Update Arbeitsrecht 20|2022 vom 05.10.2022
Entscheidungsbesprechungen
EuGH: Ohne Aufforderung zum Urlaub keine Verjährung des Urlaubsanspruchs
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 22.09.2022, C-120/21
Fordern Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer nicht zum Urlaub auf, ist eine Verjährung des Urlaubs europarechtlich ausgeschlossen.
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 7 Abs.3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) ist der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen an das Kalenderjahr gebunden. Er verfällt Ende Dezember, wenn er bis dahin nicht in Anspruch genommen wurde. Stehen dringende betriebliche oder persönliche Gründe dem Urlaub bis zum Jahresende entgegen, wird er auf das Folgejahr übertragen und muss dann spätestens bis Ende März genommen werden (§ 7 Abs.3 Satz 2 und 3 BUrlG).
Auf den gesetzlichen Verfall des Urlaubs können sich Arbeitgeber aber nur berufen, wenn sie ihre Arbeitnehmer zuvor rechtzeitig auf die Gefahr des Urlaubsverfalls hinweisen und sie zum Urlaub auffordern, so der Europäische Gerichtshof (EuGH) unter Berufung auf Art.7 Richtlinie 2003/88/EG und den hier garantierten vierwöchigen Mindesturlaub (EuGH, Urteil vom 06.11.2018, C-684/16 [Shimizu], Rn.45) und das Bundesarbeitsgericht (BAG) in seiner Rechtsprechung zu § 7 Abs.3 BUrlG (BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15, Rn.30).
Ohne die vom EuGH und vom BAG geforderten urlaubsrechtlichen Warnhinweise gehen nicht genutzte Urlaubsansprüche demzufolge am Jahresende nicht unter. Der nicht verbrauchte Urlaub tritt in solchen Fällen zum Urlaubsanspruch des Folgejahres hinzu (BAG, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 541/15, Rn.46). Dadurch kann es vorkommen, dass Arbeitnehmer über Jahre hinweg immer größere Urlaubsansprüche erwerben.
An dieser Stelle fragt sich, ob über mehrere Jahre angesammelte Urlaubsansprüche gemäß § 195 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) drei Jahre nach Ablauf des Urlaubsjahres verjähren. Denn die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt (§ 199 Abs.1 BGB).
Die Anwendung der Verjährungsvorschriften auf ältere Urlaubsansprüche würde aber den Arbeitnehmer- und Gesundheitsschutz abschwächen, den der EuGH durch die Hinweispflichten des Arbeitgebers stärken möchte. Möglicherweise ist die Verjährung des vierwöchigen Mindesturlaubsanspruchs gemäß §§ 195, 199 BGB daher mit Art.7 Richtlinie 2003/88/EG nicht vereinbar.
Mit dieser Fragestellung hat das BAG vor zwei Jahren einen Streitfall dem EuGH vorgelegt (BAG, Beschluss vom 29.09.2020, 9 AZR 266/20 (A), s. dazu Update Arbeitsrecht 22|2020). Vor kurzem hat der EuGH darüber entschieden: EuGH, Urteil vom 22.09.2022, C-120/21.
Sachverhalt
Im Streitfall hatte eine seit 1996 bei einer Steuerkanzlei tätige Angestellte über Jahre hinweg ihren Urlaub von 24 Arbeitstagen pro Jahr nur teilweise genommen. Im März 2012 bescheinigte ihr der Kanzleiinhaber, dass der Resturlaubsanspruch von mehr als 70 Tagen aus 2011 und aus den Vorjahren Ende März 2012 nicht verfallen werde, weil die Angestellte ihren Urlaub wegen des hohen Arbeitsanfalls nicht antreten konnte. In den folgenden Jahren nahm sie ihren Urlaub weitgehend in Anspruch. Teilweise wurde er bei ihrem Ausscheiden im Juli 2017 abgegolten.
Im Februar 2018 klagte die Angestellte auf Abgeltung von 101 Urlaubstagen aus dem Jahr 2017 und aus den Vorjahren, die aus ihrer Sicht noch offen waren. Der Arbeitgeber berief sich u.a. auf die Verjährung der Urlaubsansprüche, die aus seiner Sicht schon vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingetreten war.
Das Arbeitsgericht Solingen verurteilte den Arbeitgeber zur Abgeltung von lediglich drei Urlaubstagen (Urteil vom 19.02.2019, 3 Ca 155/18). Dagegen sprach das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf der Angestellten eine Abgeltung von weiteren 76 Tagen zu und damit immerhin 17.376,64 EUR (Urteil vom 02.02.2020, 10 Sa 180/19). Die streitigen Resturlaubstage waren nach Ansicht des LAG nicht verjährt (LAG, Urteil, Rn.71-75).
Das BAG fragte den EuGH, ob es mit Art.7 Richtlinie 2003/88/EG und mit Art.31 Abs.2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) vereinbar ist, wenn der gesetzliche Mindesturlaub von vier Wochen bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers gemäß § 195 BGB nach drei Jahren verjährt.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH entschied, dass sich Arbeitgeber nur dann auf die Verjährung des vierwöchigen Mindesturlaubsanspruchs berufen können, wenn sie zuvor ihre urlaubsrechtlichen Hinweis- und Mitwirkungspflichten erfüllt haben.
Denn entsprechend dem Zweck der Verjährungsvorschriften (Rechtssicherheit) haben Arbeitgeber zwar ein legitimes Interesse daran, nicht mit Forderungen nach Urlaub oder Urlaubsabgeltung konfrontiert zu werden, die auf mehr als drei Jahre alte Rechtsansprüche gestützt werden. Dieses Interesse ist aber nicht berechtigt, wenn der Arbeitgeber diese Situation, d.h. das jahrelange Fortbestehen von nicht erfüllten Urlaubsansprüchen, selbst herbeiführt, indem er seine urlaubsrechtlichen Hinweis- und Mitwirkungspflichten nicht erfüllt (EuGH, Urteil, Rn.53).
Dadurch unterscheiden sich Fälle, in denen Arbeitnehmer über längere Zeit hinweg ihren Urlaub nicht in Anspruch nehmen und dazu auch vom Arbeitgeber nicht aufgefordert werden, von Fällen einer längeren krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit.
Denn obwohl auch länger erkrankte Arbeitnehmer vor einem Verfall ihrer Urlaubsansprüche geschützt werden müssen, müssen bei längerer Krankheit auch Arbeitgeber vor einem unbegrenzten Anwachsen nicht erfüllter Urlaubsansprüche geschützt werden (EuGH, Urteil, Rn.54). Daher können Urlaubsansprüche, die infolge einer längeren Erkrankung nicht genommen werden, nach der EuGH-Rechtsprechung 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres verfallen, in dem sie entstanden sind, d.h. am 31. März des übernächsten Jahres.
Diesen Schutz verdienen Arbeitgeber nicht, die das Anwachsen von Urlaubsansprüchen selbst herbeiführen, indem sie ihre Hinweis- und Mitwirkungspflichten nicht erfüllen.
Praxishinweis
Durch das EuGH-Urteil ist geklärt, dass der vierwöchige Mindesturlaub gemäß Art.7 Richtlinie 2003/88/EG nicht infolge von nationalen Verjährungsvorschriften der EU-Staaten verjähren kann, wenn der Arbeitgeber über Jahre hinweg seine dem Arbeitnehmerschutz dienende Pflicht missachtet, auf eine Beurlaubung des Arbeitnehmers hinzuwirken
Dass der EuGH in diesem Sinne entscheiden würde, ist nicht überraschend. Denn er hat bereits vor einigen Jahren in einem britischen Vorlagefall klargestellt, dass nicht erfüllte Urlaubsansprüche, die jahrelang rechtswidrig nicht erfüllt wurden, ohne zeitliche Grenze zugunsten des Arbeitnehmers rechtlich gesichert sein müssen (EuGH, Urteil vom 29.11.2017, C 214/16 - King).
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 22.09.2022, C-120/21
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 29.09.2020, 9 AZR 266/20 (A)
Handbuch Arbeitsrecht: Urlaub, Urlaubsanspruch
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