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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 03|2022

Update Arbeitsrecht 03|2022 vom 09.02.2022

Entscheidungsbesprechungen

Das BAG bittet den EuGH um Klärung von Informationspflichten des Arbeitgebers bei Massenentlassungen

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)

Der EuGH wird gebeten zu klären, welchen Zweck die Pflicht des Arbeitgebers gemäß Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 Massenentlassungsrichtlinie hat, der Arbeitsverwaltung eine Kopie der ersten Betriebsrats-Information zu übersenden.

§ 17 Abs.3 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie - MERL)

Rechtlicher Hintergrund

Arbeitgeber müssen eine geplante Massenentlassung der Arbeitsagentur vorab schriftlich anzeigen. Diese Pflicht besteht in Betrieben mit 21 oder mehr Arbeitnehmern, wenn die in § 17 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) festgelegte Zahl von Entlassungen überschritten wird. Gibt es einen Betriebsrat, sind Arbeitgeber außerdem verpflichtet, ihn über die geplanten Kündigungen zu informieren und sich mit ihm darüber zu beraten (§ 17 Abs.2 KSchG).

Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Information und Konsultation des Betriebsrats und/oder zur Erstattung einer - rechtlich korrekten - Massenentlassungsanzeige hat nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) die Unwirksamkeit der später ausgesprochenen Kündigungen zur Folge. Die Vorschriften zur Information und Konsultation des Betriebsrats und zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige (§ 17 Abs.1, Abs.2, Abs.3 Satz 2 bis 4 KSchG) sind nämlich Schutzgesetze zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer im Sinne von § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

Denn mit § 17 KSchG wird die europäische Richtlinie 98/59/EG vom 20.07.1998, die sog. Massenentlassungsrichtlinie (MERL), umgesetzt. Und nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist der mit der MERL bezweckte Arbeitnehmerschutz nur gewährleistet, wenn Verstöße gegen die o.g. drei Arbeitgeberpflichten dazu führen, dass die später ausgesprochenen Kündigungen unwirksam sind.

Über die o.g. Arbeitgeberpflichten hinaus sehen Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL und § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG vor, dass Arbeitgeber - gleichzeitig mit der ersten schriftlichen Information des Betriebsrats über eine geplante Massenentlassung - eine Abschrift dieses an den Betriebsrat gerichteten Informationsschreibens an die Arbeitsagentur übersenden.

Diese Übersendungspflicht ist nicht zu verwechseln mit der Pflicht zur Massenentlassungsanzeige. Denn zum Zeitpunkt der (ersten) Unterrichtung (des Betriebsrats und) der Arbeitsagentur ist noch nicht bekannt, ob überhaupt - und wenn ja wie viele - Arbeitnehmer entlassen werden. Diese Zahlen stehen erst später fest, als Ergebnis der Konsultation von Arbeitgeber und Betriebsrat. Dementsprechend ist dieses - spätere - Beratungsergebnis Gegenstand der Massenentlassungsanzeige.

Was die Arbeitsverwaltung aber mit einer Kopie der (ersten Vorab-)Information des Betriebsrats anfangen soll, ist nicht recht klar. Daher hat das BAG die Frage, wie Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL zu verstehen ist, vor kurzem dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt: BAG, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A).

Sachverhalt

Ein Hersteller landwirtschaftlicher Geräte war insolvent geworden und sah sich gezwungen, seinen Betrieb mit knapp 190 Arbeitnehmern stillzulegen.

Der Arbeitgeber vereinbarte daher mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich, dem eine Liste der zu kündigenden Arbeitnehmer im Sinne von § 1 Abs.5 KSchG und § 125 Abs.1 Insolvenzordnung (InsO) beigefügt war, und außerdem einen Sozialplan. Darüber hinaus informierte er den Betriebsrat rechtzeitig über die geplanten Entlassungen unter Beachtung von § 17 Abs.2 Satz 1 KSchG, denn hier lag eine Massenentlassung im Sinne von § 17 Abs.1 Satz 1 Nr.2 KSchG vor. Außerdem konsultierte er den Betriebsrat gemäß § 17 Abs.2 Satz 2 KSchG, was dieser im Interessenausgleich bestätigte.

Einen Fehler machte der Arbeitgeber aber doch: Er unterließ es, zu Beginn der Konsultation mit dem Betriebsrat der Arbeitsagentur eine Abschrift des an den Betriebsrat gegangenen Informationsschreibens zuzusenden. Damit verstieß er gegen § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG.

Schließlich hörte der Arbeitgeber den Betriebsrat zu den einzelnen betriebsbedingten Kündigungen gemäß § 102 BetrVG an und sprach sie dann fristgemäß aus. Einer der Arbeitnehmer erhob Kündigungsschutzklage und argumentierte, dass die Kündigung wegen § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG in Verb. mit § 134 BGB unwirksam sei.

Das Arbeitsgericht Osnabrück wies die Klage ab (Urteil vom 16.06.2020, 1 Ca 79/20). Auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen entschied gegen den Kläger (LAG Niedersachsen, Urteil vom 24.02.2021, 17 Sa 890/20, s. dazu Update Arbeitsrecht 07|2021 vom 07.04.2021).

Entscheidung des BAG

Das BAG setzte das Verfahren aus und fragte den EuGH nach Sinn und Zweck der Pflicht des Arbeitgebers, der Arbeitsverwaltung eine Kopie der (ersten und noch unverbindlichen) Information des Betriebsrats zu übersenden.

In der derzeit allein vorliegenden Pressemeldung des BAG heißt es dazu, dass der in Deutschland geltende § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung ebenso interpretiert werden müsse wie Art.2 Abs.3 Unterabsatz 2 MERL.

Sollte diese MERL-Vorschrift (zumindest auch) den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer bezwecken, wäre § 17 Abs.3 Satz 1 KSchG als ein Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB anzusehen. In diesem Fall, so das BAG, wäre die streitige Kündigung unwirksam.

Praxishinweis

Arbeitgeber, die sich zu einer Massenentlassung im Sinne von § 17 Abs.1 Satz 1 KSchG gezwungen sehen, sollten bei der Planung der einzelnen Schritte die Information und Konsultation des Betriebsrats gemäß § 17 Abs.2 KSchG von den Verhandlungen über einen Interessenausgleich gemäß § 111 BetrVG immer klar trennen. Außerdem sollten sämtliche formellen Anforderungen des § 17 KSchG strikt befolgt werden, denn jede Abweichung kann dazu führen, dass die Kündigungen später unwirksam sind.

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A) (Pressemeldung des Gerichts)

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 27.01.2022, 6 AZR 155/21 (A)

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24.02.2021, 17 Sa 890/20

 

Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat

Handbuch Arbeitsrecht: Kündigung - Betriebsbedingte Kündigung

Handbuch Arbeitsrecht: Massenentlassung

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