Update Arbeitsrecht 15|2022 vom 27.07.2022
Entscheidungsbesprechungen
EuGH: Die EU-Arbeitszeitrichtlinie enthält keine Vorgaben für tarifliche Nachtzuschläge
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 07.07.2022, C-257/21 und C-258/21 (Coca-Cola)
EuGH Urteil vom 07.07.2022, C-257/21 und C-258/21 - Coca-Cola: Die EU-Arbeitszeitrichtlinie enthält keine Vorgaben für tarifliche Nachtzuschläge
Eine tarifliche Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Lohnzuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, ist keine Durchführung der Arbeitszeitrichtlinie im Sinne von Art.51 Abs.1 der Grundrechtecharta.
Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, vom 04.11.2003, über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung; Art.20, 51 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC); Art.267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); Art.2 Abs.2 Satz 1; Art.3 Abs.1; 9 Abs.3 Grundgesetz (GG); § 6 Abs.5 Arbeitszeitgesetz (ArbZG); §§ 3 Abs.1, 4 Abs.1 Tarifvertragsgesetz (TVG); Manteltarifvertrag der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost, vom 24.03.1998 (MTV)
Rechtlicher Hintergrund
Viele Tarifverträge sehen unterschiedlich hohe Lohnzuschläge für Nachtarbeit vor, je nachdem, ob die Nachtarbeit regelmäßig und/oder im Rahmen eines Schichtsystems ausgeübt wird oder ob sie unregelmäßig bzw. außerhalb eines Schichtsystems verrichtet wird.
Dabei sind die tariflichen Nachtarbeitszuschläge für die unregelmäßige bzw. außerhalb eines Schichtsystems verrichtete Nachtarbeit (deutlich) höher als die Zuschläge, die es für regelmäßige Nachtarbeit gibt. Dahinter steht die Vorstellung, dass Nachtarbeit, die nur hin und wieder verrichtet wird, die betroffenen Arbeitnehmer vor größere Probleme stellt als Nachtarbeit, die man regelmäßig ausübt. Wer regelmäßig nachts arbeitet, kann sein Privatleben besser darauf einstellen als Arbeitnehmer, die nur hin und wieder nachts arbeiten.
Diese lange allgemein akzeptierte Begründung für geringere Zuschläge bei regelmäßiger Nachtarbeit hat das Bundesarbeitsgerichts (BAG) im März 2018 gekippt (BAG, Urteil vom 21.03.2018, 10 AZR 34/17). In diesem Urteil ging es um einen Unterschied von 35 Prozent zwischen Nachtschichtarbeitern, die einen tariflichen Lohnzuschlag von nur 15 Prozent bekamen, und hin und wieder nachts arbeitenden Beschäftigten, deren Zuschlag 50 Prozent betrug. Ein so großer Unterschied verstößt, so das BAG, gegen Art.3 Abs.1 Grundgesetz (GG), d.h. den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz.
Hier half dem beklagten Arbeitgeber auch der Hinweis auf die in Art.9 Abs.3 GG geschützte Tarifautonomie nichts, die es Gewerkschaften und Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden erlaubt, ähnlich wie der Gesetzgeber darüber zu entscheiden, welche Arbeitnehmer(gruppen) für welche Arbeiten welche finanziellen Leistungen erhalten sollen.
Denn die Tarifautonomie endet bei einer Verletzung des Gleichheitssatzes, d.h. wenn eine Arbeitnehmergruppe anders als andere behandelt wird, obwohl zwischen den Gruppen „keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können“ (BAG, Urteil vom 21.03.2018, 10 AZR 34/17, Rn.44). Angesichts der Gesundheitsgefahren, die mit jeder Nachtarbeit verbunden sind, ist es laut BAG sachlich nicht gerechtfertigt, für regelmäßige Nachtarbeit (erheblich) geringere Zuschläge vorzusehen als für unregelmäßige Nachtarbeit.
Mit seinem Urteil vom März 2018 hat das BAG eine Klagewelle ausgelöst. Viele Arbeitnehmer wollten sich mit den geringeren Zuschlägen für regelmäßige Nachtarbeit nicht mehr zufriedengeben und klagten auf Zahlung erhöhter Zuschläge. Damit hatten sie vor den Arbeitsgerichten und den Landesarbeitsgerichten (LAG) aber oft keinen Erfolg, da diese Gerichte dem BAG widersprachen. Auch viele Arbeitsrechtler lehnen das BAG-Urteil vom März 2018 ab.
Vor diesem Hintergrund hat das BAG Ende 2020 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorgelegt, ob mit Tarifvorschriften über Nachtzuschläge zugleich die EU-Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) umgesetzt wird. Falls ja, wollte das BAG auch wissen, ob unterschiedlich hohe Zuschläge für regelmäßige Nachtarbeit im Schichtsystem und für gelegentliche Nachtarbeit mit dem Gleichheitssatz der Europäischen Grundrechtecharta (GRC), d.h. mit Art.20 GRC vereinbar sind oder nicht (BAG, Beschluss vom 09.12.2020, 10 AZR 332/20 (A)).
Vor kurzem hat der EuGH die Vorlage des BAG beantwortet.
Sachverhalt
Im Streitfall ging es um den Manteltarifvertrag der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost, vom 24.03.1998 (MTV), den die Coca-Cola European Partners Deutschland GmbH bei der Bezahlung von Nachtarbeit anwandte. § 7 Nr.1 MTV sieht vor, dass es für regelmäßige Nachtarbeit einen Zuschlag von 20 Prozent gibt und für unregelmäßige Nachtarbeit einen Zuschlag von 50 Prozent.
Eine bei Coca-Cola beschäftigte Arbeitnehmerin leistete von Dezember 2018 bis Juni 2019 regelmäßige Nachtarbeit und erhielt dafür die tariflich vorgesehenen Zuschläge von 20 Prozent. Sie klagte auf Zahlung weiterer Zuschläge in Höhe von 50 Prozent.
Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage ab (Urteil vom 16.10.2019, 39 Ca 9996/19), während das LAG Berlin-Brandenburg der Klage teilweise stattgab, d.h. soweit die Zahlungsansprüche nicht infolge einer tariflichen Ausschlussfristenregelung verfallen waren (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.06.2020, 8 Sa 2030/19). Das BAG wiederum legte den Fall wie erwähnt dem EuGH vor.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH beantwortete bereits die erste Frage des BAG mit nein, so dass sich die zweite Frage gar nicht mehr stellte.
Mit einer Tarifvorschrift, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Vergütungszuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, wird die Arbeitszeitrichtlinie nicht „durchgeführt“ im Sinne von Art.51 Abs.1 der Grundrechtecharta (GRC), so der EuGH. Die GRC gilt gemäß Art.51 Abs.1 Satz 1 GRC für die Mitgliedstaaten aber nur bei der Durchführung des Unionsrechts. Daher war der Gleichheitssatz der Grundrechtecharta (Art.20 GRC) auf die im Streitfall fragliche Tarifregelung (§ 7 Nr.1 MTV) nicht anzuwenden.
Das Unionsrecht wird nämlich nur im Sinne von Art.51 Abs.1 GRC „durchgeführt“, wenn es in einem bestimmten Sachbereich spezifische Verpflichtungen der Mitgliedstaaten begründet. Unionsrechtlichen Pflichten für die Bezahlung von Nachtarbeitern gibt es aber nicht, so der EuGH.
Aus der Arbeitszeitrichtlinie folgen keine vergütungsrechtlichen Vorgaben. Sie regelt nur Dauer und Rhythmus der Nachtarbeit (Art.8 und Art.13), den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Nachtarbeiter (Art.9, Art.10 und Art.12) sowie die Unterrichtung der Behörden (Art.11), enthält aber keine Vorgaben für die Bezahlung von Nachtarbeit.
Im sechsten Erwägungsgrund der Arbeitszeitrichtlinie heißt es zwar, dass den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) „Rechnung zu tragen“ ist, und dass dies auch die für Nachtarbeit geltenden Grundsätze betrifft. Doch ist das IAO-Übereinkommen über Nachtarbeit von der EU bislang nicht ratifiziert und daher im Unionsrecht nicht verbindlich, so der EuGH.
Praxishinweis
In einer Pressemeldung vom 12.07.2022 kündigte das BAG an, angesichts der nunmehr vorliegenden EuGH-Entscheidung eine Vielzahl von anhängigen Verfahren ab dem ersten Quartal 2023 zu entscheiden. In diesen Verfahren geht es um etwa 30 verschiedene Tarifverträge mit ähnlichen Fragestellungen zu tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlägen.
Mit diesen Entscheidungen wird das BAG wahrscheinlich sein o.g. Urteil vom März 2018 aufgeben oder erheblich einschränken. Denn wenn das BAG in dem Streitfall der Meinung gewesen wäre, dass die streitige Tarifregelung zulasten der Nachtschichtarbeiter gegen Art.3 Abs.1 GG verstößt, hätte es die Revision von Coca Cola zurückweisen können, ohne den Fall überhaupt dem EuGH vorzulegen.
So gesehen steckt bereits in dem Vorlagebeschluss vom Dezember 2020 eine Abkehr des BAG von seinem Urteil vom März 2018. Um diese Korrektur seiner Rechtsprechung wäre das BAG herumgekommen, wenn der EuGH jetzt anders entschieden hätte, d.h. zugunsten der Nachtschichtarbeiter.
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 07.07.2022, C-257/21 und C-258/21 (Coca-Cola)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 09.12.2020, 10 AZR 332/20 (A)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 09.12.2020, 10 AZR 333/20 (A)
Handbuch Arbeitsrecht: Gleichbehandlungsgrundsatz
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