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ARBEITSRECHT
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ENTSCHEIDUNGSREPORT FÜR DIE BETRIEBLICHE PRAXIS 22|2022

Update Arbeitsrecht 22|2022 vom 02.11.2022

Leitsatzreport

LAG Niedersachsen: Unverwertbarkeit einer zu spät ausgewerteten Video-Aufzeichnung zum Nachweis eines Pflichtverstoßes

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 06.07.2022, 8 Sa 1149/20

§ 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); § 1 Abs.2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG); § 26 Abs.1 Satz 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG); § 102 Abs.1 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)

Leitsätze des Gerichts:

1. Verpflichtet sich der Arbeitgeber in einer Betriebsvereinbarung, eine personenbezogene Auswertung von Daten, die er durch den Einsatz von Kartenlesegeräten gewonnen hat, nicht vorzunehmen, kann sich auch der einzelne Arbeitnehmer darauf berufen.

2. Erklärt der Arbeitgeber in einem Betriebskonzept oder auf einer Beschilderung einer Videoüberwachungsanlage, die hieraus gewonnenen Daten nur 96 Stunden lang aufzubewahren, kann ein Arbeitnehmer hierauf die berechtigte Privatheitserwartung stützen, dass der Arbeitgeber nur auf Videodateien Zugriff nehmen wird, die - bei erstmaliger Sichtung - nicht älter als 96 Stunden sind.

3. Zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten ist eine Videoüberwachungsanlage an den Eingangstoren eines Betriebsgeländes in der Regel weder geeignet noch erforderlich.

4. Der - erstmalige - Zugriff auf Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurückliegen, ist zum Zwecke der Aufdeckung eines behaupteten Arbeitszeitbetruges regelmäßig nicht angemessen. Solche Daten unterliegen im Kündigungsschutzprozess einem Beweisverwertungsverbot.

Hintergrund:

Ein langjährig beschäftigter Teamleiter eines großen metallverarbeitenden Betriebs wurde nach vorheriger Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Verdacht eines Arbeitszeitbetrugs sowie nach Anhörung des Betriebsrats im Oktober 2019 fristlos und hilfsweise fristgemäß gekündigt. Der Arbeitgeber warf ihm vor, er habe im Juni 2018 vor Beginn der Nachtschicht das Werksgelände wieder verlassen und daher bzgl. der Nachtschicht einen Arbeitszeitbetrug begangen. Auch an zwei Tagen im Oktober 2018 soll er das Werksgelände 21 Minuten bzw. 15 Minuten vor Schichtende eigenmächtig verlassen haben. Das Arbeitsgericht Hannover gab der Kündigungsschutzklage des Teamleiters statt (Urteil vom 11.09.2020, 6 Ca 116/19), im Wesentlichen mit der Begründung, der Arbeitgeber stütze seine Vorwürfe im Prozess auf eine andere Sachverhaltsdarstellung als in der Betriebsratsanhörung, so dass die Kündigungen gemäß § 102 Abs.1 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) unwirksam seien. Auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen entschied zugunsten des Klägers (Urteil vom 06.07.2022, 8 Sa 1149/20), allerdings mit einer anderen Begründung. Dem Arbeitgeber war es, so das LAG, verwehrt, die mit Hilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung bzw. mit Hilfe eines Kartenlesegeräts an den Werkstoren gewonnenen Anwesenheitsdaten in das Verfahren einzuführen (Urteil, Rn.55). Denn laut einer dazu bestehenden Betriebsvereinbarung durften die elektronischen Anwesenheitsdaten nur zur frühzeitigen Information der Vorgesetzten über das Betreten des Werksgeländes genutzt werden. Darüber hinaus sollte laut Betriebsvereinbarung keine personenbezogene Auswertung dieser Daten erfolgen. Auch auf die Videoaufzeichnungen über das Passieren der Werktore durch den Kläger durfte sich der Arbeitgeber nicht berufen, denn laut einem bei den Kameras angebrachten Hinweistext sollten die Videoaufzeichnungen nur 96 Stunden vorgehalten werden. Hier aber hatte der Arbeitgeber aber erst im Jahr 2019 damit begonnen, die bereits im Jahr 2018 angefertigten Videoaufzeichnungen auszuwerten (Urteil, Rn.61). Das LAG hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zugelassen, wo der Fall inzwischen liegt (Aktenzeichen des BAG: 2 AZR 296/22).

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 06.07.2022, 8 Sa 1149/20

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