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BAG, Urteil vom 09.09.2010, 2 AZR 714/08
Schlagworte: | Kündigungsfrist | |
Gericht: | Bundesarbeitsgericht | |
Aktenzeichen: | 2 AZR 714/08 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 09.09.2010 | |
Leitsätze: | § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist mit Unionsrecht unvereinbar und für Kündigungen, die nach dem 2. Dezember 2006 erklärt wurden, wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht mehr anzuwenden. | |
Vorinstanzen: | Arbeitsgericht Kaiserslautern, Urteil vom 9.04.2008, 4 Ca 801/07 Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 31.07.2008, 10 Sa 295/08 |
|
BUNDESARBEITSGERICHT 2 AZR 714/08 10 Sa 295/08 Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz |
|
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
9. September 2010
URTEIL
Schmidt, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. September 2010 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht Kreft, den Richter am Bundesarbeitsgericht Schmitz-Scholemann, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Berger, den ehrenamtlichen Richter Krichel und die ehrenamtliche Richterin Pitsch für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 31. Juli 2008 - 10 Sa 295/08 - aufgehoben.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirma-sens - vom 9. April 2008 - 4 Ca 801/07 - teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis weder durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 28. November 2007 zum 31. Dezember 2007, noch durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 20. Dezember 2007 mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden ist, sondern bis zum 31. März 2008 fortbestanden hat.
Die Klägerin hat 3/5 der Kosten erster Instanz zu tragen, die Beklagte 2/5.
Die Kosten der Berufung und der Revision hat die Beklagte zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten noch über den Zeitpunkt der Beendigung ihres Ar-
beitsverhältnisses aufgrund ordentlicher arbeitgeberseitiger Kündigung vom 28. November 2007.
Die im Jahr 1979 geborene Klägerin war seit dem 15. September 1998
bei der Beklagten zunächst im Rahmen einer dreijährigen Berufsausbildung und unmittelbar anschließend als Einzelhandelskauffrau tätig. Ihr Bruttomonatsver-dienst betrug zuletzt 1.857,00 Euro.
Mit Schreiben vom 28. November 2007, der Klägerin zugegangen am
1. Dezember 2007, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis „zum 31.12.2007 fristgerecht, hilfsweise zum nächstmöglichen Zeitpunkt ... wegen Geschäftsschließung“. Mit weiterem Schreiben vom 20. Dezember 2007 kün-
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digte sie das Arbeitsverhältnis „fristlos und hilfsweise zum nächst zulässigen Termin“.
Die Klägerin hat gegen beide Kündigungen Klage erhoben. Hinsichtlich
der Kündigung vom 28. November 2007 hat sie im Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens nur noch geltend gemacht, die Beklagte habe die maßgebende Kündigungsfrist nicht eingehalten. Diese betrage drei Monate zum Monatsende. Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer sei auch die Zeit vor Vollendung ihres 25. Lebensjahrs zu berücksichtigen. Einen ursprünglich angekündigten allgemeinen Feststellungsantrag und einen Antrag auf Erteilung eines Arbeitszeugnisses hat sie schon erstinstanzlich nicht mehr verfolgt.
Die Klägerin hat - sinngemäß - beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 28. November 2007 nicht zum 31. Dezember 2007 aufgelöst worden ist, sondern - so der erstinstanzlich gestellte Antrag - bis zum 29. Februar 2008 bzw. - so der zuletzt gestellte Antrag - bis zum 31. März 2008 fortbestanden hat;
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung vom 20. Dezember 2007 aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Das Arbeitsverhält-
nis habe - aufgrund der Kündigung vom 28. November 2007 - spätestens am 31. Januar 2008 geendet. Bei der Berechnung der Kündigungsfrist sei lediglich eine dreijährige Betriebszugehörigkeit der Klägerin zu berücksichtigen. Die Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sei wirksam. Jedenfalls genieße sie entsprechenden Vertrauensschutz. Zeiten der Berufsausbildung zählten bei der Berechnung der Frist nicht mit.
Das Arbeitsgericht hat dem Klageantrag zu 2. stattgegeben und auf den
Antrag zu 1. festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 28. November 2007 nicht zum 31. Dezember 2007 aufgelöst worden ist, sondern bis zum 31. Januar 2008 fortbestanden hat. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurück-
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gewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr noch rechtshängiges Feststellungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die auf das Arbeitsverhältnis
anzuwendende gesetzliche Kündigungsfrist betrug nach § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB drei Monate zum Monatsende. Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer iSv. § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB sind auch die Zeiten zu berücksichtigen, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs der Klägerin liegen.
I. Die Klage ist mit dem zuletzt gestellten Antrag zu 1. zulässig. Dabe
kann offenbleiben, ob dessen Erweiterung in der Berufungsinstanz als Klageänderung iSv. § 263 ZPO oder in Anbetracht der Klagebegründung als ein Fall des § 264 Nr. 2 ZPO anzusehen ist. Die Beklagte hat sich iSv. § 267 ZPO vorbehaltlos auch auf den erweiterten Antrag eingelassen.
II. Die Klage ist begründet.
1. Der Klägerin ist es materiell-rechtlich nicht verwehrt, sich auf einen
Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis zum 31. März 2008 zu berufen.
a) Der Arbeitnehmer kann auch nach der zum 1. Januar 2004 in Kraft
getretenen Neufassung des § 4 KSchG durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3002) die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist außerhalb der fristgebundenen Klage gemäß § 4 Satz 1 KSchG geltend machen. Das gilt zumindest in solchen Fällen, in denen dem Kündigungsschreiben - ggf. im Wege der Auslegung - zu entnehmen ist, dass der Kündigende eine ordentliche Kündigung unter Wahrung der objektiv einzuhaltenden Kündigungsfrist erklären wollte. Liegt diese Voraussetzung vor und rügt der Arbeitnehmer lediglich (noch) die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist, greift er damit die Wirksamkeit der Kündigung nicht an. Sein Klageziel ist dann nicht (mehr) auf eine „Nichtauflösung“ des Arbeitsverhältnisses iSv. § 4 Satz 1
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KSchG gerichtet (Senat 6. Juli 2006 - 2 AZR 215/05 - Rn. 15, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 57; 15. Dezember 2005 - 2 AZR 148/05 - Rn. 14 ff., BAGE 116, 336; so im Grundsatz auch BAG 1. September 2010 - 5 AZR 700/09 - Rn. 20, NZA 2010, 1409).
b) Im Streitfall entsprach es dem erklärten Willen der Beklagten, die
Kündigung vom 28. November 2007 unter Wahrung der objektiv zutreffenden Kündigungsfrist auszusprechen. Das ergibt sich eindeutig aus der Formulierung, wonach die Erklärung „hilfsweise zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ wirken solle.
c) Konnte die Klägerin danach die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist
außerhalb der Frist des § 4 KSchG geltend machen, war es ihr mit Blick auf § 7 KSchG nicht verwehrt, ihr Feststellungsbegehren noch im Berufungsverfahren auf die Zeit bis zum 31. März 2008 auszudehnen. Das gilt umso mehr, als sie im Rahmen ihrer binnen Dreiwochenfrist erhobenen Klage von Anfang an die Nichteinhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende gerügt hat. Unter diesen Umständen kommt auch eine Verwirkung des Rechts, sich auf einen späteren Beendigungstermin als den 29. Februar 2008 zu berufen (vgl. dazu Senat 15. Dezember 2005 - 2 AZR 148/05 - Rn. 32, BAGE 116, 336), nicht in Betracht.
2. Die Kündigung vom 28. November 2007 hat das Arbeitsverhältnis erst
zum 31. März 2008 beendet. Zwar wäre der 31. Januar 2008, bis zu dem die Vorinstanzen den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses festgestellt haben, der sich auf der Grundlage von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB errechnende Kündigungstermin. Die Vorschrift ist aber mit Unionsrecht nicht zu vereinbaren und im Streitfall nicht anzuwenden.
a) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat erkannt, dass das Unions
recht, insbesondere das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dahin auszulegen ist, dass es
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einer Regelung wie § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB entgegensteht, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden (19. Januar 2010 - C-555/07 - [Kücükdeveci] Rn. 43, AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 14 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78 Nr. 14). Dabei obliegt es dem nationalen Gericht, bei dem ein Rechtsstreit über das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG anhängig ist, im Rahmen seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem Unionsrecht ergibt, sicherzustellen und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls jede diesem Verbot entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unange-wendet lässt (EuGH 19. Januar 2010 - C-555/07- [Kücükdeveci] Rn. 51, aaO; 22. November 2005 - C-144/04 - [Mangold] Rn. 77, Slg. 2005, I-9981).
b) Daran ist der Senat gebunden (vgl. BAG 1. September 2010 - 5 AZR
700/09 - Rn. 18, NZA 2010, 1409). Die Entscheidung des Gerichtshofs beruht auf der ihm zukommenden Auslegung des Unionsrechts (Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 267 AEUV) und hält sich im Rahmen der ihm zugewiesenen Kompetenzen. Das betrifft sowohl die Herleitung eines allgemeinen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung als auch die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Verbots durch die Richtlinie, zu deren effektiver Umsetzung die Mitgliedstaaten mit Ablauf der Umsetzungsfrist gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV iVm. Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet waren (vgl. BVerfG 6. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06 - Rn. 71, 78, EzA TzBfG § 14 Nr. 66; BAG 26. April 2006 - 7 AZR 500/04 - Rn. 19, 24, BAGE 118, 76; Krois Anm. EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78/EG Nr. 14 S. 17, 28; Preis/Temming NZA 2010, 185, 187; Pöt-ters/Traut ZESAR 2010, 267, 274). Dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB vom deutschen Gesetzgeber nicht zur Umsetzung der Richtlinie, sondern weit früher erlassen wurde, ist angesichts der durch die Richtlinie vermittelten Geltung des unionsrechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung unbeachtlich.
c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts (BVerfG 6. Juli 2010
- 2 BvR 2661/06 - Rn. 53, EzA TzBfG § 14 Nr. 66; 18. November 2008 - 1 BvL
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4/08 - Rn. 12, EzA BGB 2002 § 622 Nr. 6) führt dazu, dass sich die Kündigungsfrist allein nach § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB berechnet. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist unanwendbar.
aa) Der Streitfall liegt im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die in
Rede stehende Kündigung ging der Klägerin am 1. Dezember 2007 zu. Zu diesem Zeitpunkt war die für die Bundesrepublik Deutschland ua. hinsichtlich des Diskriminierungsmerkmals „Alter“ bis zum 2. Dezember 2006 verlängerte Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG abgelaufen.
bb) § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist einer unionsrechtskonformen Auslegung,
die grundsätzlich den nationalen Gerichten vorbehalten ist (EuGH 19. Januar 2010 - C-555/07 - [Kücükdeveci] Rn. 48 mwN, AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 14 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78 Nr. 14), nicht zugänglich (so schon LAG Düsseldorf in seinem Vorlagebeschluss vom 21. November 2007 - 12 Sa 1311/07 - LAGE BGB 2002 § 622 Nr. 3). Der Wortlaut der Vorschrift ist, was die ausnahmslos angeordnete Nichtberücksichtigung vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegender Beschäftigungszeiten anbelangt, eindeutig. Eine dem entgegenstehende Auslegung wäre nicht zulässig (vgl. BVerfG 24. Mai 1995 - 2 BvF 1/92 - zu D I der Gründe, BVerfGE 93, 37; BAG 18. Februar 2003 - 1 ABR 2/02 - zu B IV 3 b dd (1) der Gründe, BAGE 105, 32).
cc) Die Nichtanwendung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB beseitigt die mit der
Regelung verbundene Altersdiskriminierung. Die Kündigungsfristenregelung des § 622 Abs. 2 BGB ist nicht insgesamt unanwendbar. Es entfällt lediglich die in § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB enthaltene Einschränkung ihres Anwendungsbereichs, die Arbeitnehmer benachteiligt, die vor Vollendung des 25. Lebensjahrs in den Betrieb eingetreten sind. Dies führt mittelbar zu einer „Anpassung nach oben“, nämlich zur ausschließlichen Anwendung von § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB (vgl. Bauer/v.Medem ZIP 2010, 449, 453; Krois Anm. EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78/EG Nr. 14 S. 17, 40; Preis/Temming NZA 2010, 185, 188; Thüsing ZIP 2010, 199, 201 f.). Eine Aussetzung des Rechtsstreits wegen der Nichtanwendbarkeit von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB bis zu einer etwaigen Neure-
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gelung durch den Gesetzgeber kommt nicht in Betracht. Die gegenteilige Auffassung (Wackerbarth/Kreße EuZW 2010, 252) überzeugt schon deshalb nicht, weil sie mit der Bindung der Mitgliedstaaten an das Unionsrecht und der Verpflichtung zu dessen effektiver Umsetzung in Widerspruch stünde. Im Übrigen bestehen angesichts der Gesetzessystematik keine Zweifel an einem mit § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB verbundenen eigenständigen gesetzgeberischen „Anwendungsbefehl“.
dd) Dieses Ergebnis widerspricht nicht Art. 20 Abs. 3 GG. Der Anwen-
dungsvorrang des Unionsrechts ist verfassungsrechtlich durch Art. 23 Abs. 1 GG legitimiert und Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrags (BVerfG 30. Juni 2009 - 2 BvE 2/08 ua. - Rn. 331 ff., BVerfGE 123, 267; 18. November 2008 - 1 BvL 4/08 - EzA BGB 2002 § 622 Nr. 6).
ee) Der Nichtanwendung von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB steht kein der
Beklagten zu gewährender Vertrauensschutz entgegen.
(1) Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union, die in Vorabentschei-
dungsverfahren ergehen, wirken im Grundsatz auch für die Vergangenheit unbegrenzt. Die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts durch den Gerichtshof beschränkt sich darauf zu erläutern und zu verdeutlichen, wie die Regelung seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist. Daraus folgt, dass die innerstaatlichen Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor der fraglichen Entscheidung entstanden sind, anwenden müssen (vgl. EuGH 15. März 2005 - C-209/03 - [Bidar] Rn. 66, Slg. 2005, I-2119). Der Gerichtshof kann die Möglichkeit, sich auf die Auslegung zu berufen, die er einer unionsrechtlichen Bestimmung gegeben hat, nur ausnahmsweise mit Wirkung für alle Betroffenen zeitlich beschränken (EuGH 12. Februar 2009 - C-138/07 - [Cobelfret] Rn. 68, Slg. 2009, I-731; 15. März 2005 - C-209/03 - [Bidar] Rn. 67, aaO; BAG 23. März 2010 - 9 AZR 128/09 - Rn. 74, AP SGB IX § 125 Nr. 3 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 16).
- 9 -
(2) Für die Entscheidung über die zeitliche Begrenzung der Unanwendbar-
keit einer gegen Primärrecht verstoßenden Norm ist mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die nötige einheitliche Anwendung in den Mitgliedstaaten allein der Gerichtshof zuständig. Äußert er sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zu der Frage der Rückwirkung oder zeitlichen Begrenzung seiner Antwort nicht, schließt er damit unionsrechtlichen Vertrauensschutz regelmäßig aus (BAG 23. März 2010 - 9 AZR 128/09 - Rn. 77 mwN, AP SGB IX § 125 Nr. 3 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 16).
(3) Der Gerichtshof hat den Tenor seiner Entscheidung vom 19. Januar
2010 (- C-555/07 - [Kücükdeveci] AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 14 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78 Nr. 14) zeitlich nicht begrenzt und damit keinen Vertrauensschutz gewährt (BAG 1. September 2010 - 5 AZR 700/09 - Rn. 19, NZA 2010, 1409). Dafür spricht zudem, dass das Landesarbeitsgericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausdrücklich danach gefragt hat, ob § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB bei anzunehmendem Verstoß gegen Unionsrecht unangewendet zu lassen ist oder ob dem Vertrauen der Normunterworfenen in die Anwendung innerstaatlicher Gesetze durch eine zeitliche Begrenzung dieser Folge Rechnung getragen werden kann (LAG Düsseldorf 17. Februar 2010 - 12 Sa 1311/07 - LAGE BGB 2002 § 622 Nr. 5). Da der Gerichtshof die Frage klar in ihrer ersten Alternative bejahte, hat er zugleich gegen den nachgesuchten Vertrauensschutz erkannt.
(4) Ein sekundärer Vertrauensschutz durch Ersatz eines Vertrauensscha-
dens (dazu und zu möglichen Voraussetzungen BVerfG 6. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06 - Rn. 84 f., EzA TzBfG § 14 Nr. 66) ist nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits. Die Beklagte hat nicht geltend gemacht, im Vertrauen auf die Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB Dispositionen getroffen zu haben, die sie im Wissen um ihre Unanwendbarkeit überhaupt nicht oder in anderer Form getätigt hätte.
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d) Hat danach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB wegen des Anwendungsvorrangs
des Unionsrechts unangewendet zu bleiben, kommt es auf die vom Landesarbeitsgericht aufgeworfene Frage der Vereinbarkeit der Regelung mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr an.
e) Bei Anwendung von § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB und ausgehend von einer
neunjährigen Beschäftigungsdauer der Klägerin beträgt die Kündigungsfrist drei Monate zum Monatsende, § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB. Dass die ersten drei Beschäftigungsjahre in einem Ausbildungsverhältnis zurückgelegt wurden, steht dem nicht entgegen.
aa) Der Senat hat bereits entschieden, dass Zeiten der Berufsausbildung
im Rahmen von § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB zu berücksichtigen sind, soweit die Ausbildung nach Vollendung des 25. Lebensjahrs des Auszubildenden erfolgte (BAG 2. Dezember 1999 - 2 AZR 139/99 - AP BGB § 622 Nr. 57 = EzA BGB § 622 nF Nr. 60). Die verlängerten Kündigungsfristen honorieren letztlich die Betriebs- bzw. Unternehmenstreue und sollen der damit typischerweise einhergehenden Verminderung der Flexibilität des Arbeitnehmers Rechnung tragen. Insoweit macht es keinen Unterschied, ob die Zeit im Betrieb bzw. Unternehmen in einem reinen Arbeitsverhältnis oder - sei es auch nur teilweise - in einem Ausbildungsverhältnis verbracht wurde.
bb) Diese Überlegungen treffen gleichermaßen auf Zeiten zu, die ein
Arbeitnehmer vor Vollendung seines 25. Lebensjahrs in einem Ausbildungsverhältnis zurückgelegt hat.
III. Die Parteien haben die Kosten des Rechtsstreits im Umfang ihres
jeweiligen Obsiegens und Unterliegens in den Instanzen zu tragen (§ 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO).
Dementsprechend hat die Beklagte die Kosten der Berufung und die
der Revision zu tragen. Was die erste Instanz anbelangt, trifft die Klägerin mangels Kostenprivilegierung der Teilrücknahme der Klage (vgl. GMP/Germelmann ArbGG 7. Aufl. § 12 Rn. 18) eine Kostenlast insoweit, als sie
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anhängig gemachte Anträge nicht mehr weiterverfolgt hat. Das gilt auch für die Beschränkung ihres ursprünglich unbegrenzten Kündigungsschutzantrags auf die Einhaltung der Kündigungsfrist. Danach entfallen auf die Klägerin, ausgehend von einem erstinstanzlichen Gerichtsgebührenwert von 9.285,00 Euro, 3/5 und auf die Beklagte 2/5 der Kosten erster Instanz.
Kreft Schmitz-Scholemann Berger
Krichel Pitsch
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