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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 07|2022

Update Arbeitsrecht 07|2022 vom 06.04.2022

Entscheidungsbesprechungen

Hessisches LAG: Grundlagenschulung für Ersatzmitglieder des Betriebsrats

Hessisches Landesarbeitsgericht, Beschluss vom 17.01.2022, 16 TaBV 99/21

Ein Ersatzmitglied des Betriebsrats kann zu einer Grundschulung entsandt werden, wenn das einzige mit dem Betriebsverfassungsrecht vertraute Mitglied monatelang ausfallen wird.

§§ 37 Abs.6 Satz 1; 40 Abs.1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)

Rechtlicher Hintergrund

Gemäß § 37 Abs.2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) sind die Mitglieder des Betriebsrats von ihrer Arbeitspflicht bezahlt freizustellen, „wenn und soweit“ dies nach den betrieblichen Gegebenheiten zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist. Dies gilt gemäß § 37 Abs.6 Satz 1 BetrVG auch für die Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen, soweit diese Kenntnisse vermitteln, die für die Arbeit des Betriebsrats erforderlich sind.

Liegen diese beiden Voraussetzungen vor, d.h. Wissenslücken eines bestimmten Betriebsratsmitglieds und die Erforderlichkeit des Wissens für die Betriebsratsarbeit, kann der Betriebsrat (als Gremium) durch Beschluss entscheiden, dass das Betriebsratsmitglied zu einer Fortbildungsveranstaltung entsandt wird.

Wenn sich die Entscheidung des Betriebsrats in den Grenzen seines Ermessens hält, muss der Arbeitgeber die Kosten für die Fortbildung übernehmen, d.h. Seminarkosten, Reisekosten und Übernachtungskosten. Und er muss den Betriebsratsmitgliedern ihren Lohn bzw. ihr Gehalt während der Dauer der Fortbildung zahlen, d.h. er ist zur bezahlten Freistellung verpflichtet.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) kann der Betriebsrat nicht nur seine regulären Mitglieder, sondern auch Ersatzmitglieder zu einer betriebsverfassungsrechtlichen Grundlagenschulung entsenden. Das ist allerdings nur im Ausnahmefall bzw. unter besonderen Umständen erforderlich (BAG, Beschluss vom 19.09.2001, 7 ABR 32/00, Rn.20). Hier sind flexible Lösungen vorrangig gegenüber dem Besuch einer Fortbildungsveranstaltung.

Eine Grundlagenschulung für Ersatzmitglieder muss daher sorgfältig begründet werden und führt immer wieder zum Streit über die Kostenpflicht des Arbeitgebers. In einem aktuellen Fall kam das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG) zu dem Ergebnis, dass die Grundlagenschulung eines Nachrückers erforderlich war: Beschluss vom 17.01.2022, 16 TaBV 99/21.

Sachverhalt

Ein dreiköpfiger Betriebsrat stritt sich mit dem Arbeitgeber vor Gericht über die Frage, ob die im Juni 2020 vom Betriebsrat beschlossene Entsendung des an erster Stelle stehenden Ersatzmitglieds zu einer einwöchigen Grundlagenschulung im Betriebsverfassungsrecht in Ordnung war, so dass der Arbeitgeber die - mittlerweile angefallenen - Kosten tragen musste. Der Arbeitgeber die Kosten nicht übernehmen, da er meinte, die Schulung sei nicht nötig gewesen.

Hintergrund des Streits war eine längere Erkrankung des Betriebsratsvorsitzenden, die von Ende April 2020 bis Ende August 2020 dauerte und durch eine Schulteroperation bedingt war.

Auf seiner Sitzung im Juni 2020, auf der der Betriebsrat den Nachrücker zu der streitigen Grundlagenschulung schickte, beschloss der Betriebsrat auch, dass der Vorsitz auf ein anderes Betriebsratsmitglied übergehen sollte. Denn für die Zeit nach dem voraussichtlichen Ende seiner Arbeitsunfähigkeit hatte der erkrankte (Ex-)Vorsitzende einen längeren Urlaub geplant. Außerdem rechnete der Betriebsrat aufgrund einer ähnlichen Erkrankung seines (Ex-)Vorsitzenden in der Vergangenheit damit, dass seine vollständige Genesung längere Zeit beanspruchen würde.

Die beiden regulären Betriebsratsmitglieder, von denen jetzt einer den Vorsitz hatte, waren erstmals gewählt worden und besaßen keine Erfahrungen in der Betriebsratsarbeit. Der Nachrücker hatte auch keine Erfahrungen in der Betriebsratsarbeit und auch keine Kenntnisse im Betriebsverfassungsrecht.

Das Arbeitsgericht Darmstadt wies den Antrag des Betriebsrats und des Nachrückers auf Freistellung von den Seminarkosten ab, da es meinte, der Betriebsrat hätte zur Erforderlichkeit einer Grundlagenschulung des Nachrückers im konkreten Streitfall zu wenig vorgetragen (Beschluss vom 06.05.2021, 8 BV 16/20).

Entscheidung des Hessischen LAG

Das hessische LAG entschied andersherum und verpflichtete den Arbeitgeber zur Kostenerstattung. Die Rechtsbeschwerde zum BAG ließ das LAG nicht zu. Zur Begründung heißt es:

Im Zeitpunkt der Entscheidung des Betriebsrats (Juni 2020) musste dieser davon ausgehen, dass der Nachrücker in Zukunft wegen der Langzeiterkrankung des bisherigen Vorsitzenden sehr oft als Vertretung tätig werden würde. Denn der bisherige Vorsitzende war seit Ende April 2020 wegen einer Schulteroperation durchgängig arbeitsunfähig krank. Das führte zwar nicht zu einer dauernden Amtsunfähigkeit, denn er versuchte, trotz seiner Arbeitsunfähigkeit weiter als Betriebsrat tätig zu sein. Allerdings klappte das nicht, da er nur zeitlich begrenzt an Sitzungen teilnehmen konnte.

Außerdem wurden Termine der Krankengymnastik und der anschließenden zwölfwöchigen ambulanten Reha u.a. wegen der Corona-Pandemie oft verlegt, was die Planung der Betriebsratstätigkeit erschwerte. Wenn sich der bisherige Vorsitzende daher entschloss, den Betriebsratsvorsitz an seinen Stellvertreter abzugeben und künftig nur noch stellvertretender Betriebsratsvorsitzender zu sein, so belegte dies, so das LAG, seine nur noch eingeschränkte Amtsfähigkeit.

Daher musste der Betriebsrat im Juni 2020 davon ausgehen, dass mit einem längerfristigen Ausfall des bisherigen Vorsitzenden zu rechnen war, und daher mit einer häufigen Heranziehung des Ersatzmitglieds.

Außerdem kam eine Wissensvermittlung durch die beiden anderen - erstmals gewählten - Betriebsratsmitglieder wegen ihrer Unerfahrenheit nicht in Betracht. In dieser Situation verhandelte man mit dem Arbeitgeber über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Auch daher, so das LAG, war eine unverzügliche Schulungsteilnahme des Ersatzmitglieds im Interesse der Aufrechterhaltung der Betriebsratsarbeit nötig.

Dass die Schulung infolge der Corona-Pandemie erst verspätet Anfang September 2020 stattfand, lässt ihre Erforderlichkeit nicht entfallen. Denn es kommt auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung des Betriebsrats an.

Praxishinweis

Die Entscheidung des Hessischen LAG ist richtig und macht deutlich, dass die Teilnahme von Ersatzmitgliedern an Grundlagenschulungen zum Betriebsverfassungsrecht, aber auch an anderen arbeitsrechtlichen Fortbildungsveranstaltungen, rechtlich keine Selbstverständlichkeit ist.

Auch wenn viele Arbeitgeber bei der Vorab-Bestätigung von Betriebsratsschulungen großzügig verfahren und zwischen Gremienmitgliedern und Nachrückern nicht unterscheiden, müssen Betriebsräte im Streitfall vor Gericht sehr genau die Besonderheiten der Situation im Betrieb bzw. im Gremium darlegen, um die Erforderlichkeit einer Nachrücker-Fortbildung zu begründen.

Hessisches Landesarbeitsgericht, Beschluss vom 17.01.2022, 16 TaBV 99/21

 

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