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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 22|2022

Update Arbeitsrecht 22|2022 vom 02.11.2022

Leitsatzreport

LAG Hamm: Gruppenbildung bei der Sozialauswahl anhand von Qualifikationsmerkmalen?

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 14.07.2022, 18 Sa 1548/22

§ 1 Abs.3, Abs.5 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)

Leitsätze des Gerichts:

1. § 1 Abs.3 S. 2 KSchG erkennt nur die Erhaltung einer ausgewogenen Personalstruktur als berechtigtes betriebliches Interesse an, nicht aber deren Herstellung, d. h. die Veränderung der bisherigen Personalstruktur.

2. Der Arbeitgeber kann zur Erhaltung einer bestimmten Personalstruktur des in Betracht kommenden Personenkreises abstrakte Gruppen mit unterschiedlichen Strukturmerkmalen bilden und aus jeder Gruppe eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern festlegen, die nicht in die Auswahl einbezogen werden sollen. Auch eine Gruppenbildung nach Ausbildung und Qualifikation ist zulässig, da zur Personalstruktur auch die Leistungsstärke der Belegschaft gehört. Erhaltung der Leistungsstärke der Belegschaft bedeutet, dass das Verhältnis der leistungsstärkeren zu den leistungsschwächeren Arbeitnehmern in etwa gleich bleibt. Der Arbeitgeber kann daher z. B. für die Mitarbeiter, die für eine Sozialauswahl in Betracht kommen, eine Leistungsbeurteilung anfertigen lassen, dann Gruppen bilden und aus diesen Gruppen anteilig gleich viele Arbeitnehmer entlassen.

3. Der Arbeitgeber missachtet diese Grundsätze im Kern, wenn er zwar eine Gruppenbildung vornimmt, jedoch davon absieht, aus den gebildeten Qualifizierungsgruppen anteilig gleich viele Arbeitnehmer zu entlassen und die vielmehr die Sozialauswahl auf die Qualifizierungsgruppe beschränkt, in der sich die Arbeitnehmer befinden, die bei der Bewertung ihrer Qualifikation nach Maßgabe der „Qualifizierungs-Matrix“ die geringste Punktzahl erreichen und mithin die geringste Qualifikation aufweisen. Dadurch, dass ausschließlich Arbeitnehmer jener Qualifizierungsgruppe entlassen werden, wird im Ergebnis nicht die Personalstruktur erhalten, sondern verbessert. Denn der Arbeitgeber entledigt sich ausschließlich derjenigen Arbeitnehmer, die, den Bewertungsmaßstab der „Qualifizierungs-Matrix“ zugrunde gelegt, am wenigsten qualifiziert sind. Das hat notwendigerweise eine Erhöhung der durchschnittlichen Qualifikation zur Folge. An einer solchen Maßnahme bestehe jedoch kein anzuerkennendes betriebliches Interesse. Der Grundgedanke der Sozialauswahl wird geradezu in sein Gegenteil verkehrt, weil für das Ergebnis der Auswahl letztlich nicht mehr soziale Kriterien, sondern ausschließlich die Qualifikation der Arbeitnehmer von Belang ist.

4. Das Vorgehen des Arbeitgebers kann dazu führen, dass die Sozialauswahl als grob fehlerhaft anzusehen ist (im Streitfall bejaht).

Hintergrund:

Ein seit 1990 in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmern beschäftigter Logistikmitarbeiter wurde im März 2021 im Rahmen einer Kündigungswelle ordentlich betriebsbedingt gekündigt. Zuvor hatten Arbeitgeber und Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste im Sinne von § 1 Abs.5 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) vereinbart, in der der Logistikmitarbeiter als zu kündigender Arbeitnehmer genannt wurde. Die Sozialauswahl unter den Logistikern nahm der Arbeitgeber in der Weise vor, dass er mit einer „Qualifizierungs-Matrix“ vier Vergleichsgruppen von Arbeitnehmern bildete und die Sozialauswahl nur innerhalb der jeweiligen Gruppen vornehmen wollte. Je nach der Höhe ihrer Qualifikation wurden die Arbeitnehmer einer der vier Gruppen zugeordnet, wobei die Gruppe 1 die am besten und die Gruppe 4 die am wenigsten gut qualifizierten Arbeitnehmer beinhaltete. Von den in den Gruppen 1, 2 und 3 befindlichen Arbeitnehmern wurde niemand gekündigt, d.h. von Kündigungen betroffen waren allein die Arbeitnehmer der Gruppe 4, zu der auch der Logistikmitarbeiter gehörte. Innerhalb dieser Gruppe hatte er die vierthöchste Punktzahl und wurde zusammen mit fünf weiteren Arbeitnehmern dieser Gruppe gekündigt. Seine Kündigungsschutzklage hatte vor dem Arbeitsgerichts Iserlohn (Urteil vom 18.11.2021, 5 Ca 546/21) und vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm Erfolg (LAG Hamm, Urteil vom 14.07.2022, 18 Sa 1548/22). Der Arbeitgeber hatte sich vergeblich auf § 1 Abs.3 Satz 2 KSchG berufen, wonach in die Sozialauswahl Arbeitnehmer nicht einzubeziehen sind, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Dieser Ausnahmetatbestand lag hier nicht vor.

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 14.07.2022, 18 Sa 1548/22

 

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