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EGMR, Ur­teil vom 28.06.2012, 1620/03

   
Schlagworte: Schüth, Kirche, Kündigung: Verhaltensbedingt, Kündigung: Kirche, Ehebruch
   
Gericht: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Aktenzeichen: 1620/03
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 28.06.2012
   
Leitsätze:
Vorinstanzen:
   

Eu­ropäischer Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te

Rechts­sa­che Schüth ge­gen DEU­TSCH­LAND

(In­di­vi­du­al­be­schwer­de Nr. 1620/03)

Ent­schei­dung über die Höhe ei­ner Entschädi­gung nach Ar­ti­kel 41 EM­RK, nach­dem der EGMR mit frühe­rem Ur­teil vom 23. Sep­tem­ber 2010 ei­ne Ver­let­zung von Ar­ti­kel 8 EM­RK fest­stell­te.

UR­TEIL

STRASSBURG

28. Ju­ni 2012

Die­ses Ur­teil wird nach Maßga­be von Ar­ti­kel 44 Abs. 2 der Kon­ven­ti­on endgültig. Es wird ge­ge­be­nen­falls noch re­dak­tio­nell übe­r­ar­bei­tet.

In der Rechts­sa­che Schüth ./. Deutsch­land
hat der Eu­ropäische Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te (Fünf­te Sek­ti­on) als Kam­mer, die sich zu­sam­men­setzt aus den Rich­tern und Rich­te­rin­nen:
De­an Spiel­mann, Präsi­dent,
Mark Vil­li­ger,
Ka­rel Jung­wiert,
Boštjan M. Zu­pančič,
Gan­na Yud­kivs­ka,
An­ge­li­ka Nußber­ger,
An­dré Po­to­cki,
so­wie der Kanz­le­rin der Sek­ti­on, Clau­dia WES­TER­DIEK,
nach Be­ra­tung in nicht öffent­li­cher Sit­zung am 5. Ju­ni 2012,
das fol­gen­de Ur­teil er­las­sen, das an die­sem Tag an­ge­nom­men wor­den ist:

VER­FAH­REN UND SACH­VER­HALT

1. Der Rechts­sa­che liegt ei­ne ge­gen die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ge­rich­te­te In­di­vi­du­al­be­schwer­de (Nr. 1620/03) zu­grun­de, die ein deut­scher Staats­an­gehöri­ger, Herr S. („der Be­schwer­deführer“), am 11. Ja­nu­ar 2003 nach Ar­ti­kel 34 der Kon­ven­ti­on zum Schutz der Men­schen­rech­te und Grund­frei­hei­ten („die Kon­ven­ti­on“) beim Ge­richts­hof ein­ge­reicht hat.

2. In dem Ur­teil vom 23. Sep­tem­ber 2010 („das Ur­teil in der Haupt­sa­che”), das am 23. De­zem­ber 2010 endgültig wur­de, war der Ge­richts­hof der An­sicht, dass die Ent­schei­dun­gen der deut­schen Ar­beits­ge­rich­te, mit de­nen die Kündi­gung des Be­schwer­deführers durch die Ka­tho­li­sche Kir­che bestätigt wur­de, Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on ver­letzt ha­ben (S. ./. Deutsch­land, Nr. 1620/03, CEDH 2010). Er ver­trat ins­be­son­de­re die Auf­fas­sung, die deut­schen Ar­beits­ge­rich­te hätten nicht hinläng­lich dar­ge­legt, war­um den Fol­ge­run­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts Düssel­dorf zu­fol­ge die In­ter­es­sen der ka­tho­li­schen Kir­chen­ge­mein­de die­je­ni­gen des Be­schwer­deführers bei wei­tem über­trof­fen ha­ben und dass sie die Rech­te des Be­schwer­deführers und die­je­ni­gen des kirch­li­chen Ar­beit­ge­bers nicht in ei­ner Wei­se ab­ge­wo­gen hätten, die in Ein­klang mit der Kon­ven­ti­on steht. Un­ter Berück­sich­ti­gung der be­son­de­ren Umstände der Sa­che hat er ge­fol­gert, dass der deut­sche Staat dem Be­schwer­deführer dem­nach nicht den not­wen­di­gen Schutz gewährt hat und dass so­mit Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on ver­letzt wor­den ist (ibi­dem, Rd­nrn. 74-75).

3. Un­ter Be­ru­fung auf Ar­ti­kel 41 der Kon­ven­ti­on for­der­te der Be­schwer­deführer ei­ne ge­rech­te Entschädi­gung in Höhe von 323.741,45 Eu­ro (EUR) als ma­te­ri­el­len Scha­den bis zum 31. De­zem­ber 2008, von 30.000 EUR als im­ma­te­ri­el­len Scha­den, den er er­lit­ten ha­be, und von 3.565,38 EUR für Kos­ten und Aus­la­gen.

4. Da die Fra­ge der An­wen­dung von Ar­ti­kel 41 der Kon­ven­ti­on noch nicht spruch­reif war, hat der Ge­richts­hof sich die­se Fra­ge vor­be­hal­ten und die Re­gie­rung so­wie den Be­schwer­deführer auf­ge­for­dert, in­ner­halb von drei Mo­na­ten ab der Ur­teils­verkündung ih­re Stel­lung­nah­men zu die­ser Fra­ge vor­zu­le­gen und ihn von je­der Ei­ni­gung, die sie mögli­cher­wei­se er­zie­len, zu un­ter­rich­ten (ibi­dem, Rd­nr. 81 und Zif­fer 3 des Te­nors).

5. So­wohl der Be­schwer­deführer als auch die Re­gie­rung ha­ben schrift­li­che Stel­lung­nah­men vor­ge­legt. Am 30. No­vem­ber 2011 hat der Kam­mer­vor­sit­zen­de gemäß Ar­ti­kel 4 (sic) Ab­satz 2 Zif­fer 2 Buch­sta­be a) der Ver­fah­rens­ord­nung des Ge­richts­hofs die Par­tei­en auf­ge­for­dert, wei­te­re schrift­li­che Stel­lung­nah­men zum Fort­gang des Ver­fah­rens be­tref­fend die zwei­te Kündi­gung des Be­schwer­deführers durch den kirch­li­chen Ar­beit­ge­ber (sie­he Rand­num­mer 29 des Ur­teils in der Haupt­sa­che) und in Be­zug auf die Re­sti­tu­ti­ons­kla­ge be­tref­fend die streit­ge­genständ­li­che Kündi­gung ab­zu­ge­ben, die der Be­schwer­deführer nach dem Ur­teil des Ge­richts­hofs in der Haupt­sa­che er­ho­ben hat­te. Mit Schrei­ben vom 8. und 12. De­zem­ber 2011 ha­ben die Par­tei­en die­se Auskünf­te er­teilt.

6. Aus die­sen In­for­ma­tio­nen geht her­vor, dass der Fort­gang des in­ter­nen Ver­fah­rens seit dem Ur­teil in der Haupt­sa­che sich wie folgt dar­stellt:

Mit Ur­teil vom 4. Mai 2011 ver­warf das Lan­des­ar­beits­ge­richt Düssel­dorf, das der Be­schwer­deführer kurz nach dem Ur­teil des Ge­richts­hofs an­ge­ru­fen hat­te, die Re­sti­tu­ti­ons­kla­ge als un­zulässig. Es hob her­vor, dass § 580 Nr. 8 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung die Wie­der­auf­nah­me ei­nes Ver­fah­rens nach ei­nem Ur­teil des Ge­richts­hofs, mit dem ei­ne Ver­let­zung der Kon­ven­ti­on in Be­zug auf die­ses Ver­fah­ren fest­ge­stellt wird, grundsätz­lich ge­stat­tet. Gemäß § 35 des Einführungs­ge­set­zes zur Zi­vil­pro­zess­ord­nung gel­te § 580 Nr. 8 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung, der ein­gefügt wur­de, um der Emp­feh­lung des Mi­nis­ter­ko­mi­tees des Eu­ro­pa­rats vom 19. Ja­nu­ar 2000 (Nr. R (2000) 2) Fol­ge zu leis­ten, aber nur für Ver­fah­ren, die nach sei­nem In­kraft­tre­ten am 31. De­zem­ber 2006 ab­ge­schlos­sen wor­den sind. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hob in die­sem Zu­sam­men­hang her­vor, das Ver­fah­ren des Be­schwer­deführers sei mit Be­schluss des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 29. Mai 2000, mit dem die Re­vi­si­on nicht zu­ge­las­sen wur­de, be­en­det wor­den (sie­he Rd­nr. 26 des Ur­teils in der Haupt­sa­che). Es ver­deut­lich­te, der Kla­ge des Be­schwer­deführers stünde je­den­falls § 586 Ab­satz 2 Satz 2 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung ent­ge­gen, wo­nach ei­ne Re­sti­tu­ti­ons­kla­ge nur in­ner­halb ei­ner Frist von fünf Jah­ren ab dem Tag der Rechts­kraft des ent­spre­chen­den Ur­teils er­ho­ben wer­den kann. Es fügte hin­zu, dass dem Ge­setz­ge­ber in Deutsch­land bei sei­ner Ent­schei­dung, Zif­fer 8 des § 580 in die Zi­vil­pro­zess­ord­nung ein­zufügen, zwar be­kannt war, dass die Recht­su­chen­den die Möglich­keit der An­ru­fung des Ge­richts­hofs ha­ben und wie lan­ge die dor­ti­gen Ver­fah­ren dau­ern, er gleich­wohl die Frist nach § 586 Ab­satz 2 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung nicht geändert hat. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Re­vi­si­on zu­ge­las­sen. Die Sa­che ist ge­genwärtig vor dem Bun­des­ar­beits­ge­richt anhängig.

Der Be­schwer­deführer hat­te zu­vor am 15. Ok­to­ber 2010 das Lan­des­ar­beits­ge­richt er­sucht, das Ver­fah­ren be­tref­fend die zwei­te Kündi­gung wie­der auf­zu­neh­men, das in Er­war­tung der Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts in dem Ver­fah­ren zur ers­ten Kündi­gung am 17. Au­gust 2000 aus­ge­setzt wor­den war. Am 26. Ja­nu­ar 2011 un­ter­rich­te­te das Lan­des­ar­beits­ge­richt die Par­tei­en da­von, dass die Prüfung der ers­ten Kündi­gung ei­ne Vor­be­din­gung für die Prüfung der zwei­ten Kündi­gung sei, die drei Mo­na­te nach der ers­ten Kündi­gung aus­ge­spro­chen wor­den ist und dass dem­nach ei­ne Ver­bin­dung der bei­den Ver­fah­ren vom Ge­richt nicht be­ab­sich­tigt sei. Am 26. Ok­to­ber 2011 er­ach­te­te es die­ses Ver­fah­ren als er­le­digt, weil die­ses sei­tens des Be­schwer­deführers mehr als sechs Mo­na­te nicht be­trie­ben wor­den ist.

RECHT­L­CHE WÜRDI­GUNG

7. Ar­ti­kel 41 der Kon­ven­ti­on lau­tet wie folgt:
„Stellt der Ge­richts­hof fest, dass die­se Kon­ven­ti­on oder die Pro­to­kol­le da­zu ver­letzt wor­den sind, und ge­stat­tet das in­ner­staat­li­che Recht der Ho­hen Ver­trags­par­tei nur ei­ne un­voll­kom­me­ne Wie­der­gut­ma­chung für die Fol­gen die­ser Ver­let­zung, so spricht der Ge­richts­hof der ver­letz­ten Par­tei ei­ne ge­rech­te Entschädi­gung zu, wenn dies not­wen­dig ist.“

A. Scha­den

1. Die Ar­gu­men­te der Par­tei­en

a) Der Be­schwer­deführer

8. Der Be­schwer­deführer for­dert 644.099,27 EUR we­gen des er­lit­te­nen ma­te­ri­el­len Scha­dens. Die­ser Be­trag setzt sich wie folgt zu­sam­men: 233.225,31 EUR we­gen des ver­gan­ge­nen Dienst­aus­falls für den Zeit­raum vom 1. Ju­li 1998 bis zum 30. Ju­ni 2011, 202.711,82 EUR we­gen des er­war­te­ten zukünf­ti­gen Ver­dienst­aus­falls für den Zeit­raum vom 1. Ju­li 2011 bis zum 30. No­vem­ber 2022 und 208.153,13 EUR we­gen der er­war­te­ten Ren­ten­min­de­rung. Er ver­deut­licht, dass die­se Beträge sich abzüglich des Ar­beits­lo­sen­gel­des und des Ge­hal­tes zu­sam­men­set­zen, das er ab dem 1. Sep­tem­ber 2002 aus sei­ner Teil­zeittätig­keit (50%) bei ei­ner evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­de in Es­sen ver­dien­te (sie­he Rand­num­mer 28 des Ur­teils in der Haupt­sa­che). Bei der Be­mes­sung der kon­kre­ti­sier­ten Ver­lus­te ist der Be­schwer­deführer von der An­nah­me aus­ge­gan­gen, dass er bis zu sei­nem Ren­ten­ein­tritt im De­zem­ber 2022 wei­ter­hin als Or­ga­nist in der Kir­chen­ge­mein­de St. Lam­ber­tus an­ge­stellt ge­we­sen wäre.

9. Der Be­schwer­deführer un­ter­streicht zunächst, ihm ste­he nach in­ner­staat­li­chem Recht kein Mit­tel zur Verfügung, um ei­ne Wie­der­gut­ma­chung we­gen des er­lit­te­nen Scha­dens zu er­lan­gen, weil die Zi­vil­pro­zess­ord­nung die Wie­der­auf­nah­me des Kündi­gungs­ver­fah­rens gemäß §§ 580 Nr. 8 und 586 Ab­satz 2 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung und § 35 des Einführungs­ge­set­zes zur Zi­vil­pro­zess­ord­nung nicht ge­stat­te. Er be­haup­tet im Übri­gen, es könne von ihm nicht ver­langt wer­den, ein neu­es Ver­fah­ren ein­zu­lei­ten, um in den Ge­nuss ei­nes Aus­gleichs zu ge­lan­gen (sie­he Bar­berà, Mes­se­gué und Ja­bar­do ./. Spa­ni­en (Ar­ti­kel 50), 13. Ju­ni 1994, Rd­nr. 17, Se­rie A Bd. 285-C).

10. Der Be­schwer­deführer be­haup­tet, dass zwi­schen sei­ner Kündi­gung und den be­zif­fer­ten Ver­lus­ten ein Kau­sal­zu­sam­men­hang be­ste­he. Sei­ne Si­tua­ti­on sei mit der­je­ni­gen der Be­schwer­deführer in der ge­nann­ten Rechts­sa­che Bar­berà, Mes­se­gué und Ja­bar­do ver­gleich­bar. Der Be­schwer­deführer ist der An­sicht, dass, soll­te der Staat sei­ner Pflicht nicht genügen, im Fal­le sei­ner Kündi­gung ei­nen ef­fek­ti­ven Rechts­schutz zu gewähr­leis­ten, weil es an ei­ner Abwägung der in Re­de ste­hen­den In­ter­es­sen man­gelt, es sich hier­bei um ei­nen un­mit­tel­ba­ren staat­li­chen Akt han­de­le, der den gel­tend ge­mach­ten ma­te­ri­el­len Nach­teil ver­ur­sacht hat. Hätten die Ar­beits­ge­rich­te sei­ne Kündi­gung nicht bestätigt, wäre er sei­nes Er­ach­tens mit hinläng­li­cher Si­cher­heit im Sin­ne der Grundsätze für ei­ne ge­rech­te Entschädi­gung wei­ter­hin als Or­ga­nist in der Kir­chen­ge­mein­de St. Lam­ber­tus tätig ge­we­sen. In die­sem Zu­sam­men­hang legt er dar, dass er kurz nach sei­ner ers­ten Kündi­gung den Sta­tus ei­nes unkünd­ba­ren Beschäftig­ten er­langt hätte, dass er an­ge­sichts sei­ner spe­zi­el­len Aus­bil­dung und der Tat­sa­che, dass die Or­gel von St. Lam­ber­tus nach sei­nen Plänen kon­zi­piert wur­de, ein großes persönli­ches In­ter­es­se an sei­ner Wei­ter­beschäfti­gung hat­te und dass im Übri­gen die le­bens­lan­ge Beschäfti­gung auf ein und der­sel­ben Stel­le bei Or­ga­nis­ten dem Re­gel­fall ent­spre­che. Ihm zu­fol­ge würde sein neu­er Ar­beits­platz (ab dem 1. Sep­tem­ber 2002) in ei­ner evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­de, der ca. drei Ki­lo­me­ter von sei­ner frühe­ren An­stel­lung ent­fernt liegt, die­se Fest­stel­lung be­kräfti­gen. Er fügt hin­zu, dass er im Ge­gen­satz zu den Be­trof­fe­nen in der Rechts­sa­che Smith und Gra­dy ./. Ver­ei­nig­tes König­reich (ge­rech­te Entschädi­gung) Nr. 33985/96 und Nr. 33986/96, CEDH 2000-IX) größere Schwie­rig­kei­ten ha­be, ei­nen neu­en Ar­beits­platz we­gen sei­ner spe­zi­el­len Aus­bil­dung zu fin­den, und dass es ihm we­gen der Vor­schrif­ten über die Beschäfti­gung nicht evan­ge­li­scher Per­so­nen nicht möglich war, ei­ne Teil­zeit­beschäfti­gung mit 75% in der Evan­ge­li­schen Kir­che an­zu­neh­men (sie­he Rand­num­mer 39 des Ur­teils in der Haupt­sa­che).

11. Was den im­ma­te­ri­el­len Scha­den an­be­langt, for­dert der Be­schwer­deführer 500 EUR für die Dau­er des Ver­fah­rens vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt und 34.000 EUR, um ei­ne Rei­he von Fol­ge­er­schei­nun­gen im An­schluss an sei­ne Kündi­gung zu be­he­ben. Dies­bezüglich be­haup­tet der Be­schwer­deführer, dass er durch das öffent­li­che Ver­fah­ren vor den Ar­beits­ge­rich­ten, ins­be­son­de­re im Zu­ge der Be­weis­auf­nah­me und bei den Anhörun­gen der Zeu­gen, bloßge­stellt wor­den sei, dass er nicht nur sei­ne Ar­beits­stel­le ver­lo­ren ha­be, son­dern auch die Möglich­kei­ten, sich künst­le­risch aus­zu­drücken und die von ihm mit ge­stal­te­te Or­gel zu be­die­nen, dass sei­ne Freund­schaf­ten und fa­mi­liären Be­zie­hun­gen zer­bro­chen sei­en, öffent­lich Kla­ge ge­gen ihn we­gen Be­trugs er­ho­ben wor­den sei, dass er sei­nen Le­bens­stan­dard dras­tisch zurück­schrau­ben muss­te und nicht mehr in der La­ge sei, sei­nen Kin­dern Un­ter­halt zu zah­len und ih­nen das Er­ler­nen ei­nes zwei­ten In­stru­ments zu ermögli­chen.

b) Die Re­gie­rung

12. Die Re­gie­rung ver­weist auf den feh­len­den Kau­sal­zu­sam­men­hang zwi­schen der vom Ge­richts­hof fest­ge­stell­ten Ver­let­zung und dem vom Be­schwer­deführer gel­tend ge­mach­ten ma­te­ri­el­len Scha­den. Sie be­haup­tet ein­gangs, der vor­lie­gen­de Fall sei ein­deu­tig von dem Ur­teil in der vor­ge­nann­ten Rechts­sa­che Bar­berà, Mes­se­gué und Ja­bar­do zu un­ter­schei­den, in dem die Be­trof­fe­nen Ein­kom­mens­ver­lus­te we­gen ih­rer In­haf­tie­rung er­lit­ten ha­ben, die im An­schluss an ein Straf­ver­fah­ren an­ge­ord­net wor­den ist, das mit Ar­ti­kel 6 der Kon­ven­ti­on nicht in Ein­klang stand. De­ren In­haf­tie­rung er­wei­se sich nämlich als ein un­mit­tel­ba­rer staat­li­cher Ein­griff in das Recht der Be­trof­fe­nen auf Frei­heit, wo­hin­ge­gen im vor­lie­gen­den Fall ein pri­va­ter Ar­beit­ge­ber die Kündi­gung aus­ge­spro­chen hat und der Be­schwer­deführer des­we­gen die Ar­beits­ge­rich­te an­ru­fen konn­te.

13. Die Re­gie­rung be­haup­tet so­dann, der Ge­richts­hof ha­be sich in sei­nem Ur­teil in der Haupt­sa­che dar­auf be­schränkt, die un­zu­rei­chen­de Abwägung kon­kur­rie­ren­der Rech­te zu be­an­stan­den, weil die deut­schen Ar­beits­ge­rich­te nicht nach­ge­wie­sen hätten, war­um die In­ter­es­sen der Kir­chen­ge­mein­de die­je­ni­gen des Be­schwer­deführers bei wei­tem über­tra­fen. Ihr zu­fol­ge gäbe es aber kei­nen Hin­weis dar­auf, dass das Ver­fah­ren zu Guns­ten des Be­schwer­deführers aus­ge­fal­len wäre, wenn die Ar­beits­ge­rich­te ei­ne der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs genügen­de In­ter­es­sen­abwägung vor­ge­nom­men hätten. Ih­res Er­ach­tens könne über die Be­haup­tun­gen des Be­schwer­deführers hier­zu nur spe­ku­liert wer­den. Beim Be­schwer­deführer könne in der Tat nicht da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass er sich in ei­ner La­ge be­fand, in der die Abwägung der Ar­beits­ge­rich­te zu sei­nen Guns­ten aus­ge­fal­len wäre. Un­ter Be­zug­nah­me auf Ur­tei­le, in de­nen der Ge­richts­hof der An­sicht war, dass die Fest­stel­lung der Ver­let­zung ei­ne aus­rei­chen­de ge­rech­te Entschädi­gung dar­stel­len würde (z.B. In­for­ma­ti­ons­ver­ein Len­tia u.a. ./. Öster­reich, 24. No­vem­ber 1993, Se­rie A Bd. 276), fol­gert die Re­gie­rung, der Be­schwer­deführer sei nicht be­rech­tigt, die Er­stat­tung des Ver­dienst­aus­fal­les zu for­dern und ha­be al­len­falls An­spruch auf Bruch­tei­le der ge­for­der­ten Sum­men.

14. Die Re­gie­rung ist fer­ner der An­sicht, es sei nicht er­wie­sen, dass der Be­schwer­deführer bis zu sei­nem Ren­ten­ein­tritt als Or­ga­nist in der Kir­chen­ge­mein­de St. Lam­ber­tus tätig ge­blie­ben wäre. Auch wenn zu be­den­ken sei, dass der Be­schwer­deführer bei sei­ner An­stel­lung mögli­cher­wei­se den Plan hat­te, die­ses Amt sein gan­zes Be­rufs­le­ben über aus­zufüllen, er­in­nert die Re­gie­rung dar­an, dass sol­che Le­bens­pläne un­si­cher und mit Unwägbar­kei­ten ver­bun­den und dem­nach nicht be­re­chen­bar sind, wie die Tren­nung von sei­ner ers­ten Frau und die Be­zie­hung zu sei­ner neu­en Frau un­ter Be­weis stel­len. Die Re­gie­rung ver­tritt die Auf­fas­sung, dass selbst wenn die Kündi­gung si­cher­lich ein schwe­rer Schick­sals­schlag für den Be­schwer­deführer ge­we­sen ist, es nicht Auf­ga­be des Staa­tes ist, die­sen vor sol­chen Le­bens­ri­si­ken wie dem Ver­lust des Ar­beits­plat­zes zu be­wah­ren oder ihn bis ans Le­bens­en­de zu ali­men­tie­ren. Der Be­schwer­deführer tra­ge Ei­gen­ver­ant­wor­tung für sein Le­ben und ha­be im Übri­gen sei­nen Be­ruf da­mals gewählt, ob­wohl er von den stren­gen Mo­ral­vor­stel­lun­gen der Ka­tho­li­schen Kir­che wuss­te und die be­grenz­ten Möglich­kei­ten kann­te, we­gen sei­ner spe­zi­el­len Aus­bil­dung an­ders­wo beschäftigt wer­den zu können. Die Re­gie­rung be­haup­tet fer­ner, der Be­schwer­deführer sei ver­pflich­tet ge­we­sen, den et­wai­gen ma­te­ri­el­len Scha­den be­dingt durch sei­ne Kündi­gung zu be­gren­zen und sich stärker zu bemühen, ei­ne sei­ner Aus­bil­dung ent­spre­chen­de (zusätz­li­che) Beschäfti­gung zu fin­den, wie Mu­sik­leh­rer in ei­ner Schu­le oder auf pri­va­ter Ebe­ne oder ei­ne Tätig­keit zu über­neh­men, die nicht auf sei­ner Aus­bil­dung auf­baut.

15. Die Re­gie­rung legt schließlich dar, die Höhe des Scha­dens könne nicht, wie der Be­schwer­deführer dies ge­tan hat, nach in­ner­staat­li­chem Recht be­mes­sen wer­den, son­dern auf der Grund­la­ge der vom Ge­richts­hof zu Ar­ti­kel 41 der Kon­ven­ti­on auf­ge­stell­ten Kri­te­ri­en. In die­sem Zu­sam­men­hang ver­weist sie auf die Beträge, die vom Ge­richts­hof in an­de­ren Fällen zu­ge­bil­ligt wur­den und die in die­sem Be­reich ein Bild der Größen­ord­nung ge­ben würden, wo­bei sie ins­be­son­de­re un­ter­streicht, dass es bei die­sen Rechts­sa­chen um Kündi­gun­gen durch den Staat (Smith und Gra­dy a.a.O.) oder um sol­che ging, die von pri­va­ten Ar­beit­ge­bern in An­wen­dung ei­nes Ge­set­zes mit Vor­schrif­ten zur Re­ge­lung die­ser Beschäfti­gung aus­ge­spro­chen wur­den (Rai­nys und Ga­s­pa­ra­vičius ./. Li­tau­en (Nr. 70665/01 und 74345/01, 7. April 2005).

16. Was den im­ma­te­ri­el­len Scha­den an­be­langt, so be­strei­tet die Re­gie­rung zunächst die ge­for­der­te Sum­me we­gen der Dau­er des Ver­fah­rens vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, die dem Ur­teil in der Haupt­sa­che nicht zu Grun­de lag und folg­lich nicht berück­sich­tigt wer­den könne. Bezüglich der vom Be­schwer­deführer gel­tend ge­mach­ten Fol­gen der Kündi­gung ist sie der An­sicht, dass kei­ne die­ser Fol­gen ei­nen Kau­sal­zu­sam­men­hang mit der vom Ge­richts­hof fest­ge­stell­ten Ver­let­zung auf­weist. Auch hier dürf­ten die Rechts­sa­chen Smith and Gra­dy a.a.O., Lus­tig-Pre­an und Be­ckett ./. Ver­ei­nig­tes König­reich (ge­rech­te Entschädi­gung), Nr. 31417/96 und Nr. 32377/96, 25. Ju­li 2000), Per­kins und R. ./. Ver­ei­nig­tes König­reich (Nr. 43208/98 und Nr. 44875/98, 22. Ok­to­ber 2002), Beck u.a. ./. Ver­ei­nig­tes König­reich (Nr. 48535/99, Nr. 48536/99 und Nr. 48537/99, 22. Ok­to­ber 2002) und Rai­nys und Ga­s­pa­ra­vičius a.a.O. nütz­lich sein, um ein Bild von der Größen­ord­nung der zu­zu­bil­li­gen­den Beträge zu ge­ben.

2. Die Würdi­gung des Ge­richts­hofs

a) Be­he­bung der Ver­let­zung auf in­ner­staat­li­cher Ebe­ne

17. Der Ge­richts­hof er­in­nert zunächst dar­an, dass, soll­te ein Ein­zel­ner Op­fer ei­nes Ver­fah­rens ge­wor­den sein, in dem ge­gen die Er­for­der­nis­se nach Ar­ti­kel 6 der Kon­ven­ti­on ver­s­toßen wur­de, ein neu­es Ver­fah­ren oder ei­ne Wie­der­auf­nah­me des Ver­fah­rens auf An­trag des Be­trof­fe­nen grundsätz­lich ein an­ge­mes­se­nes Mit­tel dar­stellt, um der fest­ge­stell­ten Ver­let­zung ab­zu­hel­fen (Se­jdo­vic ./. Ita­li­en [GK], Nr. 56581/00, Rd­nr. 126, CEDH 2006-II; Cu­dak ./. Li­tau­en [GK], Nr. 15869/02, Rd­nr. 79, 23. März 2010, und Gua­da­gni­no ./. Ita­li­en und Frank­reich, Nr. 2555/03, Rd­nr. 81, 18. Ja­nu­ar 2011). Da der Ge­richts­hof in der vor­lie­gen­den Sa­che ei­ne Ver­let­zung des Ar­ti­kels 8 der Kon­ven­ti­on fest­ge­stellt hat, weil die Ar­beits­ge­rich­te ei­ne un­zu­rei­chen­de Abwägung vor­ge­nom­men ha­ben (sie­he Rand­num­mer 2 oben), ist er der Auf­fas­sung, dass an­ge­sichts der be­son­de­ren Umstände des Fal­les die Wie­der­auf­nah­me des ar­beits­recht­li­chen Ver­fah­rens des Be­schwer­deführers und ei­ne Prüfung des Fal­les im Licht der Schluss­fol­ge­run­gen des Ge­richts­hofs eben­falls ein an­ge­mes­se­nes Mit­tel dar­stellt, um die fest­ge­stell­te Ver­let­zung zu be­he­ben.

18. Er weist aber dar­auf hin, dass der deut­sche Ge­setz­ge­ber im Jahr 2006 die Möglich­keit der Wie­der­auf­nah­me ei­nes Zi­vil­ver­fah­rens zwar ein­geführt hat, wenn der Ge­richts­hof nämlich ei­ne Ver­let­zung bezüglich die­ses Ver­fah­rens fest­ge­stellt hat, dass die Wie­der­auf­nah­me des Ver­fah­rens im vor­lie­gen­den Fall je­doch we­gen der Fris­ten, die zu die­sem Zweck in der Zi­vil­pro­zess­ord­nung und im Einführungs­ge­setz zur Zi­vil­pro­zess­ord­nung vor­ge­se­hen sind, nicht mehr möglich sein dürf­te (sie­he Rand­num­mer 6 oben). Die Re­gie­rung be­strei­tet dies im Übri­gen nicht. Der Ge­richts­hof stellt fest, dass das Lan­des­ar­beits­ge­richt die­se Fest­stel­lung in sei­nem Ur­teil vom 4. Mai 2011 bestätigt hat. Es trifft zu, dass das Bun­des­ar­beits­ge­richt ge­genwärtig mit die­ser Fra­ge be­fasst ist und bei Be­darf das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt an­ru­fen könn­te, um zu prüfen, ob die­se Fris­ten mit dem Grund­ge­setz in Ein­klang ste­hen. Dies­bezüglich stellt der Ge­richts­hof eben­falls fest, dass seit dem am 27. Ok­to­ber 2011 in Kraft ge­tre­te­nen Ge­setz vom 21. Ok­to­ber 2011 zur Ände­rung [ins­be­son­de­re] des § 522 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung die in § 586 Ab­satz 2 Satz 2 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung vor­ge­se­he­ne Frist von fünf Jah­ren gemäß dem neu­en Ab­satz 4 von § 586 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung auf die Re­sti­tu­ti­ons­kla­ge nach § 580 Nr. 8 der Zi­vil­pro­zess­ord­nung nicht mehr an­zu­wen­den ist. An­ge­sichts des ein­deu­ti­gen Wort­lauts der ein­schlägi­gen Rechts­vor­schrif­ten, der Dau­er des vor­lie­gen­den Ver­fah­rens vor dem Ge­richts­hof und der Tat­sa­che, dass das Re­vi­si­ons­ver­fah­ren vor dem Bun­des­ar­beits­ge­richt anhängig ist und die Par­tei, zu de­ren Un­guns­ten die Ent­schei­dung des Obers­ten Ge­richts er­geht, grundsätz­lich ei­ne Ver­fas­sungs­be­schwer­de zum Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ein­rei­chen könn­te, er­ach­tet der Ge­richts­hof sich aber nicht für ver­pflich­tet, die Ent­schei­dung über die Anträge des Be­schwer­deführers aus­zu­set­zen und den Aus­gang des Re­vi­si­ons­ver­fah­rens vor den in­ner­staat­li­chen In­stan­zen ab­zu­war­ten (sie­he sinn­gemäß Bar­berà, Mes­se­gué und Ja­bar­do a.a.O., Rd­nr. 17).

b) Der gel­tend ge­mach­te ma­te­ri­el­le und im­ma­te­ri­el­le Scha­den

19. Was den gel­tend ge­mach­ten ma­te­ri­el­len Scha­den an­be­langt, so ruft der Ge­richts­hof in Er­in­ne­rung, dass ei­ne ge­rech­te Entschädi­gung ein­zig für die Schäden zu­zu­spre­chen ist, die durch ei­ne vom Ge­richts­hof fest­ge­stell­te Kon­ven­ti­ons­ver­let­zung ver­ur­sacht wer­den (Mo­tais de Nar­bon­ne ./. Frank­reich (ge­rech­te Entschädi­gung), Nr. 48161/99, Rd­nr. 19, 27. Mai 2003, Back­lung ./. Finn­land (ge­rech­te Entschädi­gung), Nr. 36498/05, Rd­nr. 13, 12. Ju­li 2011). An­ge­sichts der zahl­lo­sen unwägba­ren Fak­to­ren, die bei der Be­mes­sung der Schäden be­dingt durch Kündi­gungsfälle ei­ne Rol­le spie­len, ist fer­ner fest­zu­hal­ten, dass der Scha­den um­so un­ge­wis­ser wird, je mehr Zeit seit der Kündi­gung des Be­trof­fe­nen ver­stri­chen ist (sinn­gemäß Smith und Gra­dy a.a.O., Rd­nr. 18).

20. Der Ge­richts­hof stellt zunächst fest, dass die Kündi­gung des Be­schwer­deführers - ver­gli­chen mit an­de­ren Rechts­sa­chen - kei­ne Maßnah­me dar­stellt, die von ei­ner Behörde ge­trof­fen wur­de (Smith und Gra­dy a.a.O.; Iva­no­va ./. Bul­ga­ri­en, Nr. 52435/99, 12. April 2007, sie­he auch Rai­nys und Ga­s­pa­ra­vičius a.a.O. so­wie Bar­berà, Mes­se­gué und Ja­bar­do a.a.O., und Çakıcı ./. Türkei [GK], Nr. 23657/94, CEDH 1999-IV); die Kündi­gung wur­de viel­mehr von ei­nem pri­va­ten Ar­beit­ge­ber aus­ge­spro­chen, des­sen Sta­tus als öffent­lich-recht­li­che Körper­schaft nach deut­schem Recht in die­sem Zu­sam­men­hang nicht maßgeb­lich war (sie­he Ur­teil in der Haupt­sa­che, Rd­nr. 54).

21. Der Ge­richts­hof stellt an­sch­ließend fest, dass er in sei­nem Ur­teil in der Haupt­sa­che ins­be­son­de­re her­vor­ge­ho­ben hat, dass die Ar­gu­men­ta­ti­on der Ar­beits­ge­rich­te hin­sicht­lich der Kon­se­quen­zen, die die­se aus dem Ver­hal­ten des Be­schwer­deführers ge­zo­gen ha­ben, ei­nen bündi­gen Cha­rak­ter auf­wie­sen (Rd­nr. 66), dass das Lan­des­ar­beits­ge­richt die Fra­ge der Nähe der vom Be­schwer­deführer aus­geübten Tätig­keit zum Verkündungs­auf­trag der Kir­che nicht ge­prüft hat­te (Rd­nr. 69), dass bei der Abwägung der kon­kur­rie­ren­den Rech­te und In­ter­es­sen ei­ne ein­ge­hen­de­re Prüfung nötig ge­we­sen wäre (ibid.) und dass das Lan­des­ar­beits­ge­richt sich da­mit be­gnügt hat­te, an­zu­ge­ben, dass es die Kon­se­quen­zen der ge­gen den Be­schwer­deführer aus­ge­spro­che­nen Kündi­gung nicht ver­ken­ne, oh­ne aber auf die As­pek­te ein­zu­ge­hen, die es bei der Abwägung der im Spiel be­find­li­chen In­ter­es­sen in die­ser Hin­sicht berück­sich­tigt hat­te (Rd­nr. 73). Der Ge­richts­hof hat ge­fol­gert, die Ar­beits­ge­rich­te hätten nicht hinläng­lich dar­ge­legt, war­um nach den Fol­ge­run­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts die In­ter­es­sen der Kir­chen­ge­mein­de die­je­ni­gen des Be­schwer­deführers bei wei­tem über­trof­fen ha­ben, da­zu hätten sie die Rech­te des Be­schwer­deführers und die­je­ni­gen des kirch­li­chen Ar­beit­ge­bers nicht in ei­ner Wei­se ab­ge­wo­gen, die in Ein­klang mit der Kon­ven­ti­on steht (Rd­nr. 74).

22. In die­sem Zu­sam­men­hang ist dar­auf hin­zu­wei­sen, dass der Ge­richts­hof gleich­zei­tig mit dem Ur­teil in der Haupt­sa­che ein zwei­tes Ur­teil gefällt hat, das ei­ne mit der vor­lie­gen­den Sa­che ver­gleich­ba­re Si­tua­ti­on be­han­delt, wo­bei er zu der Fest­stel­lung ge­lang­te, dass Ar­ti­kel 8 der Kon­ven­ti­on nicht ver­letzt wor­den ist (O. ./. Deutsch­land, Nr. 425/03, Rd­nr. 52, 23. Sep­tem­ber 2010). In die­ser Sa­che hat er ins­be­son­de­re die Auf­fas­sung ver­tre­ten, dass die Ar­beits­ge­rich­te al­le sach­dien­li­chen As­pek­te berück­sich­tigt und ei­ne ein­ge­hen­de und um­fas­sen­de Abwägung der in Re­de ste­hen­den In­ter­es­sen vor­ge­nom­men hat­ten (ibid, Rd­nr. 49, sie­he auch S. ./. Deutsch­land, Nr. 18136/02, Rd­nrn. 45-47, 3. Fe­bru­ar 2011).

23. Der Ge­richts­hof ist dem­nach der An­sicht, dass die ein­zi­ge Grund­la­ge für die Zu­bil­li­gung ei­ner ge­rech­ten Entschädi­gung in der vor­lie­gen­den Sa­che dar­in be­gründet ist, dass die Ar­beits­ge­rich­te bei der Abwägung der In­ter­es­sen des Be­schwer­deführers und der­je­ni­gen des kirch­li­chen Ar­beit­ge­bers nicht al­le ein­schlägi­gen As­pek­te berück­sich­tigt und ih­re Ar­gu­men­ta­ti­on nicht hinläng­lich dar­ge­legt ha­ben. Er er­in­nert dar­an, dass es nicht sei­ne Auf­ga­be ist, über die Schluss­fol­ge­run­gen zu spe­ku­lie­ren, zu de­nen die deut­schen Ar­beits­ge­rich­te ge­langt wären, wenn sie ei­ne kon­ven­ti­ons­gemäße Abwägung vor­ge­nom­men hätten. (s. sinn­gemäß Chev­rol ./. Frank­reich, Nr. 49636/99, Rd­nr. 89, CEDH 2003-III ; Cu­dak a.a.O., Rd­nr. 79). Der Ge­richts­hof hält es aber nicht für un­an­ge­mes­sen, da­von aus­zu­ge­hen, dass der Be­schwer­deführer ei­nen Ver­lust an Chan­cen er­lit­ten hat, der al­ler­dings schwer­lich zu be­mes­sen ist (sie­he sinn­gemäß Lech­ner und Hess ./. Öster­reich, 23. April 1987, Rd­nr. 64, Se­rie A Bd. 118 ; Cu­dak a.a.O., Rd­nr. 79, Gua­da­gni­no a.a.O., Rd­nr. 82, Sa­beh El Leil ./. Frank­reich [GK], Nr. 34869/05, Rd­nr. 72, 29. Ju­ni 2011). Hin­zu kommt ein im­ma­te­ri­el­ler Scha­den, den der Be­schwer­deführer un­strei­tig er­lit­ten hat, dem die Fest­stel­lung der Kon­ven­ti­ons­ver­let­zung im Sin­ne des Ur­teils in der Haupt­sa­che je­doch nicht ab­zu­hel­fen ver­mag.

24. Auf ei­ner ge­rech­ten Grund­la­ge gemäß Ar­ti­kel 41 der Kon­ven­ti­on bil­ligt der Ge­richts­hof dem Be­schwer­deführer 40.000 EUR un­ter Ver­knüpfung al­ler Scha­dens­gründe zu.

B. Kos­ten und Aus­la­gen

25. Der Be­schwer­deführer ver­langt für das in­ner­staat­li­che Ver­fah­ren 752,36 EUR an Rechts­an­walts­gebühren, die nötig wa­ren, um die Ver­fas­sungs­be­schwer­de zum Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ein­zu­rei­chen.

Für das Ver­fah­ren vor dem Ge­richts­hof ver­langt er 9.683,60 EUR. Die­ser Be­trag setzt sich wie folgt zu­sam­men: 876,73 EUR zwecks Ein­rei­chens der Be­schwer­de vor dem Ge­richts­hof, 1.936,29 EUR für die Über­set­zung sei­ner Stel­lung­nah­men und 6.870,58 EUR für Rechts­an­walts­gebühren im Hin­blick auf die Er­stel­lung des Schrift­sat­zes vom 17. Fe­bru­ar 2011 zur Fra­ge der ge­rech­ten Entschädi­gung.

26. Die Re­gie­rung weist dar­auf hin, dass die Rechts­an­walts­gebühren für die Er­stel­lung des Schrift­sat­zes zur Fra­ge der ge­rech­ten Entschädi­gung zu Un­recht auf der Grund­la­ge ei­nes Ge­gen­stands­werts von 682.155,64 EUR be­rech­net wor­den sind, wo­hin­ge­gen die Kos­ten für die Be­schwer­de­schrift vom 10. No­vem­ber 2008 auf der Grund­la­ge ei­nes Ge­gen­stands­werts von ca. 15.000 EUR be­rech­net wur­den, trotz der Tat­sa­che, dass der Be­schwer­deführer in sei­nem Schrift­satz vom 10. No­vem­ber 2008 den Be­trag von 323.741 EUR als Scha­dens­er­satz ge­for­dert hat­te.

27. Der Ge­richts­hof er­in­nert dar­an, dass er gemäß Ar­ti­kel 41 der Kon­ven­ti­on die­je­ni­gen Kos­ten er­stat­tet, bei de­nen nach­ge­wie­sen ist, dass sie tatsächlich an­ge­fal­len sind und er­for­der­lich wa­ren und ei­nen an­ge­mes­se­nen Be­trag dar­stel­len (Smith und Gra­dy a.a.O., Rd­nr. 28, und Back­lund a.a.O., Rd­nr. 18). An­ge­sichts der vor­be­zeich­ne­ten Kri­te­ri­en und un­ter Berück­sich­ti­gung der dem Ge­richts­hof vor­lie­gen­den Un­ter­la­gen er­ach­tet er hier für an­ge­mes­sen, dem Be­schwer­deführer die für das in­ner­staat­li­che Ver­fah­ren ge­for­der­ten Kos­ten zu­zu­bil­li­gen. Bezüglich der für das Ver­fah­ren vor dem Ge­richts­hof spe­zi­fi­zier­ten Kos­ten stellt er fest, dass er nur die Er­stat­tung ei­nes Teils der Beträge ge­bil­ligt hat, die der Be­schwer­deführer in sei­ner Stel­lung­nah­me vom 17. Fe­bru­ar 2011 als Scha­dens­er­satz ge­for­dert hat. So­mit hält er für an­ge­mes­sen, dem Be­schwer­deführer 7.600 EUR für Kos­ten und Aus­la­gen un­ter Ein­be­zie­hung al­ler Kos­ten- und Aus­la­gen­grund­la­gen zu­zu­spre­chen zuzüglich der Beträge, die als Steu­er mögli­cher­wei­se an­fal­len.

C. Ver­zugs­zin­sen

28. Der Ge­richts­hof hält es für an­ge­mes­sen, für die Be­rech­nung der Ver­zugs­zin­sen den Spit­zen­re­fi­nan­zie­rungs­satz der Eu­ropäischen Zen­tral­bank zuzüglich 3 Pro­zent­punk­te zu­grun­de zu le­gen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENT­SCHEI­DET DER GERICH­TSHOF EINSTIM­MIG:

1. Er ent­schei­det,

a) dass der be­schwer­de­geg­ne­ri­sche Staat dem Be­schwer­deführer in­ner­halb von drei Mo­na­ten, nach­dem das Ur­teil gemäß Ar­ti­kel 44 Abs. 2 der Kon­ven­ti­on endgültig ge­wor­den ist, die fol­gen­den Beträge zu zah­len hat:

i) 40.000 EUR (vier­zig­tau­send Eu­ro) we­gen des ma­te­ri­el­len und im­ma­te­ri­el­len Scha­dens zuzüglich even­tu­ell an­fal­len­der Steu­ern;

ii) 7.600 EUR (sie­ben­tau­send­sechs­hun­dert Eu­ro) für Kos­ten und Aus­la­gen zuzüglich der Beträge, die als Steu­er mögli­cher­wei­se bei dem Be­schwer­deführer an­fal­len könn­ten;

b) dass die­ser Be­trag nach Ab­lauf der ge­nann­ten Frist bis zur Zah­lung ein­fach zu ver­zin­sen ist, und zwar zu ei­nem Satz, der dem­je­ni­gen der Spit­zen­re­fi­nan­zie­rungs­fa­zi­lität der Eu­ropäischen Zen­tral­bank ent­spricht, der in die­ser Zeit Gültig­keit hat, zuzüglich drei Pro­zent­punk­ten.

2. Er weist im Übri­gen den An­trag auf ge­rech­te Entschädi­gung zurück.

Aus­ge­fer­tigt in französi­scher Spra­che und an­sch­ließend am 28. Ju­ni 2012 gemäß Ar­ti­kel 77 Absätze 2 und 3 der Ver­fah­rens­ord­nung schrift­lich über­mit­telt.

Clau­dia Wes­ter­diek
Kanz­le­rin

De­an Spiel­mann
Präsi­dent

 

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