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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 09|2022

Update Arbeitsrecht 09|2022 vom 04.05.2022

Entscheidungsbesprechungen

LAG Hamm: Erfolgreicher Auflösungsantrag nach Drohung mit Bloßstellung eines Vorgesetzten

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 23.02.2022, 10 Sa 492/21

Bei der Festsetzung einer gerichtlich zugesprochenen Abfindung sind u.a. die Vollzugslöhne zu berücksichtigen, die der Arbeitgeber bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis zu zahlen hätte.

§§ 1, 1a, 4, 7, 9, 10, 23 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); § 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Rechtlicher Hintergrund

Arbeitnehmer mit einer Beschäftigung von mehr als sechs Monaten genießen gegenüber ordentlichen Kündigungen durch den Arbeitgeber Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG), falls in dem Betrieb des Arbeitgebers mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt sind (§§ 1 Abs.1, 23 Abs.1 KSchG).

Wer sich auf den Kündigungsschutz berufen will, muss innerhalb von drei Wochen nach Erhalt einer (schriftlichen) Kündigung Kündigungsschutzklage einreichen (§ 4 Satz 1 KSchG). Andernfalls, d.h. bei Versäumung der Frist, gilt die Kündigung als von Anfang an wirksam (§ 7 KSchG). Dies gilt nicht nur bei ordentlichen Kündigungen des Arbeitgebers, sondern auch bei außerordentlichen fristlosen Kündigungen, die auf § 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gestützt werden.

Viele Kündigungsschutzklagen werden durch eine gütliche Einigung bzw. durch einen Vergleich erledigt, dem zufolge das Arbeitsverhältnis zu einem bestimmten Zeitpunkt endet und der Arbeitgeber bestimmte Zugeständnisse macht, z.B. eine Abfindungszahlung verspricht. Die Erledigung von Kündigungsschutzklagen durch einen Abfindungsvergleich ist rechtlich gesehen aber die Ausnahme. Das KSchG ist kein Abfindungsgesetz, sondern dient dem Erhalt des Arbeitsplatzes, und zwar durch arbeitsgerichtliches Urteil.

Daher können die Arbeitsgerichte nur in Ausnahmefällen entscheiden, dass das Arbeitsverhältnis aufgelöst wird und der Arbeitgeber eine Abfindung zahlen muss. Rechtsgrundlage dafür ist § 9 Abs.1 Satz 2 KSchG. Danach löst das Gericht auf Antrag des Arbeitgebers das Arbeitsverhältnis auf, wenn die streitige Kündigung zwar unwirksam ist, dem Arbeitgeber aber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten ist, weil Gründe vorliegen, die „eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen“.

In einem aktuellen Fall hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht und den Arbeitgeber zur Zahlung einer - ziemlich hohen - Abfindung verurteilt: LAG Hamm, Urteil vom 23.02.2022, 10 Sa 492/21.

Sachverhalt

Ein seit 2014 in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern angestellter technischer Leiter mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von knapp 12.000,00 EUR wurde im Mai 2020 zu dem Vorwurf angehört, er habe drei Mitarbeiterinnen sexuell belästigt.

Im Wesentlichen hatten die Mitarbeiterinnen angegeben, der Angestellte hätte sich bei Besprechungen oft zu nahe neben sie gestellt oder gesetzt, er habe sie bedrängend angestarrt und sie am Arm, an der Schulter oder am Oberschenkel berührt.

Nach Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) sprach der Arbeitgeber im Juni 2020 eine außerordentliche fristlose Kündigung aus, die er auf die - aus seiner Sicht bewiesene - sexuelle Belästigung stützte (Tat Kündigung), und außerdem auf den dringenden Tatverdacht (Verdachtskündigung). Zudem kündigte er hilfsweise ordentlich mit derselben Begründung sowie unter Beachtung der vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende.

Im Kündigungsschutzverfahren legte der Angestellte E-Mails und Auszüge aus einer privaten WhatsApp-Korrespondenz zwischen ihm und den drei Mitarbeiterinnen vor, aus denen sich nach seiner Einschätzung ein lockeres und unbeschwertes persönliches Verhältnis ergab.

Das Arbeitsgericht Bocholt gab dem Angestellten Recht und verurteilte den Arbeitgeber zur vorläufigen Weiterbeschäftigung. Aus Sicht des Arbeitsgerichts hatte der Arbeitgeber die behaupteten Pflichtverstöße nicht so konkret dargelegt, dass man darüber hätte Beweis erheben können. Außerdem vermisste das Arbeitsgericht eine einschlägige Abmahnung (Arbeitsgericht Bocholt, Urteil vom 19.02. / 23.04.2021, 2 Ca 900/20). Der Arbeitgeber legte daraufhin Berufung ein.

Entscheidung des LAG Hamm

Das LAG Hamm bewertete die Kündigungen ebenso wie das Arbeitsgericht als unverhältnismäßig und damit als unwirksam. Trotzdem wies es den Weiterbeschäftigungsantrag ab und löste auf Antrag des Arbeitgebers das Arbeitsverhältnis zum 30.09.2020 auf, und zwar gegen Zahlung einer Abfindung von 80.000,00 EUR brutto.

Dabei stellt das LAG im Anschluss an das Bundesarbeitsgericht (BAG) klar, dass es für das Vorliegen einer sexuellen Belästigung nicht darauf ankommt, dass bzw. ob die belästigte Person ihre ablehnende Haltung zum Ausdruck bringt (Urteil, Rn.69). Trotzdem ist auch eine sexuelle Belästigung, so das LAG, „kein absoluter Kündigungsgrund“ (Urteil, Rn.62).

Hier sprachen die vom Kläger vorgelegten E-Mails für ein gutes kollegiales Miteinander. Die WhatsApp-Chats enthielten zwar eine auf den sexuellen Bereich anspielende Kommunikation, ließen aber nicht erkennen, dass den daran beteiligten drei Mitarbeiterinnen dieser Inhalt unangenehm gewesen wäre (Urteil, Rn.69). Daher waren die Kündigungen im Streitfall unverhältnismäßig.

Allerdings war der Kläger im Berufungsverfahren zu weit gegangen und hatte damit gedroht, ein Verhältnis des Geschäftsführers des Arbeitgebers mit einer der drei Mitarbeiterinnen offenzulegen, die den Kläger belastet hatte. Konkret drohte der Kläger damit, einen Detektivbericht bekannt zu machen, den der Kläger in Auftrag gegeben hatte. Dies bewertete das LAG als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der beiden betroffenen Personen, der nicht mit der Wahrnehmung berechtigter Interessen im Prozess gerechtfertigt werden konnte (Urteil, Rn.84).

Bei der Festsetzung der Höhe der Abfindung legte das LAG die durchschnittliche monatliche Vergütung von knapp 12.000,00 EUR brutto zugrunde, d.h. es berücksichtigte jährliche Einmalzahlungen. Eine Abfindung von (nur) einem halben Gehalt pro Beschäftigungsjahr war hier nicht sachgerecht, so das LAG (Urteil, Rn.88).

Denn die Chancen des Arbeitnehmers, eine adäquate Folgebeschäftigung zu finden, waren gering. Außerdem war er verheiratet und hatte für ein Kind zu sorgen. Schließlich hatte der Arbeitgeber zwar zum 30.9.2021 eine weitere Folgekündigung ausgesprochen, doch hatte diese nur geringe Erfolgschancen, so dass die Verzugslohnkosten des Arbeitgebers bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erheblich wären.

Praxishinweis

Dem LAG ist zuzustimmen. Auch sexuelle Belästigungen stellen keinen absoluten Kündigungsgrund dar. Daher ist auch in solchen Fällen zu prüfen, ob eine vorherige Abmahnung als Reaktion des Arbeitgebers ausreichen würde, um die eingetretene Störung des Arbeitsverhältnisses künftig zu beseitigen (Prognoseprinzip).

Bemerkenswert an der Bemessung der Abfindungshöhe ist, dass das LAG hier u.a. die Höhe der auf den Arbeitgeber zukommenden Verzugslohnansprüche berücksichtigt hat. Im Übrigen ist die Abfindung von 80.000,00 EUR nur auf den ersten Blick sehr hoch. Denn bei einem jahresdurchschnittlichen Gehalt von knapp 12.000,00 EUR brutto und bei einer Beschäftigungsdauer von etwa sieben Jahren entspricht die Abfindung in etwa einem (durchschnittlichen) Monatsgehalt pro Beschäftigungsjahr.

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 23.02.2022, 10 Sa 492/21


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