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BVerwG, Ur­teil vom 29.09.2011, 2 C 32.10

   
Schlagworte: Beamtenrecht
   
Gericht: Bundesverwaltungsgericht
Aktenzeichen: 2 C 32.10
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 29.09.2011
   
Leitsätze:

1. Dienst, den Beamte über die unionsrechtlich höchstens zulässige wöchentliche Arbeitszeit hinaus leisten, muss in vollem Umfang ausgeglichen werden (im Anschluss an Urteil vom 28. Mai 2003 - BVerwG 2 C 28.02 - Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 38). Dies gilt auch für Zeiten des Bereitschaftsdienstes. (Rn.9)

2. Eine Ermäßigung des zeitlichen Ausgleichs nach Maßgabe des Mehrarbeitsrechts um fünf Stunden monatlich kommt bei Überschreitung der unionsrechtlichen Höchstarbeitszeitgrenze nicht in Betracht. (Rn.18)

3. Der Beamte muss den Ausgleichsanspruch durch einen an den Dienstherrn gerichteten Antrag geltend machen. Der vor der Antragstellung zuviel geleistete Dienst muss nicht ausgeglichen werden. (Rn.19)

Vorinstanzen: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.05.2009, 1 A 2655/07
Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 25.07.2007, 4 K 1590/06
   


BUN­DES­VER­WAL­TUN­GS­GERICHT


IM NA­MEN DES VOL­KES


UR­TEIL



BVerwG 2 C 32.10
OVG 1 A 2655/07

 

Verkündet
am 29. Sep­tem­ber 2011

 

Mel­zer
als Ur­kunds­be­am­tin der Geschäfts­stel­le


In der Ver­wal­tungs­streit­sa­che



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hat der 2. Se­nat des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 29. Sep­tem­ber 2011 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt Her­bert so­wie die Rich­ter am Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt Dr. Heitz, Dr. Mai­dow­ski, Dr. Har­tung und Dr. von der Wei­den


für Recht er­kannt:


Die Be­klag­te wird ver­pflich­tet, dem Kläger für die Zeit vom 1. Ja­nu­ar 2002 bis zum 31. De­zem­ber 2006 ei­nen Frei­zeit­aus­gleich im Um­fang von wei­te­ren 4,89 St­un­den je Ka­len­der­mo­nat zu gewähren. Die Ur­tei­le des Ober­ver­wal­tungs­ge­richts für das Land Nord­rhein-West­fa­len vom
7. Mai 2009 und des Ver­wal­tungs­ge­richts Min­den vom 25. Ju­li 2007 so­wie der Be­scheid der Be­klag­ten vom
8. De­zem­ber 2003 in der Ge­stalt des Wi­der­spruchs­be­scheids vom 21. März 2006 wer­den auf­ge­ho­ben, so­weit sie die­ser Ver­pflich­tung ent­ge­gen­ste­hen.


Die Be­klag­te trägt die Kos­ten des Ver­fah­rens.


G r ü n d e :


I

Der Kläger ist städti­scher Be­am­ter auf Le­bens­zeit und als Ober­brand­meis­ter bei der Be­rufs­feu­er­wehr der Be­klag­ten beschäftigt. Er will Frei­zeit­aus­gleich für die Über­schrei­tung der höchs­tens zulässi­gen Wo­chen­ar­beits­zeit in den Jah­ren 2002 bis 2006 er­hal­ten. Bis En­de 2006 be­trug sei­ne re­gelmäßige wöchent­li­che



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Ar­beits­zeit 56 St­un­den. Da­von ent­fie­len 31 St­un­den auf Be­reit­schafts­dienst; zwei St­un­den wur­den je­weils durch Frei­zeit aus­ge­gli­chen.


Im De­zem­ber 2001 be­an­trag­te der Kläger, ab dem 1. Ja­nu­ar 2002 bei der Ge­stal­tung der Dienst­pläne zu be­ach­ten, dass nach eu­ropäischem Ge­mein­schafts­recht höchs­tens 48 Wo­chen­stun­den ge­ar­bei­tet wer­den dürfen. Sei­ner Kla­ge, ihm Frei­zeit­aus­gleich im Um­fang von 17 St­un­den pro Mo­nat zu gewähren, hat das Ver­wal­tungs­ge­richt im Um­fang von 7 St­un­den pro Mo­nat für die Zeit ab Ok­to­ber 2005 statt­ge­ge­ben. Das Ober­ver­wal­tungs­ge­richt hat die Be­klag­te ver­pflich­tet, ins­ge­samt 12,11 St­un­den pro Mo­nat für die Zeit vom 1. Ja­nu­ar 2002 bis zum 31. De­zem­ber 2006 aus­zu­glei­chen. Zur Be­gründung hat es im We­sent­li­chen aus­geführt:


Die wöchent­li­che Ar­beits­zeit des Klägers sei in den Jah­ren 2002 bis 2006 un­ter Ver­s­toß ge­gen Uni­ons­recht um sechs Wo­chen­stun­den zu hoch fest­ge­setzt wor­den, weil der Be­reit­schafts­dienst im feu­er­wehr­tech­ni­schen Dienst als Vol­l­ar­beits­zeit ein­zu­stu­fen sei. Des­halb ste­he dem Kläger nach Treu und Glau­ben ein an­ge­mes­se­ner zeit­li­cher Aus­gleich zu. Zu viel ge­leis­te­ter Be­reit­schafts­dienst müsse al­ler­dings nur mit ei­ner Quo­te von 50 % an­ge­rech­net wer­den. Von dem sich hier­aus er­ge­ben­den An­spruch von 17,11 St­un­den sei­en noch­mals fünf St­un­den ab­zu­zie­hen, da von je­dem Be­am­ten in die­sem Um­fang aus­gleichs­lo­se Mehr­ar­beit ge­for­dert wer­den dürfe.


Mit sei­ner Re­vi­si­on rügt der Kläger die Ver­let­zung ma­te­ri­el­len Rechts. Er be­an­tragt,


die Be­klag­te zu ver­pflich­ten, dem Kläger für die Zeit vom 1. Ja­nu­ar 2002 bis zum 31. De­zem­ber 2006 Frei­zeit­aus­gleich im Um­fang von wei­te­ren 4,89 St­un­den je Ka­len­der­mo­nat zu gewähren, so­wie die Ur­tei­le des Ober­ver­wal­tungs­ge­richts für das Land Nord­rhein-West­fa­len vom 7. Mai 2009 und des Ver­wal­tungs­ge­richts Min­den vom 25. Ju­li 2007 und den Be­scheid der Be­klag­ten vom 8. De­zem­ber 2003 in der Ge­stalt des Wi­der­spruchs­be­scheids vom 21. März 2006 auf­zu­he­ben, so­weit sie die­ser Ver­pflich­tung ent­ge­gen­ste­hen.



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Die Be­klag­te be­an­tragt,


die Re­vi­si­on zurück­zu­wei­sen.


Der Ver­tre­ter des Bun­des­in­ter­es­ses beim Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt hält das Be­ru­fungs­ur­teil für rich­tig.


II

Die Re­vi­si­on des Klägers ist be­gründet. Er kann ei­nen zeit­li­chen Aus­gleich für zu­viel ge­leis­te­ten Dienst in dem von ihm be­an­trag­ten Um­fang von ins­ge­samt 17 St­un­den pro Mo­nat für die Zeit vom 1. Ja­nu­ar 2002 bis zum 31. De­zem­ber 2006 be­an­spru­chen. So­weit das Ur­teil des Ober­ver­wal­tungs­ge­richts den gel­tend ge­mach­ten An­spruch im Um­fang von 4,89 St­un­den im Mo­nat ab­ge­wie­sen hat, ver­letzt es re­vi­si­bles Recht (§ 127 Nr. 2 BRRG, § 63 Abs. 3 Satz 2 Be­am­tStG).


Der gel­tend ge­mach­te An­spruch folgt aus dem Grund­satz von Treu und Glau­ben i.V.m. § 78a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW in der Fas­sung der Be­kannt­ma­chung vom 1. Mai 1981 (GV NRW S. 234, ber. 1982, S. 256). Vor­aus­set­zung für die­sen An­spruch ist ei­ne rechts­wid­ri­ge In­an­spruch­nah­me des Be­am­ten über die höchs­tens zulässi­ge Ar­beits­zeit hin­aus. Der An­spruch ist auf ei­nen zeit­li­chen Aus­gleich im Um­fang der rechts­wid­rig ver­lang­ten Zu­viel­ar­beit ge­rich­tet. Zei­ten des Be­reit­schafts­diens­tes sind in vol­lem Um­fang aus­zu­glei­chen; ein Ab­zug von fünf aus­gleichs­los zu leis­ten­den St­un­den ist je­den­falls in Fällen, in de­nen die nor­ma­tiv fest­ge­setz­te Höchst­ar­beits­zeit rechts­wid­rig über­schrit­ten wor­den ist, nicht zulässig. Zu­dem ent­steht der Aus­gleichs­an­spruch mit Wir­kung für die Zu­kunft erst, wenn der Be­am­te ihn gel­tend macht.


Zieht der Dienst­herr ei­nen Be­am­ten auf der Grund­la­ge ei­ner rechts­wid­rig zu hoch fest­ge­setz­ten re­gelmäßigen Ar­beits­zeit zum Dienst her­an oder nimmt ihn über die rechtmäßig fest­ge­setz­te re­gelmäßige Ar­beits­zeit hin­aus in An­spruch, oh­ne dass die Vor­aus­set­zun­gen für die An­ord­nung oder Ge­neh­mi­gung von



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Mehr­ar­beit erfüllt sind, so ist die­se In­an­spruch­nah­me rechts­wid­rig (Zu­viel­ar­beit). So­weit das je­weils maßgeb­li­che Bun­des- oder Lan­des­be­am­ten­recht kei­ne Re­ge­lung da­zu enthält, ob und in wel­chem Um­fang ei­ne sol­che In­an­spruch­nah­me aus­zu­glei­chen ist, be­deu­tet dies je­doch nicht, dass der­ar­ti­ge Zu­viel­ar­beit fol­gen­los bleibt. Viel­mehr ist die im Ein­zel­fall ein­schlägi­ge Vor­schrift - im vor­lie­gen­den Fall § 78a Abs. 1 Satz 2 LBG NRW a.F. - nach Treu und Glau­ben in ei­ner Wei­se zu ergänzen, die die In­ter­es­sen des Be­am­ten und des Dienst­herrn auch bei ei­ner rechts­wid­ri­gen In­an­spruch­nah­me des Be­am­ten zu ei­nem bil­li­gen Aus­gleich bringt und da­bei dem Sinn und Zweck der Ar­beits­zeit­re­ge­lung ge­recht wird. Be­am­te, die von Zu­viel­ar­beit be­trof­fen sind, ha­ben des­halb ei­nen An­spruch auf an­ge­mes­se­ne Dienst­be­frei­ung (vgl. Ur­teil vom 28. Mai 2003 - BVerwG 2 C 28.02 - Buch­holz 232 § 72 BBG Nr. 38, S. 6 f. und Be­schluss vom 10. Ju­ni 2009 - BVerwG 2 B 26.09 - ju­ris Rn. 5 ff.).


Im vor­lie­gen­den Fall ist der gel­tend ge­mach­te An­spruch ge­ge­ben. Ein Fall der Zu­viel­ar­beit über die Gren­ze der höchs­tens zulässi­gen Wo­chen­ar­beits­zeit hin­aus liegt vor. Der Kläger hat in den Jah­ren 2002 bis ein­sch­ließlich 2006 - ab­ge­se­hen von zwei wei­te­ren St­un­den, für die Frei­zeit­aus­gleich be­reits gewährt wor­den ist - re­gelmäßig an­stel­le der uni­ons­recht­lich zulässi­gen 48 Wo­chen­stun­den 54 St­un­den Dienst ge­leis­tet. Die­se Zu­viel­ar­beit von sechs St­un­den wöchent­lich er­gibt bei pau­scha­lier­ter Berück­sich­ti­gung von Ur­laubs­zei­ten ei­nen Um­fang von 24 St­un­den im Mo­nat.


Zwar hat sich die Be­klag­te bei der Er­stel­lung der Dienst­pläne an § 1 Abs. 1 der Ver­ord­nung über die Ar­beits­zeit der Be­am­ten des feu­er­wehr­tech­ni­schen Diens­tes in den Feu­er­weh­ren der Ge­mein­den und Ge­mein­de­verbände des Lan­des Nord­rhein-West­fa­len (AZ­VO­Feu) in den hier maßgeb­li­chen Fas­sun­gen vom 29. Sep­tem­ber 1998 und vom 18. Fe­bru­ar 2003 (GV. NW 1998 S. 589 und 2003 S. 74) so­wie des Ge­set­zes vom 5. April 2005 (GV. NW S. 306) ori­en­tiert. Die­se Be­stim­mung ließ ei­ne re­gelmäßige Wo­chen­ar­beits­zeit von durch­schnitt­lich 54 St­un­den zu, auf­ge­teilt in 23 St­un­den Vol­l­ar­beits­zeit und 31 St­un­den Be­reit­schafts­dienst. Nach dem Kon­zept des Norm­ge­bers ent­sprach dies bei ei­ner An­rech­nung des Be­reit­schafts­diens­tes zu 50 % ei­ner re­gelmäßigen Wo­chen­ar­beits­zeit von 38,5 St­un­den (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 der Ver­ord­nung über die



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Ar­beits­zeit der Be­am­ten im Lan­de Nord­rhein-West­fa­len vom 28. De­zem­ber 1986, GV. NW 1987 S. 15). Die Vor­schrift war je­doch, so­weit sie ei­ne re­gelmäßige wöchent­li­che Ar­beits­zeit von mehr als 48 St­un­den fest­setz­te, we­gen Ver­s­toßes ge­gen Art. 6 Buchst. b der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 4. No­vem­ber 2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (EGRL 2003/88, ABl L 299 vom 18. No­vem­ber 2003, S. 9, Ar­beits­zeit­richt­li­nie) un­an­wend­bar.


Nach Art. 6 Buchst. b EGRL 2003/88, der Art. 6 Nr. 2 der in­so­weit in­halts­glei­chen Richt­li­nie 93/104/EG des Ra­tes vom 23. No­vem­ber 1993 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (ABl L 307 vom 13. De­zem­ber 1993, S. 18) er­setzt, darf die wöchent­li­che Ar­beits­zeit ein­sch­ließlich der Über­stun­den ei­nen Um­fang von 48 St­un­den nicht über­schrei­ten. Un­ter Ar­beits­zeit ist nach Art. 2 Nr. 1 EGRL 2003/88 je­de Zeit­span­ne zu ver­ste­hen, während der ein Ar­beit­neh­mer gemäß den ein­zel­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten und/oder Ge­pflo­gen­hei­ten ar­bei­tet, dem Ar­beit­ge­ber zur Verfügung steht und sei­ne Tätig­keit ausübt oder Auf­ga­ben wahr­nimmt. Nach die­ser Be­griffs­be­stim­mung zählen auch Zei­ten des Be­reit­schafts­diens­tes - ein­sch­ließlich der „in­ak­ti­ven Zei­ten“ - oh­ne Ab­stri­che als Ar­beits­zeit, wenn der Be­am­te sie an ei­nem vom Dienst­herrn be­stimm­ten Ort außer­halb des Pri­vat­be­reichs leis­tet und sich zu ei­nem je­der­zei­ti­gen un­verzügli­chen Ein­satz be­reithält, und wenn er­fah­rungs­gemäß mit ei­ner dienst­li­chen In­an­spruch­nah­me zu rech­nen ist (Ur­tei­le vom 29. April 2004 - BVerwG 2 C 9.03 - Buch­holz 240 § 48 BBesG Nr. 8 Rn. 17 und vom 22. Ja­nu­ar 2009 - BVerwG 2 C 90.07 - Buch­holz 240.1 BBe­sO Nr. 31; EuGH, Ur­tei­le vom 3. Ok­to­ber 2000 - Rs. C-303/98, Si­map - Slg. 2000, I-7963 und vom 9. Sep­tem­ber 2003 - Rs. C-151/02, Jäger - Slg. 2003, I- 8389, stRspr). Dar­aus folgt, dass Be­reit­schafts­dienst in die Be­rech­nung der wöchent­li­chen Ar­beits­zeit in vol­lem Um­fang ein­zu­be­zie­hen ist. Die vom Kläger re­gelmäßig ge­leis­te­ten 31 St­un­den Be­reit­schafts­dienst zählen da­her als Vol­l­ar­beits­zeit, da die Be­am­ten in der Dienst­stel­le an­we­send sein muss­ten und je­der­zeit in ei­nen Ein­satz be­ru­fen wer­den konn­ten (vgl. § 2 Abs. 1, 2 AZ­VO­Feu).


Die uni­ons­recht­li­che Ar­beits­zeit­richt­li­nie (EGRL 2003/88) gilt auch für Feu­er­wehr­leu­te (vgl. EuGH, Be­schluss vom 14. Ju­li 2005 - Rs. C-52/04, Per­so­nal­rat


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der Feu­er­wehr Ham­burg - Slg. 2005, I- 7111). Sie ist auch un­mit­tel­bar an­wend­bar, da sie trotz ein­deu­ti­gen Nor­min­halts nicht hin­rei­chend in deut­sches Recht um­ge­setzt wor­den und die Um­set­zungs­frist der Vorgänger­richt­li­nie be­reits seit 1996 ab­ge­lau­fen ist (EuGH, Ur­teil vom 25. No­vem­ber 2010 - Rs. C-429/09, Fuß - NZA 2001, 53 Rn. 35 ff.).


Die An­ord­nung ei­ner re­gelmäßigen Ar­beits­zeit, die über die uni­ons­recht­lich höchs­tens zulässi­ge Wo­chen­ar­beits­zeit hin­aus­geht, kann auch nicht als Mehr­ar­beit ge­recht­fer­tigt wer­den. Die Vor­aus­set­zun­gen für die An­ord­nung oder Ge­neh­mi­gung von Mehr­ar­beit la­gen nicht vor. Zum ei­nen darf die uni­ons­recht­li­che Höchst­ar­beits­zeit­gren­ze von 48 Wo­chen­stun­den auch durch die An­ord­nung von Mehr­ar­beit - außer­halb der vom Uni­ons­recht vor­ge­se­he­nen Ver­fah­ren - nicht über­schrit­ten wer­den. Zum an­de­ren soll Mehr­ar­beit ei­nen vorüber­ge­hen­den außer­gewöhn­li­chen Be­darf de­cken (vgl. § 78a Abs. 1 Satz 1 LBG NW), nicht aber ei­ne dau­er­haf­te Erhöhung der re­gelmäßigen Wo­chen­ar­beits­zeit be­wir­ken.


Der An­spruch ist auf zeit­li­chen Aus­gleich in an­ge­mes­se­nem Um­fang ge­rich­tet. Als an­ge­mes­sen ist der zeit­li­che Aus­gleich von Zu­viel­ar­beit grundsätz­lich an­zu­se­hen, wenn er eben­so lang ist wie der zu­vor ge­leis­te­te rechts­wid­rig ge­for­der­te Dienst (Ur­teil vom 28. Mai 2003 a.a.O. Rn. 23). Da­bei ist die in Form von Be­reit­schafts­dienst ge­leis­te­te Zu­viel­ar­beit mit dem­sel­ben Ge­wicht zu be­wer­ten wie zu viel ge­leis­te­te Vol­l­ar­beits­zeit; ein Ab­zug von wei­te­ren fünf St­un­den mo­nat­lich schei­det aus. Al­ler­dings ent­steht der An­spruch für die Zu­kunft erst, wenn er gel­tend ge­macht wird.


Die An­nah­me des Ober­ver­wal­tungs­ge­richts, die Zei­ten des Be­reit­schafts­diens­tes müss­ten nicht in dem­sel­ben Um­fang aus­ge­gli­chen wer­den wie Vol­l­ar­beits­zeit, ent­spricht nicht dem ge­bo­te­nen Aus­gleich nach Treu und Glau­ben. Dem In­ter­es­se des Be­am­ten, der die rechts­wid­rig von ihm ver­lang­te Dienst­leis­tung - pflicht­gemäß - zunächst er­bracht hat, an ei­nem vol­len Aus­gleich für die Über­schrei­tung der ge­setz­li­chen Höchst­ar­beits­zeit steht kein gleich ge­wich­ti­ges In­ter­es­se des Dienst­herrn an ei­ner Re­du­zie­rung des Aus­gleichs­um­fangs ge­genüber. Dem be­rech­tig­ten öffent­li­chen In­ter­es­se an der Auf­recht­er­hal­tung der Dienst­be­reit­schaft im feu­er­wehr­tech­ni­schen Dienst kann durch ge­eig­ne­te Maß-



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nah­men bei der Erfüllung des An­spruchs auf Frei­zeit­aus­gleich Rech­nung ge­tra­gen wer­den. So kann et­wa der Zeit­raum, in dem der Frei­zeit­aus­gleich be­wirkt wer­den muss, nach dienst­li­chen Bedürf­nis­sen verlängert wer­den, um die Ein­satz­be­reit­schaft dau­er­haft si­cher zu stel­len. Auch das An­ge­bot ei­ner fi­nan­zi­el­len Ab­gel­tung des An­spruchs auf Frei­zeit­aus­gleich kommt in Be­tracht. Ei­ne Ermäßigung des zeit­li­chen Aus­gleichs durch ei­ne ge­rin­ge­re Ge­wich­tung des Be­reit­schafts­diens­tes ist hierfür nicht er­for­der­lich. Sie würde dem Ziel des An­spruchs - Aus­gleich ei­nes von dem Dienst­herrn be­gan­ge­nen Rechts­feh­lers (vgl. Be­schluss vom 10. Ju­ni 2009 a.a.O. Rn. 8) - auch nicht ge­recht, son­dern könn­te im Ge­gen­teil als An­reiz für die Fortführung ei­ner der­ar­ti­gen Pra­xis wir­ken. Auch fis­ka­li­sche In­ter­es­sen des Dienst­herrn an ei­ner Re­du­zie­rung des Aus­gleichs­an­spruchs spie­len bei der Be­mes­sung des Aus­gleichs­an­spruchs kei­ne Rol­le, da dem Dienst­herrn aus ei­ner langjähri­gen uni­ons­rechts­wid­ri­gen Pra­xis kei­ne Vor­tei­le er­wach­sen dürfen.


Ei­ne ge­rin­ge­re Ge­wich­tung des Be­reit­schafts­diens­tes bei der Be­mes­sung des Aus­gleichs­an­spruchs führt zu­dem zu ei­nem Wer­tungs­wi­der­spruch zu den Norm­zie­len des uni­ons­recht­li­chen Ar­beits­zeit­rechts. Die wöchent­li­che Höchst­ar­beits­zeit, in die so­wohl Be­reit­schafts­dienst in vol­lem Um­fang als auch Über­stun­den ein­zu­rech­nen sind, ist zum Schutz der Ge­sund­heit und der Ar­beits­si­cher­heit fest­ge­legt wor­den (vgl. Art. 1 Abs. 1 so­wie Erwägungs­gründe 4 und 11 EGRL 2003/88). Ein ermäßig­ter Aus­gleich des ge­leis­te­ten Be­reit­schafts­diens­tes würde die­se Schutz­zie­le gefähr­den. Denn er würde letzt­lich da­zu führen, dass Über­schrei­tun­gen der höchs­tens zulässi­gen Ar­beits­zeit, die aus Gründen des Ge­sund­heits­schut­zes und der Ar­beits­si­cher­heit ver­mie­den wer­den sol­len, dau­er­haft nur teil­wei­se aus­zu­glei­chen wären. Den be­trof­fe­nen Be­am­ten würde die Möglich­keit, ih­re Dienstfähig­keit durch Frei­zeit­aus­gleich um­fas­send wie­der her­zu­stel­len, teil­wei­se ge­nom­men. Mögli­che nor­ma­ti­ve An­knüpfungs­punk­te für ei­ne ge­rin­ge­re Ge­wich­tung des Be­reit­schafts­diens­tes im in­ner­staat­li­chen Recht sind dem­ge­genüber oh­ne Be­deu­tung, da sie der Ver­pflich­tung zu­wi­der lau­fen, die vol­le Wirk­sam­keit des Uni­ons­rechts si­cher­zu­stel­len. Dies gilt un­ge­ach­tet des­sen, dass die Be­stim­mung von Art und Höhe ei­ner Entschädi­gung für Zu­viel­ar­beit nach der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs der Eu­ropäischen Uni­on dem na­tio­na­len Recht vor­be­hal­ten wird (Ur­tei­le vom 5. Mai 1996 - Rs. C-



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46/93 und 48/93, Bras­se­rie du pêcheur und Fac­tor­ta­me - Slg. 1996 I-1029 Rn. 82 f. und vom 25. No­vem­ber 2010 a.a.O. Rn. 91 ff.; vgl. auch Art. 153 AEUV).


Der An­spruch auf vol­len Aus­gleich für Zu­viel­ar­beit über die wöchent­li­che Höchst­ar­beits­zeit hin­aus kann aus den ge­nann­ten Gründen auch nicht um fünf St­un­den mo­nat­lich re­du­ziert wer­den. Denn auch dies würde dem Sinn und Zweck der Ar­beits­zeit­re­ge­lung wi­der­spre­chen. Die Sank­tio­nie­rung ei­ner uni­ons­rechts­wid­ri­gen Pra­xis würde zu­dem das Ge­bot ver­let­zen, die vol­le Wirk­sam­keit des Uni­ons­rechts zu si­chern, weil die Über­schrei­tung der nor­ma­tiv fest­ge­leg­ten Höchst­ar­beits­zeit in die­sem Um­fang fol­gen­los blie­be. Zwar sind Be­am­te grundsätz­lich ver­pflich­tet, in ge­wis­sem Um­fang aus­gleichs­lo­se Mehr­ar­beit zu leis­ten (vgl. § 78a Abs. 1 LBG NRW a.F., § 61 LBG NRW, § 88 BBG). Dies gilt je­doch nicht, wenn die uni­ons­recht­lich ver­bind­li­che Höchst­gren­ze der wöchent­li­chen Ar­beits­zeit be­reits er­reicht ist, da die­se durch Mehr­ar­beits­stun­den grundsätz­lich nicht über­schrit­ten wer­den darf (Art. 6 Buchst. b EGRL 2003/88); Ab­wei­chun­gen sind nur im Rah­men der uni­ons­recht­li­chen Be­stim­mun­gen zulässig (vgl. Art. 17, 18 und 22 EGRL 2003/88).


Der An­spruch auf zeit­li­chen Aus­gleich für Zu­viel­ar­beit muss al­ler­dings von dem Be­am­ten ge­genüber sei­nem Dienst­herrn aus­drück­lich gel­tend ge­macht wer­den. Ein Aus­gleich kommt nur für Zu­viel­ar­beit in Be­tracht, die der Be­am­te nach An­trag­stel­lung leis­ten muss. Ein Aus­gleich der vor­her er­brach­ten Zu­viel­ar­beit ist un­abhängig da­von, ob der An­spruch verjährt ist oder nicht, nicht an­ge­mes­sen und würde dem Grund­satz von Treu und Glau­ben wi­der­spre­chen. Dies folgt aus der sich aus dem Be­am­ten­verhält­nis er­ge­ben­den Pflicht, auch im Rah­men ei­nes Aus­gleichs für rechts­wid­ri­ges Ver­hal­ten auf die Be­lan­ge des Dienst­herrn Rück­sicht zu neh­men und ihm die Möglich­keit zu ge­ben, sich auf die ge­gen ihn er­ho­be­nen Ansprüche ein­zu­stel­len. Der Dienst­herr hat ein be­rech­tig­tes In­ter­es­se dar­an, nicht nachträglich mit ho­hen Aus­gleichs­for­de­run­gen be­las­tet zu wer­den. Auch der Zweck des An­spruchs, durch Frei­zeit­aus­gleich die be­son­de­ren ge­sund­heit­li­chen Be­las­tun­gen der Zu­viel­ar­beit aus­zu­glei­chen, spricht für das Er­for­der­nis ei­ner Gel­tend­ma­chung im zeit­li­chen Zu­sam­men­hang mit der Be­las­tung. Hier­von un­abhängig ist es dem Be­am­ten in dem von ge­gen­sei­ti­ger Rück-



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sicht­nah­me ge­prägten Verhält­nis zu sei­nem Dienst­herrn zu­zu­mu­ten, sei­nem Be­geh­ren auf Gewährung von zeit­li­chem Aus­gleich frühzei­tig Aus­druck zu ver­lei­hen, zu­mal an ei­nen sol­chen An­trag kei­ne ho­hen An­for­de­run­gen zu stel­len sind (Ur­tei­le vom 27. Mai 2010 - BVerwG 2 C 33.09 - Buch­holz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 117 Rn. 14, 15 und vom 13. No­vem­ber 2008 - BVerwG 2 C 16.07 - Buch­holz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 101 Rn. 21 ff.).


Dies ist mit der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs der Eu­ropäischen Uni­on (Ur­teil vom 25. No­vem­ber 2010 a.a.O. Rn. 71 ff.) ver­ein­bar. Zwar darf die Ausübung der Rech­te, die dem Ein­zel­nen aus den un­mit­tel­bar an­wend­ba­ren Vor­schrif­ten des Uni­ons­rechts er­wach­sen, nicht durch die Aus­ge­stal­tung des in­ner­staat­li­chen Ver­fah­rens­rechts unmöglich ge­macht oder übermäßig er­schwert wer­den. Ins­be­son­de­re darf der An­spruch ei­nes Be­am­ten auf Er­satz des Scha­dens, der ihm durch den Ver­s­toß der Behörden ge­gen Art. 6 Buchst. b der Richt­li­nie 2003/88 ent­stan­den ist, nicht da­von abhängig ge­macht wer­den, dass zu­vor ein An­trag auf Ein­hal­tung die­ser uni­ons­recht­li­chen Be­stim­mung bei sei­nem Dienst­herrn ge­stellt wur­de (EuGH, Ur­teil vom 25. No­vem­ber 2010 a.a.O. Rn. 90). Denn das Recht der Eu­ropäischen Uni­on ist von den Behörden und Ge­rich­ten der Mit­glied­staa­ten un­abhängig da­von an­zu­wen­den, ob sei­ne An­wen­dung aus­drück­lich be­an­tragt wor­den ist oder nicht. Dies steht je­doch dem Er­for­der­nis ei­nes An­trags auf Gewährung von zeit­li­chem Aus­gleich für die Zu­kunft nicht ent­ge­gen. Oh­ne ei­nen der­ar­ti­gen An­trag muss der Dienst­herr nicht da­von aus­ge­hen, je­der Be­am­te wer­de die Über­schrei­tung der zulässi­gen Ar­beits­zeit be­an­stan­den, zu­mal ihn zunächst die Pflicht trifft, die von ihm ver­lang­te Zu­viel­ar­beit zu leis­ten. Der An­trag ist viel­mehr er­for­der­lich, ei­ne Prüfung mit dem Ziel her­bei­zuführen, die Be­lan­ge des Be­am­ten zu berück­sich­ti­gen, und die Dienst­pläne ent­spre­chend an­zu­pas­sen. Ei­ne übermäßige Er­schwe­rung der Durch­set­zung von Uni­ons­recht liegt dar­in eben­so we­nig wie bei­spiels­wei­se in der nor­ma­ti­ven Fest­set­zung an­ge­mes­se­ner Aus­schluss- und Verjährungs­fris­ten (vgl. zu § 15 Abs. 4 AGG EuGH, Ur­teil vom 8. Ju­li 2010 - Rs. C-246/09, Buli­cke - NZA 2010, 869).


Nach die­sen Maßstäben ist der vom Kläger gel­tend ge­mach­te An­spruch in vol­lem Um­fang ge­ge­ben; die Be­schränkung auf 17 St­un­den mo­nat­lich er­gibt sich



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dar­aus, dass der Kläger sei­nen An­trag auf die­sen Um­fang be­schränkt hat. Der Kläger hat auch den er­for­der­li­chen An­trag recht­zei­tig, nämlich im De­zem­ber 2001 mit Wir­kung für die Zeit ab Ja­nu­ar 2002, ge­stellt.


Ob der Kläger zusätz­lich ei­nen un­mit­tel­bar aus Uni­ons­recht ab­ge­lei­te­ten An­spruch gel­tend ma­chen kann (vgl. EuGH, Ur­teil vom 25. No­vem­ber 2010 a.a.O.), muss nicht ent­schie­den wer­den. Denn der auf Treu und Glau­ben gestütz­te An­spruch auf Frei­zeit­aus­gleich wird dem vom Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on auf­ge­stell­ten Er­for­der­nis ge­recht, dass die Entschädi­gung dem er­lit­te­nen Scha­den an­ge­mes­sen ist und dass ein ef­fek­ti­ver Schutz der uni­ons­recht­li­chen Rech­te des Ein­zel­nen gewähr­leis­tet wird (vgl. EuGH, Ur­teil vom 25. No­vem­ber 2010 a.a.O. Rn. 91 ff.).


Die Kos­ten­ent­schei­dung er­gibt sich aus § 154 Abs. 1 Vw­GO.


Her­bert

Dr. Heitz

Dr. Mai­dow­ski

Dr. Har­tung

Dr. von der Wei­den

 

Quel­le: Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt (BVerwG), www.bverwg.de

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