. GmbH, anerkannt. Im Übrigen sei ein Lawineneffekt zu befürchten, dass zahlreiche Arbeitnehmer nunmehr von ihren Widerspruchsrecht Gebrauch machten. Das sei der Beklagten unzumutbar.
Auch die Hilfsanträge seien unbegründet. Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Weitergeltung eines vormals beim Veräußerer geltenden kollektivrechtlich anwendbaren Tarifvertrages sich nur auf den normativen Teil beziehe. In erster Linie seien das die Inhaltsnormen, nicht jedoch der TV-Ratio.
Der TV-Ratio sei hier auch nicht anwendbar. Ein Betriebsübergang wie der von 2007 sei nicht als personalwirtschaftliche Maßnahme zu sehen und daher nicht von dem Tarifvertrag erfasst.
Auch sei der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen nach § 11 TV Ratio zwischenzeitlich ausgelaufen, da die zum Zeitpunkt des Überganges geltende Fassung zum 31.08.2008 ausgelaufen sei.
Hinsichtlich weiterem Sach- und Rechtsvortrag der Parteien wird auf deren wechselseitige Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
I.
Zwischen den Parteien besteht kein Arbeitsverhältnis mehr. Das Recht zum Widerspruch gemäß § 613 Abs. 6 BGB gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses war zum Zeitpunkt der Ausübung verwirkt. Das mit der Beklagten unstreitig begründete Arbeitsverhältnis ist durch einen Betriebsübergangs auf die V. GmbH übergegangen.
Unstreitig ist, dass die Klagepartei mit Schreiben vom 03.11.2011 dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die V. GmbH im Rahmen des Betriebsübergangs zum 01.09.2007 widersprochen hat.
Es ist zwar davon auszugehen ist, dass infolge der nicht den Anforderungen des § 613a Abs. 5 BGB entsprechenden Unterrichtung der Klagepartei zum Betriebsübergang die
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einmonatige Widerspruchsfrist des § 613a Abs. 6 BGB nicht in Lauf gesetzt wurde (z.B. BAG vom 18.03.2010 – 8 AZR 840/08) und das Widerspruchsrecht zum Zeitpunkt der Ausübung nicht nach § 613a Abs. 6 BGB verfristet war. Es war jedoch verwirkt, weil sowohl Zeit - als auch Umstandsmoment verwirklicht waren.
In seinem Urteil vom 15.03.2012 – 8 AZR 700/10- führt der 8.Senat des BAG aus:
„Das Widerspruchsrecht kann wegen Verwirkung ausgeschlossen sein. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber eine Widerspruchsfrist eingeführt hat, schließt eine Anwendung der allgemeinen Verwirkungsgrundsätze nicht aus, weil jedes Recht nur unter Berücksichtigung der Grundsätze von Treu und Glauben ausgeübt werden kann (st. Rspr., vgl. BAG 22. Juni 2011 - 8 AZR 752/09 - Rn. 28, DB 2011, 2385; 12. November 2009 - 8 AZR 751/07 - AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 12). Die Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 steht dem nicht entgegen. Das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers ist in der Richtlinie nicht vorgesehen, jedoch vom EuGH als sich nach nationalem Recht bestimmend anerkannt (vgl. EuGH 24. Januar 2002 - C-51/00 - [Temco] Rn. 36 mwN, Slg. 2002, I-969 = AP EWG-Richtlinie Nr. 77/187 Nr. 32 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 77/187 Nr. 1). Auch zur Sanktionierung des Verstoßes gegen die Unterrichtungspflichten der Richtlinie 2001/23/EG ist ein Widerspruchsrecht ad infinitum nicht erforderlich (vgl. Sagan ZIP 2011, 1641, 1647). So erkennt der EuGH bspw. bei Ausschlussfristen das Interesse an Rechtssicherheit an, da mit solchen Fristen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert wird (vgl. EuGH 8. Juli 2010 - C-246/09 - [Bulicke] Rn. 36, Slg. 2010, I-7003 = AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 16 = EzA AGG § 15 Nr. 8). Das Widerspruchsrecht muss den Arbeitnehmern nicht unbegrenzt, sondern nur so lange erhalten bleiben, wie es für eine effektive und verhältnismäßige Sanktionierung des Unterrichtungsfehlers geboten ist (vgl. Sagan ZIP 2011, 1641, 1648).“
Grundsätzlich kann daher auch das Recht zum Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses verwirken.
Bei der Verwirkung handelt es sich um einen Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung
(§ 242 BGB). Eine illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ist damit ausgeschlossen. Die Verwirkung dient dem Vertrauensschutz und verfolgt nicht den Zweck, den Schuldner stets dann von seiner Verpflichtung zu befreien, wenn dessen Gläubiger längere Zeit seine Rechte nicht geltend gemacht haben (Zeitmoment). Der Berechtigte muss vielmehr unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckt haben, er wolle sein Recht nicht mehr geltend machen, so dass sich der Verpflichtete hierauf einstellen und davon ausgehen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Umstandsmoment).
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Das so genannte Zeitmoment der Verwirkung ist unzweifelhaft erfüllt. Der Widerspruch erfolgte erst mehr als vier Jahre nach dem Betriebsübergang vom 01.09.2007.
Die Frist für das für die Verwirkung maßgebliche Zeitmoment beginnt nicht erst ab einem bestimmten Zeitpunkt zu laufen, insbesondere nicht erst mit der umfassenden Unterrichtung oder Kenntnis des Arbeitnehmers über den Betriebsübergang und seine Folgen. Es handelt sich bei dem Zeitmoment nicht um eine gesetzliche, gerichtliche oder vertraglich vorgegebene Frist, für welche bestimmte Anfangs- und Endzeitpunkte gelten, wie sie in den §§ 186 ff. BGB geregelt sind. Vielmehr hat bei der Prüfung, ob ein Recht verwirkt ist, immer eine Gesamtbetrachtung stattzufinden, bei welcher das Zeit- und das Umstandsmoment zu berücksichtigen und in Relation zu setzen sind (BAG vom 27.11.2008 – 8 AZR 174/07). Vier Jahre sind ein ausreichend langer Zeitraum, wie das BAG in mehreren Entscheidungen bestätigt hat (vgl. u.a. BAG a.a.O und BAG vom 02.04.2009 – 8 AZR 220/07).
Es liegt auch das weiterhin erforderliche Umstandsmoment vor.
Zu Recht hat das Bundesarbeitsgericht in dem schlichten Weiterarbeiten nach einem Betriebsübergang, dem schlichten Weiterarbeiten nach einem weiteren Betriebsübergang, der Erhebung einer Kündigungsschutzklage gegen den Betriebserwerber und der Unterschrift unter einen Arbeitsvertrag, der das Arbeitsverhältnis nur hinsichtlich von Einzelheiten abändert eine solche Bedeutung nicht gesehen (BAG 26.01.2011, 8 AZR 18/10 Rn. 32 f.).
Entgegen der Auffassung der Klagepartei ist die Kammer der Auffassung, dass der Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages, der das gesamte Arbeitsverhältnis auf eine vollkommen neue Grundlage stellt, der alle alten Regelungen einschließlich der Tarifbindung außer Kraft setzt und der ausdrücklich beinhaltet, dass in Zukunft nur noch die neuen zwischen dem Betriebserwerber und dem Arbeitnehmer ausgehandelten Regelungen gelten sollen, durchaus auch eine solche beachtliche Disposition über das Arbeitsverhältnis darstellt. Das folgt aus dem Umkehrschluss der Äußerungen des BAG. Ein Arbeitsvertrag, der das Arbeitsverhältnis nur hinsichtlich von Einzelheiten abändert und nicht das Arbeitsergebnis auf eine völlig neue rechtliche Grundlage stellt, soll kein Umstandsmoment begründen können (BAG aaO). Daraus kann geschlussfolgert werden, dass ein Arbeitsvertrag, der genau dies beinhaltet, nämlich das Arbeitsverhältnis auf eine völlig neue Grundlage zu stellen, so dass nicht mehr von der Fortführung des bisherigen Vertrages ausgegangen werden kann, eine hinreichende Disposition über das Arbeitsverhältnis ist. Denn dies bedeutet auch, dass gleichsam ein Neuanfang vorliegt, weil nicht von einer Fortführung gesprochen werden kann. Wer aber mit einem neuen Arbeitgeber sein Arbeitsverhältnis auf eine völlig neue Grundlage stellt, schließt endgültig mit dem bisherigen Arbeitgeber ab und akzeptiert den neuen als den maßgeblichen Arbeitgeber. Damit ist dem mit § 613 a Abs. 6 BGB intendierten Grundrechtsschutz, dem Schutz vor einem nicht gewollten Vertragspartner, hinreichend
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Genüge getan.
Der Vertrag zwischen der Klagepartei und der Fa. T. GmbH vom Dezember 2009 stellt genau so einen Vertrag dar.
Dort heißt es in § 1, dass der Arbeitsvertrag abschließend und vollständig die individualrechtlichen Rechte und Pflichten zwischen den Parteien mit Wirkung ab dem 01.01.2010 regelt und die bis dahin bestehenden individuellen Regelungen vollständig ablöst, insbesondere sollen in dem Arbeitsverhältnis ab dem 01.01.2010 keine tarifvertraglichen Regelungen kollektivrechtlich oder individualrechtlich mehr gelten.
Noch deutlicher kann der Wortlaut nicht sein.
Des Weiteren ist auch der Gesamtzusammenhang zu sehen, in dem dieser Änderungsvertrag abgeschlossen wurde. Im Jahre 2009 hat die Betriebsschließung bevorgestanden. Das hat die Klägerseite mit ihren Anlagen deutlich gemacht. Auch zu diesem für den Bestand des Arbeitsverhältnisses der Klagepartei bedrohlichen Zeitpunkt hat diese noch immer nicht an ihren alten Arbeitgeber und einen Widerspruch gedacht, sondern schließt vielmehr diesen neuen umfassenden Vertrag. Mit diesem hat sie sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie an diesem Arbeitgeber festhalten will. Was sonst soll die Beklagte aus diesem Verhalten schließen? Sie durfte nach Abschluss eines solchen Arbeitsvertrages darauf vertrauen, dass die Klagepartei nicht weitere zwei Jahre später nach Abschluss dieses Arbeitsvertrages auf die Idee kommt, noch ein Arbeitsverhältnis zu ihr, der Beklagten, zu reklamieren. Ein solches Verhalten ist grob treuwidrig.
Die Beklagte kann sich auch auf dieses Umstandsmoment berufen. Hat einer der beiden möglichen Adressaten eines Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB Kenntnis von Umständen, die zur Verwirkung des Rechts auf Widerspruch führen, so kann sich der andere Widerspruchsadressat hierauf berufen. Insoweit werden Betriebsveräußerer und Betriebserwerber als Einheit behandelt (BAG vom 27.11.2008 – 8 AZR 174/07). Die Zurechnung vom Wissen der Fa. T. GmbH vom Änderungsvertrag genügt (BAG vom 23.07.2009 - 8 AZR 357/08). Der Beklagten als alleiniger Gesellschafter der V. GmbH ist das Wissen ebenfalls zuzurechnen.
Der Verwirkungseinwand setzt auch nicht voraus, dass der Verpflichtete eine konkret feststellbare Vermögensdisposition im Vertrauen auf die Nichtinanspruchnahme getroffen haben muss. Die Verwirkung eines Rechts kommt nur in Betracht, wenn die verspätete Inanspruchnahme für die Gegenseite - wie hier - unzumutbar erscheint. Diese Unzumutbarkeit muss sich jedoch nicht aus wirtschaftlichen Dispositionen des Verpflichteten ergeben. Solche können das Umstandsmoment zwar verstärken, sind jedoch nicht Voraussetzung für die Annahme desselben (MünchKommBGB/Roth 5. Aufl. § 242 BGB Rn. 333; Staudinger/Looschelders/Olzen [2009] § 242 Rn. 295, 311). Zudem ist in diesem Zusammenhang im Rahmen von Dauerschuldverhältnissen eine typisierende
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Betrachtungsweise angezeigt (vgl. Birr Verjährung und Verwirkung 2. Aufl. Rn. 267; Palandt/Grüneberg 70. Aufl. § 242 BGB Rn. 95). Nach einem Betriebsübergang kann davon ausgegangen werden, dass der Betriebsveräußerer mit zeitlichem Abstand zum Betriebsübergang zunehmend seine Kalkulation auf der Grundlage vorgenommen hat, dass die nach seiner und des Erwerbers Ansicht übergegangenen Arbeitsverhältnisse nicht mehr mit ihm bestehen. Einer konkret feststellbaren Vermögensdisposition des Verpflichteten, d.h. des bisherigen Arbeitgebers, bedarf es daher nicht.
Der Vertrag vom Dezember 2009 ist auch nicht deshalb als Umstandsmoment unbeachtlich, weil er wirksam angefochten wäre, denn die Anfechtung greift nicht durch und es sind auch sonst keine Gründe ersichtlich, weshalb der Vertrag unwirksam sein sollte. Im Übrigen ändert das nichts am Verwirkungseinwand.
Dieser Arbeitsvertrag ist aber auch wirksam, denn für die Kammer ist kein Anfechtungsgrund erkennbar. Die Klagepartei hat weder einen Anfechtungsgrund gem. § 123 BGB noch einen nach § 119 BGB ausreichend dargetan und nachgewiesen.
Gemäß § 123 Abs. 1 BGB kann Derjenige, der widerrechtlich durch arglistige Täuschung oder Drohung zur Abgabe einer Willenserklärung bestimmt worden ist, die Erklärung mit der Nichtigkeitsfolge des § 142 Abs. 1 BGB anfechten. Allerdings muss sich die Klägerseite an der tatsächlich erfolgten Anfechtung festhalten lassen. Das Anfechtungsschreiben enthält keine Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung.
Eine arglistige Täuschung vermag die Kammer nicht zu erkennen. Es ist bereits nicht erkennbar, dass überhaupt eine Täuschung im Sinne von § 123 BGB vorliegt. Diese muss für den Abschluss des Vertrages ursächlich, also kausal gewesen sei.
Arglist bedeutet, dass der Täuschende wissen oder erkennen musste, dass die von ihm verschwiegenen oder unrichtig dargelegten Tatsachen für die Entscheidung hinsichtlich des Vertragsabschlusses wesentlich sein würden. Erforderlich ist zumindest bedingt vorsätzliches Verhalten. Fahrlässigkeit genügt nicht. Die Klagepartei sieht die Täuschung darin, dass ihr gesagt worden sei, die Betriebsstilllegung stehe unmittelbar bevor, und könne nur noch verhindert werden, wenn die Arbeitnehmer zu den im Arbeitsvertrag angebotenen verschlechterten Bedingungen weiter arbeiten. Auch sei dann die Standortsicherung bis mindestens November 2013 gesichert. Letztlich behauptet sie, dass die Schließung schon damals für die Zukunft beabsichtigt worden sei, wozu jede Tatsachenbehauptung fehlt.
Vorzutragen und nachzuweisen hätte die Klägerseite, dass der Vertragspartner sich bei Abgabe dieser Äußerungen darüber im Klaren war, dass es sich um unzutreffende Tatsachen handelt. Behauptungen oder Vermutungen helfen da nicht weiter.
Vielmehr zeigen auch die zahlreichen beigefügten Anlagen, dass die Fa. T. GmbH mit ihren
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damaligen Geschäftsführern durchaus davon ausgegangen ist, die Schließung zunächst abwenden zu können. Und sie wurde abgewendet, zumindestens für die folgenden 2 1/2 Jahre. Diese Zeit hat die Klägerseite als Beschäftigte gewonnen.
Auch muss die Täuschung widerrechtlich sein, was nicht erkennbar ist. Die Entscheidung zur Betriebsschließung ist schließlich von der unternehmerischen Freiheit erfasst.
Worüber sich die Klägerin bei Abgabe der Willenserklärung nach § 119 BGB geirrt haben will, erschließt sich nicht. Es erschließt sich nicht, dass die Klägerseite bei Abgabe der Erklärung über den Inhalt im Unklaren war. Sie hat diesen Vertrag bewusst abgeschlossen. Dass sie die Erklärung zum Abschluss des Vertrages gar nicht abgeben wollte, ist auch nicht erkennbar.
Daher ist auch nicht nachvollziehbar, dass die Anfechtung unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern erfolgte.
Keinesfalls liegt ein Irrtum vor, weil der Klagepartei erst nach der bereits am 26.05.2011 ergangenen BAG-Entscheidung bekannt wurde, dass die Information zu einem der Betriebsübergänge nicht ordnungsgemäß war. Mag sein, dass das ausschlaggebend für die Entscheidung war, dem Betriebsübergang zu widersprechen. Was das jedoch mit der Willenserklärung zum Abschluss des Änderungsvertrages zu tun hat, erschließt sich nicht.
Aber auch der Vertrag selbst lässt an Deutlichkeit nichts missen. Die Klägerseite muss vor Unterschriftsleistung nur den Vertrag gelesen haben, um zu erkennen, dass eine Betriebsschließung gerade nicht für eine unabsehbare Zeit oder bis zum November 2013 ausgeschlossen ist. Wenn sie trotzdem unterschreibt, dann kann doch eine vorherige anders lautende Erklärung nicht mehr ursächlich für die Abgabe der entsprechenden Willenserklärung sein.
Eine Drohung im Sinne des § 123 Abs. 1 BGB setzt im Übrigen objektiv die Ankündigung eines zukünftigen Übels voraus, dessen Zufügung in irgendeiner Weise als von der Macht des Ankündigenden abhängig hingestellt wird. Eine solche liegt nicht vor. Selbst unterstellt, die Ankündigung der Betriebsschließung, wenn nicht ausreichend Mitarbeiter unterschreiben, wäre im weitesten Sinne als Drohung zu verstehen, ist deren Widerrechtlichkeit nicht erkennbar.
Die Kammer sieht auch keinen Grund, den gesamten Arbeitsvertrag für nichtig zu halten, weil er nach § 307 BGB intransparent sein könnte. Die Regelungen in § 1 und § 2 des Arbeitsvertrages sind klar und verständlich und eindeutig. Was soll daran unverständlich sein?
Auch das eigene Verhalten der Beklagten führt nicht dazu, die Situation anders zu bewerten.
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Nachdem die Klagepartei im Jahre 2009 über ihr Arbeitsverhältnis neu disponiert hat war die Beklagte gerade nicht gehalten, nach bekannt werden der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes über die fehlerhafte Unterrichtung hinsichtlich des Betriebsübergangs die Klagepartei zu informieren, um dieser die nachträgliche Ausübung eines Widerspruchsrechts zu ermöglichen.
II.
Die Hilfsanträge sind alle unbegründet, denn die Klagepartei trägt nicht vor, dass der Anwendungsbereich des in Bezug genommenen Tarifvertrags, der einzig überhaupt denkbaren Anspruchsgrundlage, eröffnet ist. Sie behauptet lediglich, die Betriebsübergänge seien Maßnahmen im Sinne von § 1 Abs. 2 d des TV Ratio. Das kann die Kammer nicht jedoch auch nicht nachvollziehen, denn Voraussetzung wäre, dass die Klagepartei durch die Maßnahme (hier Betriebsübergang) ihren Arbeitsplatz verloren hätte oder dass dieser verlegt worden wäre. Durch den Betriebsübergang hat die Klagepartei den Arbeitsplatz behalten und zwar seit 2007, also über 4 Jahre lang. Ein Betriebsübergang als solcher ist vom Geltungsbereich des TV-Ratio nicht erfasst (vgl. hierzu auch ArbG Leipzig vom 11.05.2012 – 3 Ca 461/11).
Die Klagepartei trägt gemäß § 91 ZPO die Kosten des Rechtsstreits.
Der gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzende Wert des Streitgegenstandes bemisst sich mangels anderweitiger Angaben auf das Dreifache eines Bruttomonatsentgelts als Bruttovierteljahresverdienst, weil es um eine Bestandsschutzstreitigkeit geht.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen dieses Urteil kann der Kläger das Rechtsmittel der Berufung einlegen.
Für die Beklagte ist gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel nicht gegeben.
Die Berufung kann grundsätzlich eingelegt werden, insofern es sich um eine Rechtsstreitigkeit über das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses handelt.
Die Berufung kann in vermögensrechtlichen Streitigkeiten nur eingelegt werden, wenn der Beschwerdewert 600,00 EUR übersteigt oder falls der Beschwerdewert nicht erreicht wird, die Berufung vom Arbeitsgericht, z.B. wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache, zugelassen worden ist.
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Die Berufung muss
innerhalb einer Notfrist von einem Monat
nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich bei dem
Thüringer Landesarbeitsgericht, Rudolfstraße 46, 99092 Erfurt
eingelegt werden. Dabei ist zu beachten, dass bei einer Zustellung durch Niederlegung bei einer Postanstalt die Frist bereits mit der Niederlegung und Benachrichtigung in Lauf gesetzt wird, nicht erst mit der Abholung der Sendung.
Die Berufung ist gleichzeitig oder innerhalb von zwei Monaten nach dieser Zustellung dieses Urteils schriftlich zu begründen.
Die Berufungsschrift und Berufungsbegründung müssen von einer/m bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwältin/Rechtsanwalt oder einer/m Vertreter/in einer Gewerkschaft bzw. einer Arbeitgebervereinigung oder eines Zusammenschlusses solcher Verbände eingereicht werden.
Die Vorsitzende
Richterin am Arbeitsgericht
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