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BAG, Ur­teil vom 19.07.2012, 2 AZR 782/11

   
Schlagworte: Abmahnung, Abmahnung: Fristen
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 2 AZR 782/11
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 19.07.2012
   
Leitsätze: Der Arbeitnehmer kann die Entfernung einer zu Recht erteilten Abmahnung aus seiner Personalakte nur dann verlangen, wenn das gerügte Verhalten für das Arbeitsverhältnis in jeder Hinsicht bedeutungslos geworden ist.
Vorinstanzen: Thüringer Landesarbeitsgericht, Urteil vom 23.11.2010 - 7 Sa 427/09
Arbeitsgericht Eisenach, Urteil vom 3.09.2009 - 4 Ca 868/08
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT


2 AZR 782/11
7 Sa 427/09
Thürin­ger
Lan­des­ar­beits­ge­richt

 

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am

19. Ju­li 2012

UR­TEIL

Schmidt, Ur­kunds­be­am­tin

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Be­klag­ter, Be­ru­fungskläger und Re­vi­si­onskläger,

pp.

Kläge­rin, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

hat der Zwei­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 19. Ju­li 2012 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Kreft, die Rich­te­rin­nen am Bun­des­ar­beits­ge­richt Ra­chor und Dr. Rinck so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Dr. Sieg und Cla­es für Recht er­kannt:
 


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1. Auf die Re­vi­si­on des Be­klag­ten wird das Ur­teil des Thürin­ger Lan­des­ar­beits­ge­richts vom 23. No­vem­ber 2010 - 7 Sa 427/09 - auf­ge­ho­ben.


2. Die Sa­che wird zur neu­en Ver­hand­lung und Ent­schei­dung - auch über die Kos­ten des Re­vi­si­ons­ver­fah­rens - an das Lan­des­ar­beits­ge­richt zurück­ver­wie­sen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Ent­fer­nung ei­ner Ab­mah­nung aus der Per­so­nal­ak­te der Kläge­rin.

Der be­klag­te Land­kreis ist Träger ei­ner Volks­hoch­schu­le, die or­ga­ni­sa­to­risch dem Schul­ver­wal­tungs­amt zu­ge­ord­net ist. Zu der Volks­hoch­schu­le gehört ein Pla­ne­ta­ri­um, für das ei­ne Zahl­stel­le der Kreis­kas­se ein­ge­rich­tet ist.

Die Kläge­rin ist bei dem Be­klag­ten seit dem Jah­re 2000 als Ver­wal­tungs­fach­an­ge­stell­te beschäftigt. Ihr wur­de mit Wir­kung zum 1. De­zem­ber 2006 die Tätig­keit ei­ner Haus­halts­sach­be­ar­bei­te­rin der Volks­hoch­schu­le über­tra­gen. Sie war ver­ant­wort­lich für die Zahl­stel­le des Pla­ne­ta­ri­ums.

Die Ein­nah­me- und Aus­zah­lungs­an­ord­nun­gen für das Pla­ne­ta­ri­um wur­den anläss­lich ei­ner Dienst­be­ra­tung An­fang März 2007 zur Ent­las­tung der Kläge­rin ih­rer Ver­tre­te­rin - Frau H - über­tra­gen. Mit ei­nem Schrei­ben an die De­zer­nen­tin vom 25. Mai 2007 be­an­trag­te der Lei­ter der Volks­hoch­schu­le, die Ver­ant­wort­lich­keit für die Zahl­stel­len­ver­wal­tung da­hin zu ändern, dass Frau H als Haupt­ver­ant­wort­li­che ein­ge­setzt wer­de, die Kläge­rin nur­mehr im Ver­tre­tungs­fall.


Mit­te Ju­li 2007 überg­ab die Kläge­rin die Zahl­stel­le anläss­lich ih­res be­vor­ste­hen­den Ur­laubs an den Lei­ter der Volks­hoch­schu­le. An­stel­le des Ori­gi­nal­kas­sen­buchs händig­te sie ihm ei­ne von ihr ge­fer­tig­te Zweit­fas­sung mit nur ein oder zwei Ein­tra­gun­gen aus, in die Quit­tun­gen ein­ge­legt wa­ren. Der Lei­ter
 


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be­merk­te das Feh­len des Ori­gi­nal­buchs, oh­ne Schrit­te zur Aufklärung sei­nes Ver­bleibs zu un­ter­neh­men. Bei ei­ner im Au­gust 2007 durch­geführ­ten Kon­trol­le durch die Lei­te­rin der Kreis­kas­se wur­de es nicht mehr auf­ge­fun­den. Die Kläge­rin gab bei ei­ner Anhörung an, sie ha­be das Kas­sen­buch am 26. April 2007 an Frau H über­ge­ben. Sie sei nur noch de­ren Ver­tre­te­rin ge­we­sen. Sie ha­be das Kas­sen­buch im Ver­tre­tungs­fall nicht zurück­er­hal­ten. Sie ha­be des­halb ein zwei­tes an­ge­legt.


Mit Schrei­ben vom 16. April 2008 mahn­te der Be­klag­te die Kläge­rin ab. Er be­an­stan­de­te, dass das Kas­sen­buch in der Zeit ab­han­den ge­kom­men sei, zu der sie für die Ver­wal­tung der Zahl­stel­le ver­ant­wort­lich ge­we­sen sei. Sie ha­be da­durch ge­gen ih­re Pflicht zur sorgfälti­gen Führung der Zahl­stel­le ver­s­toßen. Zu­dem ha­be sie durch ih­re Erklärun­gen den Ein­druck er­weckt, die Ver­ant­wor­tung für die nicht ord­nungs­gemäße Führung der Zahl­stel­le und das Ab­han­den­kom­men des Kas­sen­buchs tref­fe die Ver­tre­te­rin.


Mit ih­rer Kla­ge hat die Kläge­rin die Rück­nah­me der Ab­mah­nung ver­langt. Sie hat be­haup­tet, Frau H sei am 5. März 2007 mit der Ar­beits­auf­ga­be „Pla­ne­ta­ri­um“ be­auf­tragt wor­den.


Die Kläge­rin hat be­an­tragt 


den Be­klag­ten zu ver­ur­tei­len, die ihr mit Schrei­ben vom 16. April 2008 er­teil­te Ab­mah­nung zurück­zu­neh­men und aus der Per­so­nal­ak­te zu ent­fer­nen.


Der Be­klag­te hat be­an­tragt, die Kla­ge ab­zu­wei­sen. Er hat be­haup­tet, die Kläge­rin sei wei­ter­hin für die Ver­wal­tung der Zahl­stel­le ver­ant­wort­lich ge­we­sen. Am 5. März 2007 sei­en zu ih­rer Ent­las­tung le­dig­lich die Ein­nah­me-und Aus­zah­lungs­an­ord­nun­gen auf Frau H über­tra­gen wor­den. Bis zur Kas­sen­prüfung im Au­gust 2007 sei die Pla­nung, die­se zur Kas­sen­ver­ant­wort­li­chen zu be­stel­len, nicht um­ge­setzt wor­den. Die An­ga­be der Kläge­rin, sie ha­be En­de April 2007 das Ori­gi­nal­kas­sen­buch über­ge­ben und nicht mehr zurück­er­hal­ten, tref­fe nicht zu.


Die Vor­in­stan­zen ha­ben der Kla­ge statt­ge­ge­ben. Mit sei­ner Re­vi­si­on ver­folgt der Be­klag­te sein Be­geh­ren wei­ter, die Kla­ge ab­zu­wei­sen.



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Ent­schei­dungs­gründe


Die Re­vi­si­on ist be­gründet. Sie führt zur Auf­he­bung des Be­ru­fungs­ur­teils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurück­ver­wei­sung der Sa­che an das Lan­des­ar­beits­ge­richt (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Mit der von ihm ge­ge­be­nen Be­gründung durf­te das Lan­des­ar­beits­ge­richt der Kla­ge nicht statt­ge­ben (I.). Ob der Be­klag­te ver­pflich­tet ist, die Ab­mah­nung vom 16. April 2008 aus der Per­so­nal­ak­te der Kläge­rin zu ent­fer­nen, steht noch nicht fest (II.).

I. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat auf Ba­sis der bis­he­ri­gen Fest­stel­lun­gen zu Un­recht an­ge­nom­men, die Kläge­rin ha­be ei­nen An­spruch auf Rück­nah­me und Ent­fer­nung der Ab­mah­nung aus ih­rer Per­so­nal­ak­te.

1. Ar­beit­neh­mer können in ent­spre­chen­der An­wen­dung von §§ 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB die Ent­fer­nung ei­ner zu Un­recht er­teil­ten Ab­mah­nung aus ih­rer Per­so­nal­ak­te ver­lan­gen. Der An­spruch be­steht, wenn die Ab­mah­nung ent­we­der in­halt­lich un­be­stimmt ist, un­rich­ti­ge Tat­sa­chen­be­haup­tun­gen enthält, auf ei­ner un­zu­tref­fen­den recht­li­chen Be­wer­tung des Ver­hal­tens des Ar­beit­neh­mers be­ruht oder den Grund­satz der Verhält­nismäßig­keit ver­letzt, und auch dann, wenn selbst bei ei­ner zu Recht er­teil­ten Ab­mah­nung kein schutzwürdi­ges In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers mehr an de­ren Ver­bleib in der Per­so­nal­ak­te be­steht (BAG 12. Au­gust 2010 - 2 AZR 593/09 - Rn. 10, AP GG Art. 4 Nr. 8; 27. No­vem­ber 2008 - 2 AZR 675/07 - Rn. 13 - 17 mwN, AP BGB § 611 Ab­mah­nung Nr. 33 = EzA BGB 2002 § 314 Nr. 4).

2. Nicht zu be­an­stan­den ist, dass das Lan­des­ar­beits­ge­richt nicht zwi­schen ei­nem An­spruch auf Rück­nah­me der Ab­mah­nung und ei­nem sol­chen auf ih­re Ent­fer­nung aus der Per­so­nal­ak­te dif­fe­ren­ziert hat.

a) Das Be­geh­ren auf Rück­nah­me ei­ner Ab­mah­nung wird ne­ben dem auf ih­re Ent­fer­nung aus der Per­so­nal­ak­te zu­meist nicht ei­genständig ver­folgt. Ei­ne mit dem Kla­ge­an­trag ver­lang­te „Rück­nah­me und Ent­fer­nung“ der Ab­mah­nung ist dann als ein­heit­li­cher An­spruch auf Be­sei­ti­gung der durch die Ab­mah­nung



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er­folg­ten Be­ein­träch­ti­gung des Persönlich­keits­rechts zu ver­ste­hen (vgl. BAG 27. Ja­nu­ar 1988 - 5 AZR 604/86 - RzK I 1 Nr. 26; Hes­si­sches LAG 22. Ju­ni 2010 - 12 Sa 829/09 - Rn. 17; LAG Köln 15. Ju­ni 2007 - 11 Sa 243/07 - Rn. 26 f.). Kann der Kla­ge­be­gründung da­ge­gen ent­nom­men wer­den, der Kläger be­geh­re ne­ben ei­ner Ent­fer­nung der Ab­mah­nung aus der Per­so­nal­ak­te bei­spiels­wei­se den Wi­der­ruf dar­in ent­hal­te­ner Äußerun­gen, kann ein An­trag auf Rück­nah­me der Ab­mah­nung in die­sem Sin­ne aus­zu­le­gen sein (vgl. LAG Nürn­berg 14. Ju­ni 2005 - 6 Sa 582/04 - zu 3 der Gründe, AR-Blat­tei ES 20 Nr. 41; Hes­si­sches LAG 22. Ju­ni 2010 - 12 Sa 829/09 - aaO).


b) Im Streit­fall be­ste­hen kei­ne An­halts­punk­te dafür, dass die Kläge­rin ne­ben der Ent­fer­nung der Ab­mah­nung aus ih­rer Per­so­nal­ak­te ei­nen wei­te­ren An­spruch ver­folgt. Sie hat sich nicht da­ge­gen ge­wandt, dass die Vor­in­stan­zen den Kla­ge­an­spruch als ein ein­heit­li­ches Be­geh­ren auf Rück­nah­me der Ab­mah­nung eben durch ih­re Ent­fer­nung aus der Per­so­nal­ak­te ver­stan­den ha­ben.


3. Die Würdi­gung des Lan­des­ar­beits­ge­richts, der Be­klag­te sei zur Ent­fer­nung der Ab­mah­nung aus der Per­so­nal­ak­te der Kläge­rin ver­pflich­tet, hält ei­ner re­vi­si­ons­recht­li­chen Über­prüfung nicht stand. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat an­ge­nom­men, das Ab­han­den­kom­men des Ori­gi­nal­kas­sen­buchs fal­le zwar in die Zeit der Ver­ant­wort­lich­keit der Kläge­rin, der Be­klag­te ha­be aber kein schutzwürdi­ges In­ter­es­se mehr dar­an, dass die Ab­mah­nung in de­ren Per­so­nal­ak­te ver­blei­be.


a) Per­so­nal­ak­ten sind ei­ne Samm­lung von Ur­kun­den und Vorgängen, die die persönli­chen und dienst­li­chen Verhält­nis­se ei­nes Mit­ar­bei­ters be­tref­fen und in ei­nem in­ne­ren Zu­sam­men­hang mit dem Dienst­verhält­nis ste­hen. Sie sol­len ein möglichst vollständi­ges, wahr­heits­gemäßes und sorgfälti­ges Bild über die­se Verhält­nis­se ge­ben (BAG 8. Fe­bru­ar 1989 - 5 AZR 40/88 - RzK I 1 Nr. 47; 9. Fe­bru­ar 1977 - 5 AZR 2/76 - zu II 2 der Gründe, AP BGB § 611 Fürsor­ge­pflicht Nr. 83 = EzA BGB § 611 Fürsor­ge­pflicht Nr. 21). Ein Ar­beit­neh­mer kann des­halb nur in Aus­nah­mefällen die Ent­fer­nung auch sol­cher Ak­ten­vorgänge ver­lan­gen, die auf ei­ner rich­ti­gen Sach­ver­halts­dar­stel­lung be­ru­hen (BAG 8. Fe­bru­ar 1989 - 5 AZR 40/88 - zu II 2 der Gründe, aaO; 7. Sep­tem­ber 1988


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- 5 AZR 625/87 - zu III der Gründe, AP BGB § 611 Ab­mah­nung Nr. 2 = EzA BGB § 611 Ab­mah­nung Nr. 17; 13. April 1988 - 5 AZR 537/86 - zu I der Gründe, AP BGB § 611 Fürsor­ge­pflicht Nr. 100 = EzA BGB § 611 Fürsor­ge­pflicht Nr. 47). Ein sol­cher Fall liegt vor, wenn ei­ne In­ter­es­sen­abwägung im Ein­zel­fall er­gibt, dass die wei­te­re Auf­be­wah­rung zu un­zu­mut­ba­ren be­ruf­li­chen Nach­tei­len für den Ar­beit­neh­mer führen könn­te, ob­wohl der be­ur­kun­de­te Vor­gang für das Ar­beits­verhält­nis recht­lich be­deu­tungs­los ge­wor­den ist (BAG 30. Mai 1996 - 6 AZR 537/95 - zu II 4 der Gründe, AP BGB § 611 Ne­bentätig­keit Nr. 2 = EzA BGB § 611 Ab­mah­nung Nr. 34; 8. Fe­bru­ar 1989 - 5 AZR 40/88 - aaO; 7. Sep­tem­ber 1988 - 5 AZR 625/87 - aaO).

b) Die­sen Maßstab hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt ver­kannt. 

aa) Es hat an­ge­nom­men, ei­ne Ab­mah­nung könne nach länge­rem ein­wand­frei­en Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers ih­re Wir­kung ver­lie­ren, wofür die Umstände des Ein­zel­falls maßgeb­lich sei­en (vgl. BAG 18. No­vem­ber 1986 - 7 AZR 674/84 - zu II 5 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 17 = EzA BGB § 611 Ab­mah­nung Nr. 4). Dies trifft zwar zu. So kann es nach ei­ner länge­ren Zeit ein­wand­frei­er Führung ei­ner er­neu­ten Ab­mah­nung bedürfen, be­vor ei­ne ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung we­gen ei­ner er­neu­ten gleich­ar­ti­gen Pflicht­ver­let­zung ge­recht­fer­tigt wäre (vgl. BAG 18. No­vem­ber 1986 - 7 AZR 674/84 - aaO). Berück­sich­tigt wor­den ist da­mit aber nur die Warn­funk­ti­on ei­ner Ab­mah­nung. Mit ei­ner Ab­mah­nung übt ein Ar­beit­ge­ber da­ge­gen sei­ne ar­beits­ver­trag­li­chen Gläubi­ger­rech­te in dop­pel­ter Hin­sicht aus. Zum ei­nen weist er den Ar­beit­neh­mer als sei­nen Schuld­ner auf des­sen ver­trag­li­che Pflich­ten hin und macht ihn auf die Ver­let­zung die­ser Pflich­ten auf­merk­sam (Rüge- und Do­ku­men­ta­ti­ons­funk­ti­on). Zum an­de­ren for­dert er ihn für die Zu­kunft zu ei­nem ver­trags­treu­en Ver­hal­ten auf und kündigt, so­fern ihm dies an­ge­bracht er­scheint, in­di­vi­du­al­recht­li­che Kon­se­quen­zen für den Fall ei­ner er­neu­ten Pflicht­ver­let­zung an (Warn­funk­ti­on) (BAG 11. De­zem­ber 2001 - 9 AZR 464/00 - zu I der Gründe, BA­GE 100, 70; 30. Mai 1996 - 6 AZR 537/95 - zu II 1 der Gründe, AP BGB § 611 Ne­bentätig­keit Nr. 2 = EzA BGB § 611 Ab­mah­nung
 


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Nr. 34; 26. Ja­nu­ar 1995 - 2 AZR 649/94 - zu B III 4 a der Gründe, BA­GE 79, 176).

bb) Ein An­spruch auf Ent­fer­nung ei­ner zu Recht er­teil­ten Ab­mah­nung setzt dem­nach nicht nur vor­aus, dass die Ab­mah­nung ih­re Warn­funk­ti­on ver­lo­ren hat. Der Ar­beit­ge­ber darf auch kein be­rech­tig­tes In­ter­es­se mehr an der Do­ku­men­ta­ti­on der gerügten Pflicht­ver­let­zung ha­ben. Der Ar­beit­neh­mer kann die Ent­fer­nung ei­ner zu Recht er­teil­ten Ab­mah­nung aus sei­ner Per­so­nal­ak­te nur dann ver­lan­gen, wenn sie für die Durchführung des Ar­beits­verhält­nis­ses un­ter kei­nem recht­li­chen As­pekt mehr ei­ne Rol­le spie­len kann. Das durch die Ab­mah­nung gerügte Ver­hal­ten muss für das Ar­beits­verhält­nis in je­der Hin­sicht recht­lich be­deu­tungs­los ge­wor­den sein. Das ist nicht der Fall, so­lan­ge ei­ne zu Recht er­teil­te Ab­mah­nung et­wa für ei­ne zukünf­ti­ge Ent­schei­dung über ei­ne Ver­set­zung oder Beförde­rung und die ent­spre­chen­de Eig­nung des Ar­beit­neh­mers, für die späte­re Be­ur­tei­lung von Führung und Leis­tung in ei­nem Zeug­nis oder für die im Zu­sam­men­hang mit ei­ner mögli­chen späte­ren Kündi­gung er­for­der­lich wer­den­de In­ter­es­sen­abwägung von Be­deu­tung sein kann. Darüber hin­aus kann es im be­rech­tig­ten In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers lie­gen, die Er­tei­lung ei­ner Rüge im Sin­ne ei­ner Klar­stel­lung der ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten wei­ter­hin do­ku­men­tie­ren zu können. Dem­ge­genüber ver­lan­gen die schutzwürdi­gen In­ter­es­sen des Ar­beit­neh­mers nicht, ei­nen An­spruch auf Ent­fer­nung ei­ner zu Recht er­teil­ten Ab­mah­nung schon dann zu be­ja­hen, wenn die­se zwar ih­re Warn­funk­ti­on ver­lo­ren hat, ein Do­ku­men­ta­ti­ons­in­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers aber fort­be­steht. Auch wenn sich ei­ne Ab­mah­nung noch in der Per­so­nal­ak­te be­fin­det, ist im Rah­men ei­nes mögli­chen Kündi­gungs­rechts­streits stets zu prüfen, ob ihr noch ei­ne hin­rei­chen­de Warn­funk­ti­on zu­kam (vgl. et­wa BAG 18. No­vem­ber 1986 - 7 AZR 674/84 - zu II 5 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 17 = EzA BGB § 611 Ab­mah­nung Nr. 4).


cc) Die­se Vor­aus­set­zun­gen ei­nes Ent­fer­nungs­an­spruchs hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt nicht sämt­lich ge­prüft.

(1) Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat an­ge­nom­men, die Ab­mah­nung sei we­gen Zeit­ab­laufs nicht mehr wirk­sam und des­halb aus der Per­so­nal­ak­te der Kläge­rin


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zu ent­fer­nen. Mit der Ver­wal­tung der Zahl­stel­le sei die Kläge­rin of­fen­sicht­lich über­for­dert ge­we­sen. Ihr seit der Ab­mah­nung be­an­stan­dungs­frei­es Ver­hal­ten las­se den Schluss zu, sie wer­de künf­tig ih­re Ar­beits­pflich­ten ord­nungs­gemäß erfüllen.


(2) Die Be­gründung des Lan­des­ar­beits­ge­richts lässt nicht er­ken­nen, an wel­chem Maßstab es sich ori­en­tiert und die­se Ein­zel­fal­l­umstände gewürdigt hat. Es ist nicht er­sicht­lich, dass es ge­prüft hätte, ob die Ab­mah­nung für das Ar­beits­verhält­nis in je­der Hin­sicht recht­lich be­deu­tungs­los ge­wor­den ist. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat nicht al­le recht­li­chen Ge­sichts­punk­te er­wo­gen und aus­ge­schlos­sen, un­ter de­nen der Be­klag­te ein be­rech­tig­tes In­ter­es­se an dem wei­te­ren Ver­bleib der Ab­mah­nung in der Per­so­nal­ak­te der Kläge­rin ha­ben könn­te. Es hat ins­be­son­de­re nicht gewürdigt, ob das gerügte Fehl­ver­hal­ten der Kläge­rin wei­ter­hin von Be­deu­tung für ei­ne Be­ur­tei­lung ih­rer Fähig­kei­ten und Leis­tun­gen als Haus­halts­sach­be­ar­bei­te­rin sein konn­te. Da­ge­gen spricht nicht schon der Um­stand, dass nach An­sicht des Lan­des­ar­beits­ge­richts die Ge­fahr ei­ner er­neu­ten Pflicht­ver­let­zung nicht mehr be­stand. Soll­te mit dem Lan­des­ar­beits­ge­richt an­zu­neh­men sein, die Kläge­rin sei mit der Ver­wal­tung der Zahl­stel­le über­for­dert ge­we­sen, spricht dies mit Blick auf künf­ti­ge Ein­satzmöglich­kei­ten eher für ein be­rech­tig­tes In­ter­es­se des Be­klag­ten an ei­ner Bei­be­hal­tung der Do­ku­men­ta­ti­on.

II. Ob der Be­klag­te ver­pflich­tet ist, die Ab­mah­nung vom 16. April 2008 aus der Per­so­nal­ak­te der Kläge­rin zu ent­fer­nen, steht da­nach noch nicht fest.


1. Ei­ne sol­che Ver­pflich­tung be­steht auf der Grund­la­ge der bis­he­ri­gen Fest­stel­lun­gen nicht des­halb, weil die Ab­mah­nung ei­ne fal­sche Tat­sa­chen­be­haup­tung oder un­zu­tref­fen­de recht­li­che Wer­tung in­so­weit ent­hiel­te, wie der Be­klag­te rügt, die Kläge­rin ha­be Frau H be­zich­tigt, für das Ver­schwin­den des Kas­sen­buchs die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen.

a) Der Be­klag­te hat so­wohl im Text der Ab­mah­nung als auch im Rechts­streit an­ge­ge­ben, wor­auf er die­sen Vor­wurf stützt. Die Kläge­rin ha­be bei ih­rer Anhörung an­ge­ge­ben, der Kol­le­gin am 26. April 2007 das Ori­gi­nal­kas­sen­buch

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über­ge­ben und es von ihr nicht wie­der zurück­er­hal­ten zu ha­ben. Dies tref­fe nicht zu.

b) Entspräche die Be­haup­tung des Be­klag­ten, die Kläge­rin ha­be das Ori­gi­nal­kas­sen­buch En­de April 2007 nicht ih­rer Kol­le­gin über­ge­ben, der Wahr­heit, ent­hiel­te sei­ne Rüge, die Kläge­rin ha­be da­durch die Kol­le­gin be­zich­tigt, für das Ver­schwin­den des Kas­sen­buchs ver­ant­wort­lich zu sein, we­der ei­ne fal­sche Tat­sa­chen­be­haup­tung, noch be­ruh­te sie auf ei­ner un­zu­tref­fen­den recht­li­chen Würdi­gung. Es gin­ge dann nicht nur um ei­ne mögli­cher­wei­se von der Kläge­rin miss­ver­stan­de­ne Be­schluss­la­ge von An­fang März 2007, wie das Ar­beits­ge­richt ge­meint hat. Die Kläge­rin hätte viel­mehr selbst un­zu­tref­fen­de An­ga­ben zu ei­ner tatsächli­chen Überg­a­be des Kas­sen­buchs mit der Fol­ge ge­macht, dass ih­re Kol­le­gin als ver­ant­wort­lich für das Ver­schwin­den des Kas­sen­buchs er­schei­nen muss­te.

2. Sons­ti­ge Gründe für ei­nen An­spruch der Kläge­rin auf Ent­fer­nung der Ab­mah­nung sind auf Ba­sis der bis­he­ri­gen Fest­stel­lun­gen nicht ge­ge­ben. Die Ab­mah­nung ist we­der in­halt­lich zu un­be­stimmt noch verstößt sie ge­gen den Grund­satz der Verhält­nismäßig­keit.


3. Um­ge­kehrt ist ein An­spruch der Kläge­rin auf Ent­fer­nung der Ab­mah­nung vom 16. April 2008 nicht des­halb ge­ne­rell aus­ge­schlos­sen, weil die Ab­mah­nung für die bei ei­ner mögli­chen späte­ren Kündi­gung er­for­der­lich wer­den­de In­ter­es­sen­abwägung während der ge­sam­ten Dau­er des Ar­beits­verhält­nis­ses ih­re Be­deu­tung be­hiel­te. Maßgeb­lich sind viel­mehr die Umstände des Ein­zel­falls.


a) Im Schrift­tum wird teil­wei­se an­ge­nom­men, der Ar­beit­ge­ber ha­be ein dau­er­haf­tes In­ter­es­se an dem Ver­bleib ei­ner zu Recht er­teil­ten Ab­mah­nung in der Per­so­nal­ak­te des Ar­beit­neh­mers (vgl. Klei­ne­brink BB 2011, 2617, 2622; Rit­ter DB 2011, 175, 176 f.; Schra­der NZA 2011, 180, 181). Die Ab­mah­nung möge zwar nach ei­nem ge­wis­sen Zeit­ab­lauf ih­re Warn­funk­ti­on ver­lie­ren, im Rah­men der In­ter­es­sen­abwägung müsse sich der Ar­beit­ge­ber aber wei­ter­hin auf sie be­ru­fen dürfen (Schra­der aaO). Durch bloßen Zeit­ab­lauf könne die


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Ab­mah­nung nicht be­deu­tungs­los wer­den, weil für die Abwägung der bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen er­heb­lich sein könne, ob das Ar­beits­verhält­nis während sei­nes - ge­sam­ten - Be­stands störungs­frei ge­we­sen sei (Rit­ter DB 2011, 175, 176). Der Ar­beit­ge­ber müsse die Möglich­keit ha­ben, Un­ter­la­gen, die ei­nen Ver­trau­ens­zu­wachs ver­hin­dern könn­ten, dau­er­haft in der Per­so­nal­ak­te zu be­las­sen (Klei­ne­brink aaO).


b) Zu­tref­fend ist, dass ei­ne Ab­mah­nung für ei­ne späte­re In­ter­es­sen­abwägung auch dann noch Be­deu­tung ha­ben kann, wenn sie ih­re kündi­gungs­recht­li­che Warn­funk­ti­on ver­lo­ren hat. So kann in die In­ter­es­sen­abwägung bei ei­ner ver­hal­tens­be­ding­ten Kündi­gung ein zu­vor störungs­frei­er Ver­lauf des Ar­beits­verhält­nis­ses ein­zu­be­zie­hen sein (vgl. BAG 7. Ju­li 2011 - 2 AZR 355/10 - Rn. 20, AP BGB § 626 Nr. 237 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 38; 10. Ju­ni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 34, BA­GE 134, 349). An ei­nem sol­chen kann es feh­len, wenn der Ar­beit­neh­mer schon ein­mal ab­ge­mahnt wur­de. Gleich­wohl be­steht ein be­rech­tig­tes In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers an der Do­ku­men­ta­ti­on ei­ner Pflicht­ver­let­zung nicht zwangsläufig für die ge­sam­te Dau­er des Ar­beits­verhält­nis­ses. So kann ein hin­rei­chend lan­ge zurück­lie­gen­der, nicht schwer­wie­gen­der und durch be­an­stan­dungs­frei­es Ver­hal­ten fak­tisch über­hol­ter Pflich­ten­ver­s­toß sei­ne Be­deu­tung für ei­ne später er­for­der­lich wer­den­de In­ter­es­sen­abwägung gänz­lich ver­lie­ren. Ei­ne nicht un­er­heb­li­che Pflicht­ver­let­zung im Ver­trau­ens­be­reich wird dem­ge­genüber ei­ne er­heb­li­che Zeit von Be­deu­tung sein.


III. Bei der neu­en Ver­hand­lung und Ent­schei­dung wird das Lan­des­ar­beits­ge­richt die fol­gen­den Erwägun­gen zu berück­sich­ti­gen ha­ben.


1. Bis­lang ist nicht auf­geklärt, ob die Ab­mah­nung vom 16. April 2008 ei­ne un­rich­ti­ge Tat­sa­chen­be­haup­tung oder fal­sche recht­li­che Be­wer­tung enthält. Die Kläge­rin hat zwar nicht be­strit­ten, bei ih­rer Anhörung an­ge­ge­ben zu ha­ben, sie ha­be ih­rer Kol­le­gin schon En­de April 2007 die Zahl­stel­le über­ge­ben. Ei­ne Pflicht­ver­let­zung läge dar­in aber nur, wenn dies nicht der Wahr­heit entspräche. Hier­zu ha­ben die Par­tei­en wi­der­strei­tend vor­ge­tra­gen.
 


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2. Eben­so we­nig wie für das Fort­be­ste­hen der Warn­funk­ti­on ei­ner Ab­mah­nung (vgl. BAG 18. No­vem­ber 1986 - 7 AZR 674/84 - zu II 5 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 17 = EzA BGB § 611 Ab­mah­nung Nr. 4) gibt es ei­ne fest be­mes­se­ne Frist für die Dau­er, für wel­che ein be­rech­tig­tes In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers an ih­rem Ver­bleib in der Per­so­nal­ak­te des Ar­beit­neh­mers an­zu­er­ken­nen ist. Maßgeb­lich sind die Umstände des Ein­zel­falls, ins­be­son­de­re die Schwe­re des gerügten Fehl­ver­hal­tens. Je schwe­rer ei­ne Pflicht­ver­let­zung wiegt, des­to länger kann sie für die Be­ur­tei­lung der Führung, der Leis­tun­gen und der Fähig­kei­ten des Ar­beit­neh­mers und ggf. für sei­ne Ver­trau­enswürdig­keit von Be­deu­tung sein. Ein auf nur ge­rin­ger Nachlässig­keit be­ru­hen­der Ord­nungs­ver­s­toß kann sei­ne Be­deu­tung für das Ar­beits­verhält­nis deut­lich eher ver­lie­ren (vgl. da­zu BAG 27. Ja­nu­ar 1988 - 5 AZR 604/86 - zu III der Gründe, RzK I 1 Nr. 26) als ein Fehl­ver­hal­ten, wel­ches ge­eig­net ist, das Ver­trau­en in die In­te­grität des Ar­beit­neh­mers er­heb­lich zu be­ein­träch­ti­gen. Auch ei­ne schwe­re Pflicht­ver­let­zung im Leis­tungs­be­reich wird ein In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers an ei­nem Ver­bleib der Ab­mah­nung in der Per­so­nal­ak­te an­ge­sichts der Möglich­keit, die Qua­lität der Ar­beits­leis­tung und die Befähi­gung des Ar­beit­neh­mers für höher­wer­ti­ge oder an­de­re Tätig­kei­ten be­ur­tei­len zu müssen, für länge­re Zeit be­gründen können.


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