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EGMR, Urteil vom 28.06.2012, 1620/03
Schlagworte: | Schüth, Kirche, Kündigung: Verhaltensbedingt, Kündigung: Kirche, Ehebruch | |
Gericht: | Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte | |
Aktenzeichen: | 1620/03 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 28.06.2012 | |
Leitsätze: | ||
Vorinstanzen: | ||
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Rechtssache Schüth gegen DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 1620/03)
Entscheidung über die Höhe einer Entschädigung nach Artikel 41 EMRK, nachdem der EGMR mit früherem Urteil vom 23. September 2010 eine Verletzung von Artikel 8 EMRK feststellte.
URTEIL
STRASSBURG
28. Juni 2012
Dieses Urteil wird nach Maßgabe von Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache Schüth ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer, die sich zusammensetzt aus den Richtern und Richterinnen:
Dean Spielmann, Präsident,
Mark Villiger,
Karel Jungwiert,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
sowie der Kanzlerin der Sektion, Claudia WESTERDIEK,
nach Beratung in nicht öffentlicher Sitzung am 5. Juni 2012,
das folgende Urteil erlassen, das an diesem Tag angenommen worden ist:
VERFAHREN UND SACHVERHALT
1. Der Rechtssache liegt eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Individualbeschwerde (Nr. 1620/03) zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr S. („der Beschwerdeführer“), am 11. Januar 2003 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hat.
2. In dem Urteil vom 23. September 2010 („das Urteil in der Hauptsache”), das am 23. Dezember 2010 endgültig wurde, war der Gerichtshof der Ansicht, dass die Entscheidungen der deutschen Arbeitsgerichte, mit denen die Kündigung des Beschwerdeführers durch die Katholische Kirche bestätigt wurde, Artikel 8 der Konvention verletzt haben (S. ./. Deutschland, Nr. 1620/03, CEDH 2010). Er vertrat insbesondere die Auffassung, die deutschen Arbeitsgerichte hätten nicht hinlänglich dargelegt, warum den Folgerungen des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf zufolge die Interessen der katholischen Kirchengemeinde diejenigen des Beschwerdeführers bei weitem übertroffen haben und dass sie die Rechte des Beschwerdeführers und diejenigen des kirchlichen Arbeitgebers nicht in einer Weise abgewogen hätten, die in Einklang mit der Konvention steht. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände der Sache hat er gefolgert, dass der deutsche Staat dem Beschwerdeführer demnach nicht den notwendigen Schutz gewährt hat und dass somit Artikel 8 der Konvention verletzt worden ist (ibidem, Rdnrn. 74-75).
3. Unter Berufung auf Artikel 41 der Konvention forderte der Beschwerdeführer eine gerechte Entschädigung in Höhe von 323.741,45 Euro (EUR) als materiellen Schaden bis zum 31. Dezember 2008, von 30.000 EUR als immateriellen Schaden, den er erlitten habe, und von 3.565,38 EUR für Kosten und Auslagen.
4. Da die Frage der Anwendung von Artikel 41 der Konvention noch nicht spruchreif war, hat der Gerichtshof sich diese Frage vorbehalten und die Regierung sowie den Beschwerdeführer aufgefordert, innerhalb von drei Monaten ab der Urteilsverkündung ihre Stellungnahmen zu dieser Frage vorzulegen und ihn von jeder Einigung, die sie möglicherweise erzielen, zu unterrichten (ibidem, Rdnr. 81 und Ziffer 3 des Tenors).
5. Sowohl der Beschwerdeführer als auch die Regierung haben schriftliche Stellungnahmen vorgelegt. Am 30. November 2011 hat der Kammervorsitzende gemäß Artikel 4 (sic) Absatz 2 Ziffer 2 Buchstabe a) der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Parteien aufgefordert, weitere schriftliche Stellungnahmen zum Fortgang des Verfahrens betreffend die zweite Kündigung des Beschwerdeführers durch den kirchlichen Arbeitgeber (siehe Randnummer 29 des Urteils in der Hauptsache) und in Bezug auf die Restitutionsklage betreffend die streitgegenständliche Kündigung abzugeben, die der Beschwerdeführer nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Hauptsache erhoben hatte. Mit Schreiben vom 8. und 12. Dezember 2011 haben die Parteien diese Auskünfte erteilt.
6. Aus diesen Informationen geht hervor, dass der Fortgang des internen Verfahrens seit dem Urteil in der Hauptsache sich wie folgt darstellt:
Mit Urteil vom 4. Mai 2011 verwarf das Landesarbeitsgericht Düsseldorf, das der Beschwerdeführer kurz nach dem Urteil des Gerichtshofs angerufen hatte, die Restitutionsklage als unzulässig. Es hob hervor, dass § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung die Wiederaufnahme eines Verfahrens nach einem Urteil des Gerichtshofs, mit dem eine Verletzung der Konvention in Bezug auf dieses Verfahren festgestellt wird, grundsätzlich gestattet. Gemäß § 35 des Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung gelte § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung, der eingefügt wurde, um der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats vom 19. Januar 2000 (Nr. R (2000) 2) Folge zu leisten, aber nur für Verfahren, die nach seinem Inkrafttreten am 31. Dezember 2006 abgeschlossen worden sind. Das Landesarbeitsgericht hob in diesem Zusammenhang hervor, das Verfahren des Beschwerdeführers sei mit Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 29. Mai 2000, mit dem die Revision nicht zugelassen wurde, beendet worden (siehe Rdnr. 26 des Urteils in der Hauptsache). Es verdeutlichte, der Klage des Beschwerdeführers stünde jedenfalls § 586 Absatz 2 Satz 2 der Zivilprozessordnung entgegen, wonach eine Restitutionsklage nur innerhalb einer Frist von fünf Jahren ab dem Tag der Rechtskraft des entsprechenden Urteils erhoben werden kann. Es fügte hinzu, dass dem Gesetzgeber in Deutschland bei seiner Entscheidung, Ziffer 8 des § 580 in die Zivilprozessordnung einzufügen, zwar bekannt war, dass die Rechtsuchenden die Möglichkeit der Anrufung des Gerichtshofs haben und wie lange die dortigen Verfahren dauern, er gleichwohl die Frist nach § 586 Absatz 2 der Zivilprozessordnung nicht geändert hat. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Die Sache ist gegenwärtig vor dem Bundesarbeitsgericht anhängig.
Der Beschwerdeführer hatte zuvor am 15. Oktober 2010 das Landesarbeitsgericht ersucht, das Verfahren betreffend die zweite Kündigung wieder aufzunehmen, das in Erwartung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren zur ersten Kündigung am 17. August 2000 ausgesetzt worden war. Am 26. Januar 2011 unterrichtete das Landesarbeitsgericht die Parteien davon, dass die Prüfung der ersten Kündigung eine Vorbedingung für die Prüfung der zweiten Kündigung sei, die drei Monate nach der ersten Kündigung ausgesprochen worden ist und dass demnach eine Verbindung der beiden Verfahren vom Gericht nicht beabsichtigt sei. Am 26. Oktober 2011 erachtete es dieses Verfahren als erledigt, weil dieses seitens des Beschwerdeführers mehr als sechs Monate nicht betrieben worden ist.
RECHTLCHE WÜRDIGUNG
7. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Schaden
1. Die Argumente der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
8. Der Beschwerdeführer fordert 644.099,27 EUR wegen des erlittenen materiellen Schadens. Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen: 233.225,31 EUR wegen des vergangenen Dienstausfalls für den Zeitraum vom 1. Juli 1998 bis zum 30. Juni 2011, 202.711,82 EUR wegen des erwarteten zukünftigen Verdienstausfalls für den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis zum 30. November 2022 und 208.153,13 EUR wegen der erwarteten Rentenminderung. Er verdeutlicht, dass diese Beträge sich abzüglich des Arbeitslosengeldes und des Gehaltes zusammensetzen, das er ab dem 1. September 2002 aus seiner Teilzeittätigkeit (50%) bei einer evangelischen Kirchengemeinde in Essen verdiente (siehe Randnummer 28 des Urteils in der Hauptsache). Bei der Bemessung der konkretisierten Verluste ist der Beschwerdeführer von der Annahme ausgegangen, dass er bis zu seinem Renteneintritt im Dezember 2022 weiterhin als Organist in der Kirchengemeinde St. Lambertus angestellt gewesen wäre.
9. Der Beschwerdeführer unterstreicht zunächst, ihm stehe nach innerstaatlichem Recht kein Mittel zur Verfügung, um eine Wiedergutmachung wegen des erlittenen Schadens zu erlangen, weil die Zivilprozessordnung die Wiederaufnahme des Kündigungsverfahrens gemäß §§ 580 Nr. 8 und 586 Absatz 2 der Zivilprozessordnung und § 35 des Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung nicht gestatte. Er behauptet im Übrigen, es könne von ihm nicht verlangt werden, ein neues Verfahren einzuleiten, um in den Genuss eines Ausgleichs zu gelangen (siehe Barberà, Messegué und Jabardo ./. Spanien (Artikel 50), 13. Juni 1994, Rdnr. 17, Serie A Bd. 285-C).
10. Der Beschwerdeführer behauptet, dass zwischen seiner Kündigung und den bezifferten Verlusten ein Kausalzusammenhang bestehe. Seine Situation sei mit derjenigen der Beschwerdeführer in der genannten Rechtssache Barberà, Messegué und Jabardo vergleichbar. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass, sollte der Staat seiner Pflicht nicht genügen, im Falle seiner Kündigung einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, weil es an einer Abwägung der in Rede stehenden Interessen mangelt, es sich hierbei um einen unmittelbaren staatlichen Akt handele, der den geltend gemachten materiellen Nachteil verursacht hat. Hätten die Arbeitsgerichte seine Kündigung nicht bestätigt, wäre er seines Erachtens mit hinlänglicher Sicherheit im Sinne der Grundsätze für eine gerechte Entschädigung weiterhin als Organist in der Kirchengemeinde St. Lambertus tätig gewesen. In diesem Zusammenhang legt er dar, dass er kurz nach seiner ersten Kündigung den Status eines unkündbaren Beschäftigten erlangt hätte, dass er angesichts seiner speziellen Ausbildung und der Tatsache, dass die Orgel von St. Lambertus nach seinen Plänen konzipiert wurde, ein großes persönliches Interesse an seiner Weiterbeschäftigung hatte und dass im Übrigen die lebenslange Beschäftigung auf ein und derselben Stelle bei Organisten dem Regelfall entspreche. Ihm zufolge würde sein neuer Arbeitsplatz (ab dem 1. September 2002) in einer evangelischen Kirchengemeinde, der ca. drei Kilometer von seiner früheren Anstellung entfernt liegt, diese Feststellung bekräftigen. Er fügt hinzu, dass er im Gegensatz zu den Betroffenen in der Rechtssache Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich (gerechte Entschädigung) Nr. 33985/96 und Nr. 33986/96, CEDH 2000-IX) größere Schwierigkeiten habe, einen neuen Arbeitsplatz wegen seiner speziellen Ausbildung zu finden, und dass es ihm wegen der Vorschriften über die Beschäftigung nicht evangelischer Personen nicht möglich war, eine Teilzeitbeschäftigung mit 75% in der Evangelischen Kirche anzunehmen (siehe Randnummer 39 des Urteils in der Hauptsache).
11. Was den immateriellen Schaden anbelangt, fordert der Beschwerdeführer 500 EUR für die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht und 34.000 EUR, um eine Reihe von Folgeerscheinungen im Anschluss an seine Kündigung zu beheben. Diesbezüglich behauptet der Beschwerdeführer, dass er durch das öffentliche Verfahren vor den Arbeitsgerichten, insbesondere im Zuge der Beweisaufnahme und bei den Anhörungen der Zeugen, bloßgestellt worden sei, dass er nicht nur seine Arbeitsstelle verloren habe, sondern auch die Möglichkeiten, sich künstlerisch auszudrücken und die von ihm mit gestaltete Orgel zu bedienen, dass seine Freundschaften und familiären Beziehungen zerbrochen seien, öffentlich Klage gegen ihn wegen Betrugs erhoben worden sei, dass er seinen Lebensstandard drastisch zurückschrauben musste und nicht mehr in der Lage sei, seinen Kindern Unterhalt zu zahlen und ihnen das Erlernen eines zweiten Instruments zu ermöglichen.
b) Die Regierung
12. Die Regierung verweist auf den fehlenden Kausalzusammenhang zwischen der vom Gerichtshof festgestellten Verletzung und dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten materiellen Schaden. Sie behauptet eingangs, der vorliegende Fall sei eindeutig von dem Urteil in der vorgenannten Rechtssache Barberà, Messegué und Jabardo zu unterscheiden, in dem die Betroffenen Einkommensverluste wegen ihrer Inhaftierung erlitten haben, die im Anschluss an ein Strafverfahren angeordnet worden ist, das mit Artikel 6 der Konvention nicht in Einklang stand. Deren Inhaftierung erweise sich nämlich als ein unmittelbarer staatlicher Eingriff in das Recht der Betroffenen auf Freiheit, wohingegen im vorliegenden Fall ein privater Arbeitgeber die Kündigung ausgesprochen hat und der Beschwerdeführer deswegen die Arbeitsgerichte anrufen konnte.
13. Die Regierung behauptet sodann, der Gerichtshof habe sich in seinem Urteil in der Hauptsache darauf beschränkt, die unzureichende Abwägung konkurrierender Rechte zu beanstanden, weil die deutschen Arbeitsgerichte nicht nachgewiesen hätten, warum die Interessen der Kirchengemeinde diejenigen des Beschwerdeführers bei weitem übertrafen. Ihr zufolge gäbe es aber keinen Hinweis darauf, dass das Verfahren zu Gunsten des Beschwerdeführers ausgefallen wäre, wenn die Arbeitsgerichte eine der Rechtsprechung des Gerichtshofs genügende Interessenabwägung vorgenommen hätten. Ihres Erachtens könne über die Behauptungen des Beschwerdeführers hierzu nur spekuliert werden. Beim Beschwerdeführer könne in der Tat nicht davon ausgegangen werden, dass er sich in einer Lage befand, in der die Abwägung der Arbeitsgerichte zu seinen Gunsten ausgefallen wäre. Unter Bezugnahme auf Urteile, in denen der Gerichtshof der Ansicht war, dass die Feststellung der Verletzung eine ausreichende gerechte Entschädigung darstellen würde (z.B. Informationsverein Lentia u.a. ./. Österreich, 24. November 1993, Serie A Bd. 276), folgert die Regierung, der Beschwerdeführer sei nicht berechtigt, die Erstattung des Verdienstausfalles zu fordern und habe allenfalls Anspruch auf Bruchteile der geforderten Summen.
14. Die Regierung ist ferner der Ansicht, es sei nicht erwiesen, dass der Beschwerdeführer bis zu seinem Renteneintritt als Organist in der Kirchengemeinde St. Lambertus tätig geblieben wäre. Auch wenn zu bedenken sei, dass der Beschwerdeführer bei seiner Anstellung möglicherweise den Plan hatte, dieses Amt sein ganzes Berufsleben über auszufüllen, erinnert die Regierung daran, dass solche Lebenspläne unsicher und mit Unwägbarkeiten verbunden und demnach nicht berechenbar sind, wie die Trennung von seiner ersten Frau und die Beziehung zu seiner neuen Frau unter Beweis stellen. Die Regierung vertritt die Auffassung, dass selbst wenn die Kündigung sicherlich ein schwerer Schicksalsschlag für den Beschwerdeführer gewesen ist, es nicht Aufgabe des Staates ist, diesen vor solchen Lebensrisiken wie dem Verlust des Arbeitsplatzes zu bewahren oder ihn bis ans Lebensende zu alimentieren. Der Beschwerdeführer trage Eigenverantwortung für sein Leben und habe im Übrigen seinen Beruf damals gewählt, obwohl er von den strengen Moralvorstellungen der Katholischen Kirche wusste und die begrenzten Möglichkeiten kannte, wegen seiner speziellen Ausbildung anderswo beschäftigt werden zu können. Die Regierung behauptet ferner, der Beschwerdeführer sei verpflichtet gewesen, den etwaigen materiellen Schaden bedingt durch seine Kündigung zu begrenzen und sich stärker zu bemühen, eine seiner Ausbildung entsprechende (zusätzliche) Beschäftigung zu finden, wie Musiklehrer in einer Schule oder auf privater Ebene oder eine Tätigkeit zu übernehmen, die nicht auf seiner Ausbildung aufbaut.
15. Die Regierung legt schließlich dar, die Höhe des Schadens könne nicht, wie der Beschwerdeführer dies getan hat, nach innerstaatlichem Recht bemessen werden, sondern auf der Grundlage der vom Gerichtshof zu Artikel 41 der Konvention aufgestellten Kriterien. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die Beträge, die vom Gerichtshof in anderen Fällen zugebilligt wurden und die in diesem Bereich ein Bild der Größenordnung geben würden, wobei sie insbesondere unterstreicht, dass es bei diesen Rechtssachen um Kündigungen durch den Staat (Smith und Grady a.a.O.) oder um solche ging, die von privaten Arbeitgebern in Anwendung eines Gesetzes mit Vorschriften zur Regelung dieser Beschäftigung ausgesprochen wurden (Rainys und Gasparavičius ./. Litauen (Nr. 70665/01 und 74345/01, 7. April 2005).
16. Was den immateriellen Schaden anbelangt, so bestreitet die Regierung zunächst die geforderte Summe wegen der Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, die dem Urteil in der Hauptsache nicht zu Grunde lag und folglich nicht berücksichtigt werden könne. Bezüglich der vom Beschwerdeführer geltend gemachten Folgen der Kündigung ist sie der Ansicht, dass keine dieser Folgen einen Kausalzusammenhang mit der vom Gerichtshof festgestellten Verletzung aufweist. Auch hier dürften die Rechtssachen Smith and Grady a.a.O., Lustig-Prean und Beckett ./. Vereinigtes Königreich (gerechte Entschädigung), Nr. 31417/96 und Nr. 32377/96, 25. Juli 2000), Perkins und R. ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 43208/98 und Nr. 44875/98, 22. Oktober 2002), Beck u.a. ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 48535/99, Nr. 48536/99 und Nr. 48537/99, 22. Oktober 2002) und Rainys und Gasparavičius a.a.O. nützlich sein, um ein Bild von der Größenordnung der zuzubilligenden Beträge zu geben.
2. Die Würdigung des Gerichtshofs
a) Behebung der Verletzung auf innerstaatlicher Ebene
17. Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass, sollte ein Einzelner Opfer eines Verfahrens geworden sein, in dem gegen die Erfordernisse nach Artikel 6 der Konvention verstoßen wurde, ein neues Verfahren oder eine Wiederaufnahme des Verfahrens auf Antrag des Betroffenen grundsätzlich ein angemessenes Mittel darstellt, um der festgestellten Verletzung abzuhelfen (Sejdovic ./. Italien [GK], Nr. 56581/00, Rdnr. 126, CEDH 2006-II; Cudak ./. Litauen [GK], Nr. 15869/02, Rdnr. 79, 23. März 2010, und Guadagnino ./. Italien und Frankreich, Nr. 2555/03, Rdnr. 81, 18. Januar 2011). Da der Gerichtshof in der vorliegenden Sache eine Verletzung des Artikels 8 der Konvention festgestellt hat, weil die Arbeitsgerichte eine unzureichende Abwägung vorgenommen haben (siehe Randnummer 2 oben), ist er der Auffassung, dass angesichts der besonderen Umstände des Falles die Wiederaufnahme des arbeitsrechtlichen Verfahrens des Beschwerdeführers und eine Prüfung des Falles im Licht der Schlussfolgerungen des Gerichtshofs ebenfalls ein angemessenes Mittel darstellt, um die festgestellte Verletzung zu beheben.
18. Er weist aber darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber im Jahr 2006 die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines Zivilverfahrens zwar eingeführt hat, wenn der Gerichtshof nämlich eine Verletzung bezüglich dieses Verfahrens festgestellt hat, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens im vorliegenden Fall jedoch wegen der Fristen, die zu diesem Zweck in der Zivilprozessordnung und im Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung vorgesehen sind, nicht mehr möglich sein dürfte (siehe Randnummer 6 oben). Die Regierung bestreitet dies im Übrigen nicht. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landesarbeitsgericht diese Feststellung in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 bestätigt hat. Es trifft zu, dass das Bundesarbeitsgericht gegenwärtig mit dieser Frage befasst ist und bei Bedarf das Bundesverfassungsgericht anrufen könnte, um zu prüfen, ob diese Fristen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. Diesbezüglich stellt der Gerichtshof ebenfalls fest, dass seit dem am 27. Oktober 2011 in Kraft getretenen Gesetz vom 21. Oktober 2011 zur Änderung [insbesondere] des § 522 der Zivilprozessordnung die in § 586 Absatz 2 Satz 2 der Zivilprozessordnung vorgesehene Frist von fünf Jahren gemäß dem neuen Absatz 4 von § 586 der Zivilprozessordnung auf die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung nicht mehr anzuwenden ist. Angesichts des eindeutigen Wortlauts der einschlägigen Rechtsvorschriften, der Dauer des vorliegenden Verfahrens vor dem Gerichtshof und der Tatsache, dass das Revisionsverfahren vor dem Bundesarbeitsgericht anhängig ist und die Partei, zu deren Ungunsten die Entscheidung des Obersten Gerichts ergeht, grundsätzlich eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einreichen könnte, erachtet der Gerichtshof sich aber nicht für verpflichtet, die Entscheidung über die Anträge des Beschwerdeführers auszusetzen und den Ausgang des Revisionsverfahrens vor den innerstaatlichen Instanzen abzuwarten (siehe sinngemäß Barberà, Messegué und Jabardo a.a.O., Rdnr. 17).
b) Der geltend gemachte materielle und immaterielle Schaden
19. Was den geltend gemachten materiellen Schaden anbelangt, so ruft der Gerichtshof in Erinnerung, dass eine gerechte Entschädigung einzig für die Schäden zuzusprechen ist, die durch eine vom Gerichtshof festgestellte Konventionsverletzung verursacht werden (Motais de Narbonne ./. Frankreich (gerechte Entschädigung), Nr. 48161/99, Rdnr. 19, 27. Mai 2003, Backlung ./. Finnland (gerechte Entschädigung), Nr. 36498/05, Rdnr. 13, 12. Juli 2011). Angesichts der zahllosen unwägbaren Faktoren, die bei der Bemessung der Schäden bedingt durch Kündigungsfälle eine Rolle spielen, ist ferner festzuhalten, dass der Schaden umso ungewisser wird, je mehr Zeit seit der Kündigung des Betroffenen verstrichen ist (sinngemäß Smith und Grady a.a.O., Rdnr. 18).
20. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Kündigung des Beschwerdeführers - verglichen mit anderen Rechtssachen - keine Maßnahme darstellt, die von einer Behörde getroffen wurde (Smith und Grady a.a.O.; Ivanova ./. Bulgarien, Nr. 52435/99, 12. April 2007, siehe auch Rainys und Gasparavičius a.a.O. sowie Barberà, Messegué und Jabardo a.a.O., und Çakıcı ./. Türkei [GK], Nr. 23657/94, CEDH 1999-IV); die Kündigung wurde vielmehr von einem privaten Arbeitgeber ausgesprochen, dessen Status als öffentlich-rechtliche Körperschaft nach deutschem Recht in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich war (siehe Urteil in der Hauptsache, Rdnr. 54).
21. Der Gerichtshof stellt anschließend fest, dass er in seinem Urteil in der Hauptsache insbesondere hervorgehoben hat, dass die Argumentation der Arbeitsgerichte hinsichtlich der Konsequenzen, die diese aus dem Verhalten des Beschwerdeführers gezogen haben, einen bündigen Charakter aufwiesen (Rdnr. 66), dass das Landesarbeitsgericht die Frage der Nähe der vom Beschwerdeführer ausgeübten Tätigkeit zum Verkündungsauftrag der Kirche nicht geprüft hatte (Rdnr. 69), dass bei der Abwägung der konkurrierenden Rechte und Interessen eine eingehendere Prüfung nötig gewesen wäre (ibid.) und dass das Landesarbeitsgericht sich damit begnügt hatte, anzugeben, dass es die Konsequenzen der gegen den Beschwerdeführer ausgesprochenen Kündigung nicht verkenne, ohne aber auf die Aspekte einzugehen, die es bei der Abwägung der im Spiel befindlichen Interessen in dieser Hinsicht berücksichtigt hatte (Rdnr. 73). Der Gerichtshof hat gefolgert, die Arbeitsgerichte hätten nicht hinlänglich dargelegt, warum nach den Folgerungen des Landesarbeitsgerichts die Interessen der Kirchengemeinde diejenigen des Beschwerdeführers bei weitem übertroffen haben, dazu hätten sie die Rechte des Beschwerdeführers und diejenigen des kirchlichen Arbeitgebers nicht in einer Weise abgewogen, die in Einklang mit der Konvention steht (Rdnr. 74).
22. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof gleichzeitig mit dem Urteil in der Hauptsache ein zweites Urteil gefällt hat, das eine mit der vorliegenden Sache vergleichbare Situation behandelt, wobei er zu der Feststellung gelangte, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden ist (O. ./. Deutschland, Nr. 425/03, Rdnr. 52, 23. September 2010). In dieser Sache hat er insbesondere die Auffassung vertreten, dass die Arbeitsgerichte alle sachdienlichen Aspekte berücksichtigt und eine eingehende und umfassende Abwägung der in Rede stehenden Interessen vorgenommen hatten (ibid, Rdnr. 49, siehe auch S. ./. Deutschland, Nr. 18136/02, Rdnrn. 45-47, 3. Februar 2011).
23. Der Gerichtshof ist demnach der Ansicht, dass die einzige Grundlage für die Zubilligung einer gerechten Entschädigung in der vorliegenden Sache darin begründet ist, dass die Arbeitsgerichte bei der Abwägung der Interessen des Beschwerdeführers und derjenigen des kirchlichen Arbeitgebers nicht alle einschlägigen Aspekte berücksichtigt und ihre Argumentation nicht hinlänglich dargelegt haben. Er erinnert daran, dass es nicht seine Aufgabe ist, über die Schlussfolgerungen zu spekulieren, zu denen die deutschen Arbeitsgerichte gelangt wären, wenn sie eine konventionsgemäße Abwägung vorgenommen hätten. (s. sinngemäß Chevrol ./. Frankreich, Nr. 49636/99, Rdnr. 89, CEDH 2003-III ; Cudak a.a.O., Rdnr. 79). Der Gerichtshof hält es aber nicht für unangemessen, davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer einen Verlust an Chancen erlitten hat, der allerdings schwerlich zu bemessen ist (siehe sinngemäß Lechner und Hess ./. Österreich, 23. April 1987, Rdnr. 64, Serie A Bd. 118 ; Cudak a.a.O., Rdnr. 79, Guadagnino a.a.O., Rdnr. 82, Sabeh El Leil ./. Frankreich [GK], Nr. 34869/05, Rdnr. 72, 29. Juni 2011). Hinzu kommt ein immaterieller Schaden, den der Beschwerdeführer unstreitig erlitten hat, dem die Feststellung der Konventionsverletzung im Sinne des Urteils in der Hauptsache jedoch nicht abzuhelfen vermag.
24. Auf einer gerechten Grundlage gemäß Artikel 41 der Konvention billigt der Gerichtshof dem Beschwerdeführer 40.000 EUR unter Verknüpfung aller Schadensgründe zu.
B. Kosten und Auslagen
25. Der Beschwerdeführer verlangt für das innerstaatliche Verfahren 752,36 EUR an Rechtsanwaltsgebühren, die nötig waren, um die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einzureichen.
Für das Verfahren vor dem Gerichtshof verlangt er 9.683,60 EUR. Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen: 876,73 EUR zwecks Einreichens der Beschwerde vor dem Gerichtshof, 1.936,29 EUR für die Übersetzung seiner Stellungnahmen und 6.870,58 EUR für Rechtsanwaltsgebühren im Hinblick auf die Erstellung des Schriftsatzes vom 17. Februar 2011 zur Frage der gerechten Entschädigung.
26. Die Regierung weist darauf hin, dass die Rechtsanwaltsgebühren für die Erstellung des Schriftsatzes zur Frage der gerechten Entschädigung zu Unrecht auf der Grundlage eines Gegenstandswerts von 682.155,64 EUR berechnet worden sind, wohingegen die Kosten für die Beschwerdeschrift vom 10. November 2008 auf der Grundlage eines Gegenstandswerts von ca. 15.000 EUR berechnet wurden, trotz der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in seinem Schriftsatz vom 10. November 2008 den Betrag von 323.741 EUR als Schadensersatz gefordert hatte.
27. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er gemäß Artikel 41 der Konvention diejenigen Kosten erstattet, bei denen nachgewiesen ist, dass sie tatsächlich angefallen sind und erforderlich waren und einen angemessenen Betrag darstellen (Smith und Grady a.a.O., Rdnr. 28, und Backlund a.a.O., Rdnr. 18). Angesichts der vorbezeichneten Kriterien und unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen erachtet er hier für angemessen, dem Beschwerdeführer die für das innerstaatliche Verfahren geforderten Kosten zuzubilligen. Bezüglich der für das Verfahren vor dem Gerichtshof spezifizierten Kosten stellt er fest, dass er nur die Erstattung eines Teils der Beträge gebilligt hat, die der Beschwerdeführer in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2011 als Schadensersatz gefordert hat. Somit hält er für angemessen, dem Beschwerdeführer 7.600 EUR für Kosten und Auslagen unter Einbeziehung aller Kosten- und Auslagengrundlagen zuzusprechen zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise anfallen.
C. Verzugszinsen
28. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkte zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Er entscheidet,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil gemäß Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig geworden ist, die folgenden Beträge zu zahlen hat:
i) 40.000 EUR (vierzigtausend Euro) wegen des materiellen und immateriellen Schadens zuzüglich eventuell anfallender Steuern;
ii) 7.600 EUR (siebentausendsechshundert Euro) für Kosten und Auslagen zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise bei dem Beschwerdeführer anfallen könnten;
b) dass dieser Betrag nach Ablauf der genannten Frist bis zur Zahlung einfach zu verzinsen ist, und zwar zu einem Satz, der demjenigen der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank entspricht, der in dieser Zeit Gültigkeit hat, zuzüglich drei Prozentpunkten.
2. Er weist im Übrigen den Antrag auf gerechte Entschädigung zurück.
Ausgefertigt in französischer Sprache und anschließend am 28. Juni 2012 gemäß Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung schriftlich übermittelt.
Claudia Westerdiek
Kanzlerin
Dean Spielmann
Präsident
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