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ARBEITSRECHT AKTUELL // 09/120

Kei­ne Ver­ein­ba­rung zu­las­ten des Ar­beit­neh­mers vor Ab­lauf des Ta­rif­ver­tra­ges

Ar­beits­ver­trag­li­che Ab­wei­chun­gen von ei­nem Ta­rif­ver­trag zu­las­ten des Ar­beit­neh­mers wer­den nicht im­mer wirk­sam, wenn die Lauf­zeit des Ta­rif­ver­trags en­det: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 20.05.2009, 4 AZR 230/08
Münzen, Münzhaufen Bis zum Ab­lauf der Nach­bin­dung kommt man von ta­rif­li­chen An­sprü­che nicht los

10.07.2009. Ist die Lauf­zeit ei­nes Ta­rif­ver­trags um, kann der Ta­rif­ver­trag auch bei der bei­der­sei­ti­ger Ta­rif­bin­dung von Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­neh­mer durch ei­ne vom Ta­rif ab­wei­chen­de ar­beits­ver­trag­li­che Ver­ein­ba­rung ab­ge­löst wer­den.

Denn der Ta­rif­ver­trag wirkt zwar nach dem Ge­setz noch nach, doch geht im Nach­wir­kungs­sta­di­um eben je­de an­der­wei­ti­ge Ver­ein­ba­rung vor.

Frag­lich ist al­ler­dings, ob ar­beits­ver­trag­li­che Ver­ein­ba­run­gen ei­nen Ta­rif­ver­trag in des­sen Nach­wir­kungs­zeit auch dann er­set­zen, wenn sie schon lan­ge vor dem Ab­lauf des Ta­rif­ver­trags ge­trof­fen wur­den.

In ei­ner ak­tu­el­len Ent­schei­dung meint das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) nein: BAG, Ur­teil vom 20.05.2009, 4 AZR 230/08.

Wird ei­ne Ar­beits­ver­trags­re­ge­lung, die vor Ab­lauf ei­nes Ta­rif­ver­trags ver­ein­bart wur­de und vom Ta­rif nach un­ten ab­weicht, bei Ab­lauf des Ta­rif­ver­trags im­mer wirk­sam?

Ta­rif­verträge bzw. die in ih­nen ent­hal­te­nen In­halts­nor­men (Löhne, Ar­beits­zei­ten) gel­ten un­mit­tel­bar und zwin­gend für Ar­beits­verhält­nis­se, wenn der Ar­beit­ge­ber ent­we­der selbst den Ta­rif­ver­trag ab­ge­schlos­sen hat oder Mit­glied des den Ta­rif­ver­trag ab­sch­ließen­den Ar­beit­ge­ber­ver­ban­des ist, und wenn der Ar­beit­neh­mer gleich­zei­tig Mit­glied der Ge­werk­schaft ist, die den Ta­rif­ver­trag ab­ge­schlos­sen hat.

So­lan­ge ein Ta­rif­ver­trag un­mit­tel­bar gilt, darf von sei­nen Re­ge­lun­gen nicht zu­un­guns­ten des Ar­beit­neh­mers ab­ge­wi­chen wer­den (Güns­tig­keits­prin­zip), selbst wenn der Ar­beit­neh­mer hier­mit ein­ver­stan­den ist (§ 4 Abs. 3 Ta­rif­ver­trags­ge­setz - TVG). Et­was an­de­res gilt nur dann, wenn ei­ne Ab­wei­chung zu­las­ten des Ar­beit­neh­mers aus­drück­lich in dem Ta­rif­ver­trag zu­ge­las­sen wird.

Wird der Ta­rif­ver­trag gekündigt oder ist er von vorn­her­ein nur be­fris­tet ab­ge­schlos­sen wor­den, en­den sei­ne Re­ge­lun­gen nicht ab­rupt. Viel­mehr be­stimmt § 4 Abs. 5 TVG, dass die Re­ge­lun­gen so­lan­ge wei­ter gel­ten, bis sie durch ei­ne „an­de­re Ab­ma­chung“ er­setzt wer­den (so ge­nann­te Nach­wir­kung).

Als an­de­re Ab­ma­chun­gen gel­ten et­wa ein neu­er Ta­rif­ver­trag, Be­triebs­ver­ein­ba­run­gen oder ar­beits­ver­trag­li­che Re­ge­lun­gen. In die­sem Fall gilt das Güns­tig­keits­prin­zip nicht. Das heißt: Wirkt der Ta­rif­ver­trag nur noch nach, dürfen auch Re­ge­lun­gen ge­trof­fen wer­den, die den Ar­beit­neh­mer schlech­ter stel­len als die ta­rif­li­chen Re­ge­lun­gen.

Da­bei ist es nach der Recht­spre­chung nicht un­be­dingt nötig, dass die „an­de­re Ab­ma­chung“ erst im Nach­wir­kungs­zeit­raum des Ta­rif­ver­tra­ges ge­schlos­sen wird. Möglich ist es auch, schon vor­her ent­spre­chen­de Re­ge­lun­gen zu tref­fen, so­lan­ge sie im Hin­blick auf die Nach­wir­kung des Ta­rif­ver­tra­ges, d.h. im Hin­blick auf den Weg­fall sei­ner nor­ma­ti­ven Wir­kung ver­ein­bart wur­den.

Frag­lich ist, un­ter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen ei­ne Ver­ein­ba­rung im Hin­blick auf die Nach­wir­kungs­zeit des Ta­rif­ver­tra­ges ab­ge­schlos­sen wird (und da­her zu­un­guns­ten des Ar­beit­neh­mers zulässig ist). Frag­lich ist auch, was mit ei­ner dem Ar­beit­neh­mer ungüns­ti­gen Re­ge­lung ge­schieht, die nicht im Hin­blick auf die Nach­wir­kungs­zeit des Ta­rif­ver­tra­ges ge­schlos­sen wor­den ist, son­dern z.B. un­abhängig da­von: Ist ei­ne sol­che ver­trag­li­che Re­ge­lung wirk­sam, falls der Ta­rif­ver­trag später tatsächlich abläuft?

Mit die­sen Fra­gen beschäftigt sich ei­ne Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) vom 20.05.2009 (4 AZR 230/08), die bis­her nur als Pres­se­mit­tei­lung (PM 48/09) vor­liegt.

Der Streit­fall: Ta­rif­ge­bun­de­ner Ar­beit­ge­ber lässt sich über ein Jahr vor dem Aus­lau­fen ei­nes Ta­rif­ver­trags ungüns­ti­ge­re ar­beits­ver­trag­li­che Re­ge­lun­gen ab­zeich­nen

Auf das Ar­beits­verhält­nis der kla­gen­den Ar­beit­neh­me­rin fand ein Man­tel­ta­rif­ver­trag (MTV) An­wen­dung, da die Ar­beit­neh­me­rin Mit­glied der ent­spre­chen­den Ge­werk­schaft und der Ar­beit­ge­ber Mit­glied im Ar­beit­ge­ber­ver­band war. Der Ar­beit­ge­ber wech­sel­te später in ei­ne Mit­glied­schaft oh­ne Ta­rif­bin­dung (OT-Mit­glied­schaft). Der MTV galt aber wei­ter.

Im März 2005 ver­ein­bar­ten die Ar­beits­ver­trags­par­tei­en für die Zeit ab April 2005 ei­ne Verlänge­rung der im MTV vor­ge­se­he­nen Ar­beits­zeit oh­ne Lohn­aus­gleich und ei­ne Verkürzung des Ur­laubs um zwei Ta­ge. Im Ok­to­ber 2005 wur­de der Ta­rif­ver­trag gekündigt, und zwar mit Wir­kung zum 31.03.2006. Mit ih­rer Kla­ge be­gehrt die Ar­beit­neh­me­rin un­ter an­de­rem Zah­lung der über die ta­rif­li­che Ar­beits­zeit hin­aus­ge­hen­den Ar­beits­zeit und Nach­gewährung der zwei Ur­laubs­ta­ge.

Das Ar­beits­ge­richt und das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Hamm wie­sen die Kla­ge der Ar­beit­neh­me­rin ab (LAG Hamm, Ur­teil vom 07.11.2007, 18 Sa 507/07).

Eben­so wie in der Par­al­lel­ent­schei­dung des LAG Hamm (Ur­teil vom 07.11.2007, 18 Sa 508/07) kam das LAG zu dem Er­geb­nis, dass ei­ne vom Ta­rif zu­las­ten der Ar­beit­neh­me­rin ab­wei­chen­de ar­beits­ver­trag­li­che Re­ge­lung ge­trof­fen wor­den war, und zwar nicht im Hin­blick auf den Ab­lauf des Ta­rif­ver­tra­ges.

Dies hat­te aber nach An­sicht des LAG nur die Fol­ge, dass die ar­beits­ver­trag­li­che Ver­ein­ba­rung so­lan­ge vom Ta­rif ver­drängt wird, wie die­ser zwin­gend galt. Nach sei­nem Ab­lauf leb­te da­her die ar­beits­ver­trag­li­che Re­ge­lung wie­der auf.

BAG: Ablösung ta­rif­li­cher Be­stim­mun­gen durch ar­beits­ver­trag­li­che Re­ge­lun­gen nur, wenn die­se "kon­kret und zeit­nah" vor dem be­vor­ste­hen­den Ab­lauf des Ta­rif­ver­trags ver­ein­bart wur­den

Das Bun­des­ar­beits­ge­richt war an­de­rer Auf­fas­sung als die Vor­in­stan­zen und gab der kla­gen­den Ar­beit­neh­me­rin recht.

In der Pres­se­mi­tei­lung heißt es da­zu, dass die vom Ta­rif zu­las­ten der Ar­beit­neh­me­rin ab­wei­chen­den ar­beits­ver­trag­li­chen Ver­ein­ba­run­gen kei­ne „an­de­re Ab­ma­chung“ dar­stel­len, die den ab­ge­lau­fe­nen Ta­rif­ver­trag er­setzt. Denn wer­den Re­ge­lun­gen vor Ab­lauf des Ta­rif­ver­tra­ges ge­schlos­sen, so das BAG, er­set­zen sie den Ta­rif­ver­trag nur dann, wenn sie kon­kret und zeit­nah vor dem be­vor­ste­hen­den Ab­lauf ge­trof­fen wer­den und die Si­tua­ti­on re­geln sol­len, die sich auf­grund der Nach­wir­kung er­gibt.

Im vor­lie­gen­den Fall war die ar­beits­ver­trag­li­che Ver­ein­ba­rung aber schon ein Jahr vor Ab­lauf des Ta­rif­ver­tra­ges ge­trof­fen wor­den und da­mit zu ei­nem Zeit­punkt, als des­sen Kündi­gung noch gar nicht ab­zu­se­hen war. In die­sem Punkt stimmt das BAG mit der Be­wer­tung des LAG übe­rein.

Das BAG kommt darüber hin­aus zu dem Er­geb­nis, dass die zu­un­guns­ten der Ar­beit­neh­me­rin ge­trof­fe­nen ar­beits­ver­trag­li­chen Re­ge­lun­gen un­wirk­sam sind und des­halb auch nicht zu ei­nem späte­ren Zeit­punkt wie­der auf­le­ben.

Fa­zit: OT-Mit­glied­schaf­ten in Ar­beit­ge­ber­verbänden sind in den letz­ten Jah­ren auf dem Vor­marsch. Die vor­lie­gen­de Ent­schei­dung des BAG er­schwert die Ent­schei­dung ei­nes Ar­beit­ge­bers für die­se Form der Ver­bands­mit­glied­schaft. Im­mer­hin muss er künf­tig zeit­nah vor dem Hin­ter­grund des Weg­falls der nor­ma­ti­ven Wir­kung des Ta­rif­ver­trags mit den be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mern Ab­spra­chen tref­fen, die sich sehr bald und kon­kret zu ih­ren Las­ten aus­wir­ken wer­den.

Die „smar­te“ Vor­ge­hens­wei­se, sich gleich­sam auf Vor­rat ta­rif­wid­ri­ge Ar­beits­ver­trags­klau­seln ab­zeich­nen zu las­sen, um sie bei Be­darf zu ak­ti­vie­ren, ist auf der Grund­la­ge die­ses Ur­teils nicht möglich. Dies hat das BAG vor ei­ni­gen Ta­gen noch­mals bestätigt (BAG, Ur­teil vom 20.05.2009, 4 AZR 230/08).

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das Ge­richt sei­ne Ent­schei­dungs­gründe schrift­lich ab­ge­fasst und veröffent­licht. Die Ent­schei­dungs­gründe im Voll­text fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 13. März 2018

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