Update Arbeitsrecht 15|2022 vom 27.07.2022
Entscheidungsbesprechungen
BAG: Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats bei unternehmenseinheitlicher Nutzung von Microsoft Office 365
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 08.03.2022, 1 ABR 20/21
Wird Microsoft Office 365 im gesamten Unternehmen verwendet und zentral administriert, ist der Gesamtbetriebsrat für die Ausübung des Mitbestimmungsrechts gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG zuständig.
§§ 50, 76 Abs.5, 87 Abs.1 Nr.6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) hat der Betriebsrat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, ein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen.
Dieses Mitbestimmungsrecht hat nach der Rechtsprechung einen weiten Anwendungsbereich. Von ihm werden alle Vorrichtungen erfasst, die leistungs- oder verhaltensbezogene Daten über Arbeitnehmer gewinnen oder verwerten, falls der Überwachungseffekt durch die technische Einrichtung selbst ermöglicht wird. Es ist nicht nötig, dass der vom Arbeitgeber verfolgte Zweck einer Vorrichtung die Überwachung ist (wie z.B. bei Stechuhren oder Überwachungskameras), sondern es genügt, wenn eine Vorrichtung objektiv dazu geeignet ist, eine Überwachung technisch zu ermöglichen.
Mitbestimmungspflichtig sind daher praktisch alle EDV-Programme, die arbeitnehmerbezogene Eingaben erfassen und speichern. Denn mit ihrer Hilfe kann das Verhalten einzelner Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überwacht werden. Unter § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG fallen daher z.B. TK-Anlagen und -Programme, EDV-Arbeitsplätze, mobile Geräte (Mobiltelefone, Laptops), E-Mail-Programme und betriebliche Workflow-Programme.
Für die Ausübung der Mitbestimmung gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG ist im Allgemeinen der örtliche Betriebsrat zuständig, also z.B. dann, wenn der Arbeitgeber die im Betrieb verwendete EDV-Ausstattung der Büroarbeitsplätze ändert. Denn arbeitsunterstützende EDV-Programme sind in aller Regel (zumindest mittelbar und objektiv) geeignet, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen.
Sind mehrere Betriebe eines Unternehmens von einer solchen technischen Neuerung betroffen, kann es sein, dass nicht der Betriebsrat vor Ort, sondern der Gesamtbetriebsrat (GBR) gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG mitzubestimmen hat. Die Voraussetzungen der Zuständigkeit des GBR sind in § 50 Abs.1 Satz 1 BetrVG festgelegt. Hier heißt es:
„Der Gesamtbetriebsrat ist zuständig für die Behandlung von Angelegenheiten, die das Gesamtunternehmen oder mehrere Betriebe betreffen und nicht durch die einzelnen Betriebsräte innerhalb ihrer Betriebe geregelt werden können; (...).“
In einem aktuellen Fall hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass die unternehmenseinheitliche Nutzung von Microsoft Office 365 unter die Zuständigkeit des GBR fällt.
Sachverhalt
Ein Unternehmen mit mehreren Betrieben beschloss 2019, Microsoft (MS) Office 365 in allen Betrieben des Unternehmens einzuführen. Microsoft Office 365 bündelt verschiedene Softwarekomponenten und nutzt cloud-Lösungen. Eingeführt werden sollten die Komponenten Teams, Yammer, Office Pro Plus, Sway, Planner, Stream, Flow Forms, Power Apps und ToDo.
Die Komponenten von MS Office 365 sollten unternehmenseinheitlich und zentral auf der Grundlage einer „1-Tenant-Lösung“ administriert werden. Das gesamte Unternehmen sollte als ein einheitlicher MS-Klient („Tenant“) geführt werden, mit zentraler Administration. Auch die anfallenden Daten sollten in einer einheitlichen Cloud gespeichert werden. Durch die Einführung von MS Office 365 sollten sich neue Möglichkeiten der betriebsübergreifenden Zusammenarbeit und Informationsbeschaffung ergeben.
Der GBR stimmte dem unternehmensweiten Einsatz von MS Office 365 im April 2019 zu. Damit wollte sich aber der Betriebsrat eines großen Betriebs des Unternehmens nicht abfinden. Er meinte, dass er für seinen Betrieb gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG mitzubestimmen hätte, und strengte daher ein Verfahren vor der Einigungsstelle gemäß § 87 Abs.2 und § 76 Abs.5 BetrVG zum Thema „Roll-Out von Microsoft Office 365“ an.
Die Einigungsstelle erklärte sich am 13.12.2019 durch Beschluss für unzuständig. Daraufhin zog der Betriebsrat vor das Arbeitsgericht Bonn mit dem Ziel der gerichtlichen Feststellung, dass er für die Einführung von Microsoft Office 365 zuständig ist. Das Arbeitsgericht Bonn (Beschluss vom 20.05.2020, 2 BV 94/19) und das für die Beschwerde zuständige Landesarbeitsgericht (LAG) Köln wiesen den Antrag des Betriebsrats ab (LAG Köln, Beschluss vom 21.05.2021, 9 TaBV 28/20).
Entscheidung des BAG
Auch in der Rechtsbeschwerde vor dem BAG hatte der Betriebsrat kein Glück. Das BAG entschied, dass nicht der Betriebsrat, sondern der GBR für die Ausübung des Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG zuständig ist.
Zur Begründung stellt das BAG zunächst klar, dass MS Office 365 eine zur Überwachung geeignete technische Einrichtung im Sinne von § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG ist. Denn die mit den Einzelkomponenten erstellten bzw. laufend anfallenden Daten können für eine Leistungs- oder Verhaltenskontrolle der Arbeitnehmer genutzt werden (BAG, Rn.31).
Darüber hinaus bestehen diese Kontrollmöglichkeiten unternehmensweit von der Zentrale aus, d.h. es besteht die Möglichkeit einer durch die Unternehmenszentrale ausgeübten Kontrolle von Verhalten und Leistung der Arbeitnehmer. Daher erfordert die vom Arbeitgeber geplante unternehmensweite Einführung des Programmpakets MS Office 365 aus zwingenden technischen Gründen eine betriebsübergreifende Regelung, und für diese ist der GBR zuständig (BAG, Leitsatz).
Der Betriebsrat hatte ohne Erfolg darauf hingewiesen, dass nicht alle Programmeinstellungen zentral vorgegeben sind, sondern dass auch benutzerdefinierte Vorgaben möglich sind, und dass (daher) auch im Betrieb vor Ort Regelungen getroffen werden könnten, vor allem bei der laufenden Anwendung der Software. Dazu verwies das BAG auf die faktisch bestehenden zentralen Kontrollmöglichkeiten sowie auf die Einheitlichkeit der gesetzlichen Zuständigkeitsabgrenzung: Ist der GBR einmal gemäß § 50 Abs.1 Satz BetrVG zuständig, muss er auch Fragen klären, die sich speziell für einzelne Betriebe stellen.
Praxishinweis
Dem BAG ist zuzustimmen. Auf den ersten Blick könnte man zwar meinen, dass bereits die Entscheidung, MS Office 365 zentral auf Basis einer „1-Tenant-Lösung“ zu nutzen, eine mitbestimmungspflichtige Weichenstellung ist, die nicht automatisch zur Zuständigkeit des GRB führen sollte, denn dann würde letztlich der Arbeitgeber mitbestimmungsfrei über die Zuständigkeit des GBR entscheiden. Das stimmt aber nicht, denn diese Entscheidung wurde im Streitfall gerade nicht mitbestimmungsfrei getroffen, sondern mit Zustimmung des GBR im April 2019.
Dabei hätten sich Arbeitgeber und GBR auch auf eine Multi-Tenant-Lösung einigen können. Auch das hätte aber nichts daran geändert, dass Arbeitnehmerdaten betriebsübergreifend verknüpft und zentral bzw. unternehmensweit erhoben, gefiltert und sortiert werden können. Diese technischen Möglichkeiten führen dazu, dass der GBR zuständig ist.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 08.03.2022, 1 ABR 20/21
Handbuch Arbeitsrecht: Betriebsrat
Handbuch Arbeitsrecht: Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten
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